Rainer Hank als Illustration

Hanks Welt

‹ alle Artikel anzeigen
  • 10. Februar 2021
    Und vergib uns unsere Schulden

    Nichts als Schulden Foto Rilsonav auf pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Mit Corona lässt sich viel Schindluder treiben

    Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, im Dezember 1944, erschien in der angesehenen Zeitschrift »The American Economic Review« ein Aufsatz des Wirtschaftswissenschaftlers Evsey D. Domar. Der Artikel trug den Titel »Die Last der Schulden«. Im Krieg waren Staatsschulden Amerikas auf über hundert Prozent des Bruttosozialprodukts gestiegen; kurz vorher lagen sie noch bei knapp zwanzig Prozent. Grund genug zu fragen, wie solche Lasten je wieder abgetragen werden können.

    Domar war damals dreißig Jahre alt und Mitarbeiter der amerikanischen Notenbank Fed. Mit seinem Aufsatz fand er mit einem Schlag öffentliche Bekanntheit. Domar konnte eine typische Immigrantenbiografie des 20. Jahrhunderts erzählen. Geboren im Jahr 1914 im polnischen Lodsch hatte er seine Jugend in der Äußeren Mandschurei in Russland verbracht. 1936 wanderte er in die Vereinigten Staaten aus, studierte an der Universität von Kalifornien in Los Angeles Ökonomie, bevor er 1947 an der Harvard Universität promoviert wurde. Als Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) profilierte er sich als einer der ersten Keynesianer und als Wirtschaftsexperte für die Sowjetunion.

    Die Zeit unmittelbar nach dem Krieg, so die Prognose Domars, sei noch das geringste Problem für die Staatsverschuldung. Der Wiederaufbau würde Amerika einen Wachstumsboom und den Menschen Vollbeschäftigung bescheren. In dieser Zeit könnten öffentliche Defizite rasch durch Überschüsse der privaten Wirtschaft finanziert werden. Doch das halte nicht dauerhaft: Dann aber stellt sich die Frage, wann und unter welchen Bedingungen Staatsschulden »tragfähig« sind.

    Das Zauberwort: Schuldentragfähigkeit

    »Schuldentragfähigkeit« heißt bis heute das Zauberwort der Finanzwissenschaft, das man umgangssprachlich mit »können wir uns leisten« übersetzen könnte. Das ist nicht ganz trivial, setzt es doch voraus, dass Staatsschulden per se nicht schlecht sind, solange sie einem langfristig nicht über den Kopf wachsen.

    Interessant sind Domars Annahmen darüber, wie sich wohl die Verschuldung der Vereinigten Staaten mittelfristig entwickeln werde. Realistisch sei ein eher dunkles Bild, schreibt er. Danach würden sich jeweils 25 Jahren Frieden mit fünf Jahren Krieg abwechseln. Damit lag der Wissenschaftler natürlich komplett daneben (so viel zur Prognosekraft der Wirtschaftswissenschaft). Doch man sieht sofort, wie Domar zu seiner Annahme kommt: Genau fünfundzwanzig Jahre liegen zwischen dem Beginn des Ersten und des Zweiten Weltkriegs; beide Kriege dauerten etwa fünf Jahre. Domar befürchtete offenbar, das Muster werde sich wiederholen.

    Weltkriege gab es seither zum Glück keine mehr. Doch niemand hat verraten, dass hundert Jahre nach der Spanischen Grippe uns abermals eine weltumspannende Pandemie ereilt. Für die Friedenszeiten beziffert Domar die staatlichen Defizite auf jährlich sechs Prozent, während die Kriegswirtschaft einen Verschuldungsbedarf von 50 Prozent habe. Unter diesen Annahmen würden sich die Schulden bald so rasch vermehren wie das Wirtschaftswachstum: Grund zur Sorge.

    Domar nennt für die Schuldentragfähigkeit vier Bestimmungsgrößen: (1) die Defizitquote, welche neue Schulden in Bezug zur Wirtschaftsleistung eines Landes setzt, (2) die gesamte Schuldenquote, (3) die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und schließlich (4) den Zinssatz. Das hat bis heute Bestand. Wichtig zu sehen ist dabei, dass die einzelnen Bestimmungsgrößen nicht unabhängig voneinander sind: Steigende Schulden können zu höheren Zinsen führen, was negative Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum und auf die Staatsausgaben hat, die vom Schuldendienst aufgefressen werden.

