Rainer Hank als Illustration

Hanks Welt

‹ alle Artikel anzeigen
  • 05. März 2024
    Tugend-Terror

    Veronika Grimm Foto: Sachverständigenrat

    Dieser Artikel in der FAZ

    Der Fall Veronika Grimm und die Compliance-Industrie

    »Compliance« heißt das Zauberwort, das lange schon durch die Wirtschaft geistert. Seinen Durchbruch hatte der Begriff im Jahr 2006: Damals waren Milliardenbestechungen bei Siemens aufgeflogen. Mangelndes Unrechtsbewusstsein im Unternehmen – erst recht an dessen Spitze – führte dazu, dass seither die Befolgung von Regeln im Fokus der Aufmerksamkeit steht: dafür zu sorgen, dass keine Bestechungsgelder an Beamte autoritärer Regime gezahlt werden, obwohl das dort womöglich Usus, nach deutschem Recht aber eine Straftat ist.

    Ursprünglich stammt das Wort Compliance aus der Medizin: Wenn der Arzt verschreibt, eine Pille täglich vor dem Abendessen einzunehmen, dann verhält sich derjenige regelkonform (»compliant«), der täglich vor dem Abendessen seine Pille auch einnimmt. Compliance dient somit der Durchsetzung einer Selbstverständlichkeit, die aber nicht selbstverständlich ist, weil der Mensch verführbar ist – zum Beispiel von Geldzahlungen.

    Seit dem Fall Siemens haben die meisten größeren Unternehmen Compliance-Systeme eingerichtet. Bei Siemens selbst ist die Compliance-Abteilung auf mehrere hundert Mitarbeiter angewachsen. Die Deutsche Bank hat nach diversen kleineren und größeren Skandalen unter dem Schlagwort »Kulturwandel« die gesamte Belegschaft zu Compliance-Workshops verdonnert – allein aus Angst, dass vielleicht der Staatsanwalt am nächsten Morgen auf der Matte steht. Compliance ist ein »Verfahren zur Privatisierung staatlicher Aufgaben«, erklärt mir Regina Michalke, die Strafverteidigerin meines Vertrauens. Für nicht wenige internationale Großkanzleien und Wirtschaftsprüfer ist Compliance zu einem einträglichen Arbeitsbeschaffungsprogramm geworden.

    Ein Aufsichtsratsmandat bei Siemens Energy

    Inzwischen sieht es so aus, als ziehe das Compliance-Regime demnächst auch in den deutschen Sachverständigenrat (»Fünf Weise«) ein. Aus meiner Sicht ist das keine gute Nachricht. Anlass ist der Fall Veronika Grimm. Zur Erinnerung: Veronika Grimm, eine der »Weisen«, die die Regierung in Fragen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung beraten, ist vergangene Woche in den Aufsichtsrat der Firma Siemens Energy gewählt worden. Die Ökonomieprofessorin, Fachfrau für Energiefragen, hat sich von der Bundesregierung, der sie ihren Job im Rat verdankt, vorab bestätigen lassen, dass ihr Aufsichtsratsmandat nicht anstößig sei. Auch Siemens Energy sieht kein Problem. Grimms Ratskollegen indes finden ihr neues Mandat gar nicht gut und versuchten Regierung, Siemens und die deutsche Öffentlichkeit gegen sie aufzuhetzen suchten: Es liege ein eklatanter Verstoß gegen Compliance vor, weil die Mitgliedschaft in beiden Gremien einen Interessenkonflikt nach sich ziehe. Der Verdacht, der Compliance-Vorwurf diene als moralisches Vehikel, eine politisch ungeliebte Kollegin zu mobben, liegt nahe, interessiert in meinem Zusammenhang aber nicht.

    Halten wir fest: Veronika Grimm hat sich nach Ansicht der zuständigen Stellen »compliant« verhalten, legal und regelkonform; für den Sachverständigenrat gibt es sogar ein eigenes Gesetz, gegen das sie nicht verstößt. Das reicht den Kolleginnen im Rat aber nicht. Für ihren Aufstand nutzen sie einen klassischen Trick, wonach, was legal ist, noch lang nicht legitim sei. Legal ist, was im Gesetz steht. Legitim, ist, was sich gemäß Anstand und Sitte gehört, oder als moralisch geboten gilt. »Legitimität« ist wesentlich vager und deshalb zeitgeistanfälliger als die Rechtskonformität (»Legalität«), die man im Gesetz nachlesen kann.

