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  • 08. November 2022
    Stapelkrisen

    Foto redbubble

    Dieser Artikel in der FAZ

    Was tun, wenn die Zeit aus den Fugen ist?

    Der achtjährige Gaylord hatte seine Augen und Ohren überall. Vor allem dort, wo sie nicht hingehören. Schon morgens früh hopst er von Bett zu Bett und will seine Familie mit selbstgebrühtem Kräutermatsch-Tee beglücken. Doch der Haussegen hängt gewaltig schief: Der Vater wurde aus dem elterlichen Schlafzimmer verbannt, Großtante Marigold steckt irgendwo in der Vorkriegszeit fest, und Tante Becky spannt der eigenen Schwester den Liebhaber aus.

    So geht der Plot eines Romans von Eric Malpass mit dem Titel »Morgens um Sieben ist die Welt noch in Ordnung«, der im Jahr 1968 in deutschen Kinos lief. Dass es sich um eine schnulzige Komödie handelte, ahnt man. Demensprechend hatte ich mich nicht getraut, Freunden zu erzählen, dass ich den Film anschauen würde. Schließlich befinden wir uns im Jahr 1968: Die revolutionären Studenten in Berlin und Frankfurt, unsere Helden als Schüler, hätten das mit Sicherheit nicht gut gefunden und als unpolitisch-seichte Ablenkung vom verwerflichen Zustand der kapitalistischen Welt getadelt.

    Die Erinnerung an den Film ist längst verblasst. Gehalten – nicht nur in meiner Erinnerung – hat sich der geniale Titel. Er spiegelt die nur allzu verständliche Sehnsucht nach Normalität. Früher war die Welt noch in Ordnung. Und Ordnung ist bekanntlich das halbe Leben (Marie Kondo).

    Heute ist die Zeit mal wieder aus den Fugen. Shakespeares Hamlet hat das schon vor ein paar Jahrhunderten diagnostiziert. Früher wussten wir wenigstens noch, in welcher Krise wir uns gerade befinden. Heute gibt es eine Krisenunübersichtlichkeit: Corona ist noch nicht vorbei. Inflation, Krieg und geopolitisch-atomare Bedrohung kommen hinzu. Eine neue Migrationskrise ist zurück, die wir doch eigentlich mit dem Jahr 2015 für erledigt hielten. Nicht zu reden von der Klimakrise, die als Krise gar nicht weichen will. Von Polykrise ist die Rede, sprachlich schöner noch von »Stapelkrise«.

    Am Rande des Nervenzusammmenbruchs?

    Was machen wir jetzt mit der aus den Fugen geratenen Zeit? Unter dem Titel »Nicht mehr normal« hat der Soziologe Stefan Lessenich gerade ein kleines Bändchen veröffentlicht, in dem er unsere Gesellschaft »am Rande des Nervenzusammenbruchs« wähnt. In Pedro Almodovars gleichnamigem Film von 1988 waren es lediglich die hysterischen Frauen, die nervlich am Ende waren, heute ist es schon die ganze Gesellschaft. Wie will man das künftig noch steigern? Lessenich, seit geraumer Zeit Direktor des durch Max Horkheimer und Theodor Adorno berühmt gewordenen Instituts für Sozialforschung in Frankfurt, braucht den Superlativ als Voraussetzung seiner spätmarxistischen Revolutionstheorie. Die geht ungefähr so: Alles geht den Bach runter. Und das ist gut so. Endlich werde die »Irrationalität des Ganzen« sichtbar: »Ganz gleich, ob im Feld der Finanz-, Klima- oder Zuwanderungspolitik, bei der Organisation des gesellschaftlichen Zusammenhalts oder der Geschlechterverhältnisse, im Umgang mit Pandemien oder mit Diktatoren: Wir sind aufgefordert, die Macht der Illusion zu brechen – der Illusion, dass wir mit alten Rezepten durchkommen könnten.« Völker hört die Signale: Die Apokalypse bringt uns ins Paradies, welches bei Stefan Lessenich selbstredend ein sozialistisches Paradies mit demokratischer Planwirtschaft ist, wo »die Bestimmung gesellschaftlicher Bedarfe nicht mehr den Märkten überlassen wird, sondern zum Gegenstand demokratischer Entscheidung« gemacht wird. Viel Spaß dabei! Ich bin raus.