    Hätte man Domars Sorgen ernst genommen, hätte es nahegelegen, schon früher eine Schuldenbremse in die Verfassungen zu schreiben. Seit der Nachkriegszeit sind die Schulden nahezu aller Länder gestiegen, in Deutschland von knapp zwanzig Prozent in den fünfziger Jahren auf über achtzig Prozent nach der Jahrtausendwende. Mit Einführung der Schuldenbremse wurde der Bann gebrochen. Die »Last der Schulden« verringerte sich bis zum Jahr 2019, also vor Corona, auf knapp sechzig Prozent der Wirtschaftsleistung, womit sie wieder im Einklang waren mit den Anforderungen des Maastricht-Vertrags.

    Corona verdirbt die Sitten

    Der Clou der Schuldenbremse besteht darin, dass sie der Politik die willkürliche Verfügungsmacht über die Staatsverschuldung entzieht und sie an Regeln bindet, die, da in der Verfassung verankert, von jeder Regierung befolgt werden müssen. Das Prinzip ist wichtiger als die konkrete Ausgestaltung. Derzeit ist ein jährliches Defizit erlaubt von 0,35 Prozent des BIP. Etwas raffinierter wäre es, die Begrenzung der Neuverschuldung an steigende Zinsen zu binden, wie es der Ökonom Carl Christian von Weizsäcker vorschlägt: Je höher der Zins, umso geringer die erlaubte Neuverschuldung. Denn sonst ist es um die Tragfähigkeit der Schulden rasch geschehen; Staatspleiten drohen. Gottgegeben sind niedrige Zins-Wachstums-Verhältnisse nämlich nicht: Historisch folgten auf Phasen negativer Zins-Wachstums-Differenzen Zeiträume, in denen die Zinsen deutlich über dem realen BIP-Wachstum lagen.

    Das alles klingt plausibel und war auch bis vor kurzem vielfach Konsens. Doch richtig gepasst hat der Politik die Schuldenfessel noch nie. Mit Schulden können sie, anders als mit höheren Steuern, den Bürgern Wohltaten bescheren, ohne dass es weh tut. Blumig sprechen sie von einer »Entlastung« für die Zukunft. »Wir dürfen die Erde nicht tot sparen«, heißt eine meiner Lieblingsformulierungen von Umweltministerin Svenja Schulze. Auch viele Ökonomen plädieren inzwischen für ein Zurück zur sogenannten »Goldenen Regel«, die qua Verfassung früher einzuhalten war: Erlaubt war das Schuldenmachen für Investitionen, die einen Nutzen für künftige Generationen haben. Ein ziemlicher Gummiparagraf: Was Investitionen sind, ist nebulös: Der Bau von Straßen gilt als Investition (auch wenn es die Brücke ins Niemandsland ist). Die Finanzierung von Schulunterricht dagegen fällt unter die Kategorie »Konsum«.

    Zwar will immer noch die Mehrheit der deutschen Finanzwissenschaftler an der Schuldenbremse festhalten, wie die Sonntagszeitung vergangene Woche erfragt hat. Doch die Gegner finden immer mehr Gehör bei der Politik. Jetzt bietet es sich an, mit der Keule Corona die Schuldenbremse aus der Verfassung zu verbannen. Dass diese Meinung inzwischen auch im Kanzleramt vertreten wird, quasi als Morgengabe für die Koalition der Union mit den Grünen, ist beunruhigend. Übersehen wird dabei der Umstand, dass es gerade ein Erfolg der Schuldenbremse war, dass Deutschland fiskalisch während Corona so stark dasteht.

    Corona verdirbt die Sitten. Wenn es ernst wird, ändert man die Regeln, die doch gerade für den Ernstfall gedacht waren. Und wenn es noch standhafte Ökonomen gibt, wie Lars Feld, den Vorsitzenden des Sachverständigenrats, der die Schuldenbremse mannhaft verteidigt, dann droht man solch unabhängigen Beratern mit seiner Entlassung, betrieben von der SPD und schein-unschuldig von der Union beobachtet. Dass die Partei Ludwig Erhards bereit ist, einen Ökonomen wie Lars Feld, weil »zu liberal«, in die Wüste zu schicken, kann man einfach nur schäbig nennen.

    Rainer Hank