    Dreimal dürfen Sie raten, wie es weitergeht. Die »Vier Weisen« werden sich, ermuntert vom Wirtschaftsminister und beraten von den besten Anwälten, ein eigenes Compliance-Regime geben, das Vorschriften weit über das Gesetz hinaus macht. Also zum Beispiel so: Keine Aufsichtsratsmandate, keine Vorstandsposten ohnehin, auch sonst keine Berührung mit der realen Welt der Wirtschaft. Transparenz aller von den Jahresgutachten generierten Vorträge nebst Honorarangabe (womöglich mit Obergrenze). Und natürlich äußerste Vorsicht beim Kontakt mit Journalisten.

    Da sieht man, wohin der Compliance-Taumel führt: Professoren im gut möblierten Elfenbeinturm soll es verwehrt sein, sich ein Erfahrungswissen anzueignen, das ihnen neben der Kenntnis von Zahlen und Figuren samt randomisiertem Laborwissen etwas über die »praktische« Seite der Wirtschaft vermittelt. Analog dürfen heute schon Parlamentarier keinen Kontakt mit Lobbyisten haben, weil die per se Unanständiges im Schilde führen. Dass das Gespräch mit Verbandsfunktionären Politikern bei ihrer Urteilsbildung auch nützen könnte, scheint für die Lobby-Control-Mafia nicht vorstellbar.

    Aus Managern werden Zombies

    Man kann mit Compliance eben auch Schaden anrichten durch Verhinderung von Informationsaustausch oder Kappung von Kontakten. Aus lauter Angst, einen Fehler zu machen, werden Manager zu Zombies. Bloß kein Risiko eingehen und ja nicht zur eigenen Verantwortung stehen – man steht dann ja stets mit mindestens einem Bein im Compliance-Kerker.

    Mehr noch: Der Compliance-Kult führt zu einer grandiosen Bürokratisierung. Deutsche und europäische »Lieferkettengesetze« wollen den Unternehmen aufbürden, an jedem Glied der globalen Kette transparent zu machen, ob es dabei nach moralischen, ökologischen und gesetzlichen Regeln (auch ferner Länder) korrekt zugeht. So wird Compliance zum Antiglobalisierungs-Programm. Aus Schiss hat der Finanzsektor im vorletzten Jahr 326.123 Verdachtsanzeigen wegen Geldwäsche gestellt, von denen am Ende gerade einmal 739 zu einer Sanktion, zumeist zu einem Strafbefehl geführt haben. So viel zur Verhältnismäßigkeit. Diejenigen, die solche Bürokratiemonster vorschreiben, sind nicht selten dieselben, die bei der nächsten Brandrede die Bürokratie zum zentralen Hemmschuh der deutschen Wirtschaft erklären.

    Bedenklich ist der Mentalitätswandel, den die Compliance-Manie anrichtet. Einzelfallsouveränität wird gegen generalisierende Vorschriften getauscht. Es kann durchaus sein, dass es im Einzelfall bei Veronika Grimm zu Interessenkonflikten zwischen Rat und Aufsichtsrat kommt. Eine verantwortlich handelnde Frau wird das zu wägen wissen und sich, sollte es kritisch sein, der Stimme enthalten oder den Beratungen fernbleiben. Eine Compliance-Bibel erspart erwachsenen Menschen den konkreten Konflikt um den Preis einer Entmündigung und generellen Unterstellung von Verantwortungsunfähigkeit.

    Ach übrigens: Hat der Tugend-Terror der Compliance seit Siemens zu etwas Gutem geführt? Sind die Manager und Managerinnen jetzt weniger korrupt oder kriminell? Meine Strafverteidigerin kann da nur lachen. Wie war das mit Cum-Ex? Wie war das mit Wirecard? Die beste Compliance verhindert nicht, dass ganze Unternehmen kriminell werden und die Aufsichtsbehörden Persilscheine ausstellen.

    Rainer Hank