    Der Denkfehler ist die Vorstellung, Krise sei die Ausnahme, Normalität hingegen der Normalfall, also das Übliche. Dabei war es doch gerade Karl Marx, der uns darüber belehrt hat, dass die Wirtschaft rhythmischen und zyklischen Schwankungen unterliegt, der stetigen Wiederkehr von Auf- und Abschwung, Boom und Bust, Globalisierung und Deglobalisierung. Sieben fetten Kühen folgen sieben magere Kühe, pflegte man in einer früheren Welt zu träumen, in der solche Bilder aus der Fleischwirtschaft noch keinen klimapolitischen oder ökotrophologischen Fauxpas bedeuteten.

    Während die Krise der Normalzustand ist, ist die Normalität wohl eher eine Fiktion und Projektion, die freilich als Gegenstand der Sehnsucht eine psychostabilisierende Funktion hat. Seit ich Wirtschaftsjournalist bin stolpern wir von einer Krise in die nächste. Bloß ist die Erinnerung daran verblasst, dass wir in den neunziger Jahren der Meinung waren, knapp fünf Millionen Arbeitslose würden bald politische Unruhen wie in den frühen dreißiger Jahren nach sich ziehen. Über die Beschäftigungskrise stapelte sich die sogenannte New-Economy-Krise, die das Vermögen vieler Kleinaktionäre mit einem Schlag vernichtete und den Deutschen die Lust an den Aktien auf lange Jahre vergällte.
    Krisen, wohin man blickt. Harold James, Wirtschaftshistoriker an der Princeton-Universität, fängt in seinem gerade erschienenen Buch »Schockmomente«, einer Weltgeschichte von Inflation und Globalisierung, bereits in den 1840er Jahren an. Hungersnöte, Mangelernährung, Krankheiten und Aufstände hatten Europa damals im Griff. Ähnlich wie die Marxisten, gewinnt auch Harold James den Krisen viel Gutes ab. Doch anders als die Marxisten sind für ihn Krisen nicht notwendige Umschlagpunkte zum Sozialismus, sondern Bedingung des kapitalistischen Fortschritts und der Globalisierung. So brachten die Hungersnöte des 19. Jahrhunderts international einen wirtschaftlichen Integrationsschub, der den Lebensmittelbedarf Europas durch Getreideimporte aus dem Ausland zu stillen vermochte. Knappheit ist nichts Neues, das muss Robert Habeck noch lernen: Hohe Preise sind gut. Denn sie geben Verbrauchern und Unternehmern Signale einer Notwendigkeit zur Veränderung. Die Globalisierung wird damit zu einer Geschichte von Zusammenbrüchen und Schöpfungen. Am Ende kann sich das Ergebnis sehen lassen, finde ich. Wir sind alle reicher geworden. Unser Smartphone, unsere Waschmaschinen und Butterpäckchen wurden über die Zeit viel billiger, was man in Inflationszeiten nicht sehen mag.

    Folgt man der Idee der kapitalistischen Fortschrittsgeschichte, dann ist es grundfalsch, Preise politisch niedrig zu halten und – wie es jetzt geschieht – den Status quo dadurch zu zementieren, dass Subventionen für Firmen an Beschäftigungsgarantien gebunden werden. Geholfen werden muss den wirklich Armen. Die üppigen Entlastungspakete verhindern dagegen, dass Krisen ihr Kreativitätspotential freisetzen können. Das mag zynisch klingen, aber so geht der Fortschritt. Für Politiker ist das schwer auszuhalten. Man sollte sie an das Diktum einer früheren Bundeskanzlerin erinnern: »Chaos ist in Politik immer.«

    Rainer Hank