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  • 11. Juli 2023
    Politisierung der Löhne

    Viktor Agartz (1897 bis 1964), Erfinder der Lohnpeitsche. Foto: Geschichte der Gewerkschaften

    Dieser Artikel in der FAZ

    Der Mindestlohn killt das deutsche Modell

    »Der Lohn ist im Rahmen von volkswirtschaftlichen Zielsetzungen zu sehen und ist in einer kapitalistischen Wirtschaft stets ein politischer Lohn.« Das Zitat könnte vom heutigen SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil stammen, der die jüngst beschlossene Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro 41 als völlig unzureichend bezeichnete und eine Revision forderte. Ein politischer Lohn wäre in diesem Sinne ein Lohn, den Politiker festsetzen. Zuletzt wurde der Mindestlohn von den Politikern der Ampel im vergangenen Jahr auf 12 Euro angehoben. In einer »Gesellschaft des Respekts« brauche es gute Löhne, so Kanzler Scholz.

    Tatsächlich stammt das Eingangszitat des »politischen Lohns« in einer kapitalistischen Wirtschaft nicht von Lars Klingbeil, sondern von einem Mann namens Viktor Agartz. Und der meint es völlig anders. Sein Diktum findet sich in einem Aufsatz von 1953 über die Notwendigkeit einer »expansiven Lohnpolitik«. Agartz (1894 bis 1964), Politiker und Gewerkschaftler, war eine schillernde Persönlichkeit. Von 1948 bis 1955 amtierte er als marxistischer Chefideologe des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Hinter der »expansiven Tarifpolitik« verbirgt sich die Idee, Löhne seien dazu da, die Modernisierung der Wirtschaft und Gesellschaft voranzubringen: sie wirken als »Produktivitätspeitsche«. Wenn Unternehmer gezwungen werden, ihren Beschäftigten höhere Löhne zu zahlen und zugleich verständlicherweise nichts von ihrem Gewinn abzweigen wollen, bleibt ihnen nur der Ausweg, ihre Fabrik zu rationalisieren und zu modernisieren. Sie werden ihre Fertigungsprozesse effizienter gestalten, »um durch eine bewusste Kraftsteigerung eine Ausweitung der Produktion herauszufordern«. Lohnerhöhungen sind für Agartz nicht allein zur Verbesserung der Einkommen der Arbeitnehmer da, sondern Instrument einer aktiven Konjunkturpolitik. Nicht das Kapital und die Kapitalisten, sondern die Arbeiter und ihre Gewerkschaften sind die Treiber der Fortschrittsgeschichte.

    Am Ende führt das bei Agartz dazu, dass die Arbeiter die Wirtschaft übernehmen; Kapitalisten, müde Gesellen, braucht es in Zeiten des heraufdämmernden Kommunismus keine mehr. Das ging dann selbst dem sehr linken DGB zu weit: Agartz wurde entmachtet. Inwiefern er von der DDR finanziert und gesteuert wurde, ist bis heute nicht geklärt.
    Viktor Agartz wäre nie im Leben auf die Klingbeil-Idee gekommen, die Politiker sollten die Löhne festlegen. Das war dem Kampf starker und stolzer Gewerkschaften vorbehalten. Darin war sich Agartz mit seinem jesuitischen Kontrahenten Oswald von Nell-Breuning einig: Tarifpolitik ist eine Angelegenheit der Subsidiarität: Was gesellschaftliche Gruppen (Familie, Verbände) regeln können, geht den Staat nichts an. Starke Gewerkschaften können Arbeitgeber mit Streiks in die Knie zwingen. Wenn sie klug sind, übertreiben sie es nicht, weil sie sonst ihren eigenen Arbeitsplatz wegrationalisieren.

    Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns am 1. Januar 2015 war der Anfang vom Ende der für Deutschland konstitutiven staatsfernen Lohnpolitik. Die damaligen Akteure der großen Koalition, federführend Arbeitsministerin Andrea Nahles, mühte sich sehr, die Zäsur herunterzuspielen. Nur in einem ersten Schritt lege der Staat den Mindestlohn fest, danach seien wieder die Tarifpartner zuständig, so Nahles. Zum Beweis verwies die Groko auf eine von Arbeitgebern und Arbeitnehmern bestückte paritätische Kommission.

    Ob bewusst oder naiv: Diese Versicherung war aus heutiger Sicht eine Lüge.

    Was ist ein angemessener Lebensstandard?

    Ohne die Kommission einzubeziehen, erhöhte die Scholz-Administration eigenmächtig den Lohn von 10,45 Euro auf 12 Euro, das sind satte 15 Prozent. Das abermalige Versprechen, danach werde wieder die Kommission zuständig sein, blieb ein Lippenbekenntnis. Das zeigt sich in diesen Tagen, nachdem die Kommission mit der Stimme der unabhängigen Vorsitzenden den Mindestlohn in zwei Schritten auf 12,82 heraufgesetzt hat. »Viel zu wenig«, so tönt es von der SPD über die CDU-Sozialausschüsse bis Verdi. Und der Kanzler macht sein Pokerface dazu. Eine informelle große Koalition ruft zur Entmachtung der Kommission auf, der vorgeworfen wird, ihren gesetzlichen Auftrag zu missachten, wonach »Löhne einen angemessenen Lebensstandard« ermöglichten müssten, so Tom Krebs, fachwissenschaftlicher Berater der Kommission. In Wirklichkeit steht von »angemessenem Lebensstandard« nichts im Gesetz, wie Krebs› Kollege Lars Feld einwirft.

    Dass Löhne einen »angemessenen Lebensstandard« ermöglichen sollen, findet sich nicht im deutschen Gesetz, sondern in einer EU-Richtlinie. Angemessen, so dekretiert die EU in majestätischer Anmaßung, seien fünfzig Prozent des Durchschnittslohns. Das ist die Perversion der deutschen Tarifautonomie, bei der Löhne nicht arithmetisch am Taschenrechner festgelegt werden, sondern dezentral von Branche zu Branche und von Region zu Region. Ein »angemessener Lebensstandard« war noch nie eine Kategorie der Lohnpolitik. Denn damit lässt sich jeglicher Einkommenswunsch legitimieren. Dass die EU – auf dem Papier ebenfalls der Subsidiarität verpflichtet – ihre Kompetenzen zentralistisch überdehnt, ist nicht neu und stört kaum jemanden. Politiker, Gewerkschaftler und ihnen gewogene Ökonomen nehmen die EU jetzt als Vorwand, um die Mindestlohnkommission abzuschießen und ein für alle Mal politische Löhne durchzusetzen.

    Das deutsche Gesetz fordert, die Mindestlöhne hätten sich »nachlaufend« an den Tariflöhnen zu orientieren. Doch längst läuft hier nichts mehr nach. Im Gegenteil: Der Mindestlohn ist Schrittmacher der Tarifpolitik geworden, was auch die Fachleute des DGB unumwunden zugeben. Die Gewerkschaften orientieren ihre Forderungen an der erwarteten Erhöhung des Mindestlohns. Von den Verhandlungsergebnissen der gewerkschaftlichen Tarifpolitik hat der Mindestlohn sich längst abgekoppelt; strikt daran orientiert wäre man bei 12, 25 Euro gelandet. Doch das Gesetz interessiert keinen mehr. Stattdessen wird im verelendungsromantischen Ton über das Rech auf einen »angemessenen Lebensstandard« schwadroniert.

    Viktor Agartz, der Mann der »Produktivitätspeitsche«, wäre entsetzt. Eine expansive Lohnpolitik, die je nach Gefühlslage von Politikern in den Ministerien und nicht von kämpferischen Arbeitern in den Fabriken vorangetrieben wird, wäre ihm ein Gräuel. Oswald von Nell-Breuning und die Väter der sozialen Marktwirtschaft würden Agartz beipflichten. Dass die Politik sich über eine Ausweitung ihres Geschäftsmodells auf die Lohnfindung freut, muss niemand überraschen: Wer am lautesten schreit, kriegt die höchste Lohnerhöhung. Das ist auch die Folge der Selbstentmachtung der Gewerkschaften und der Verbände der Arbeitgeber.

    Rainer Hank