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  • 02. September 2020
    Onkel Hugo und der Vulkaniseur

    Bis heute werden Autoreifen geflickt Foto Pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum der Fortschritt sich viel Zeit lässt

    Der linke Vorderreifen meines Autos verlor plötzlich Luft. Irgendwo muss ich in einen dicken Nagel gefahren sein, wie mir der Reifenhändler meines Vertrauens mitteilt. Dann werde wohl ein neuer Reifen fällig, so meine Annahme. Keinesfalls, das lasse sich flicken, sagt der Händler: Das Loch werde mit Kautschuk gefüllt, müsse dann eine gute Stunde bei großer Hitze »gebacken« werden, dann dürfe ich wieder fahren.

    In einer Welt, in der es sich noch nicht einmal lohnt, bei einem Computer den Akku auszutauschen, geschweige denn Socken zu stopfen, werden Reifen geflickt? Meine Verwunderung war groß, mein Glück offenbar auch. Denn um so ein Loch zu stopfen, braucht die Werkstatt einen »Vulkaniseur«. Und der gehöre zu den aussterbenden Berufen, sagt mein Händler. Die jungen Leute hätten das Interesse daran verloren, lange Ausbildungszeiten, bescheidendes Gehalt, viel üble Chemie: »Vulkanisieren bedeutet die Be- und Verarbeitung von Kautschuk, der mit Schwefel vermischt und erhitzt wird«, wie es in der offiziellen Beschreibung der Bundesagentur für Arbeit heißt. Kann ich gut verstehen, dass die Ausbildungszahlen rückläufig sind. Wenn schon Auto, dann lieber Mechatroniker oder sowas, um bei AMG einen flotten Mercedes aufzubrezeln oder Kunden von Ferrari zu umschwärmen. Aber Löcher mit Kautschuk und Schwefel stopfen?

    Onkel Hugo, der Geldzähler

    Tatsächlich verschwinden ständig Berufe. Der Vulkaniseur steht noch nicht einmal ganz oben auf der Liste der gefährdeten Berufe: Glockengießer, Kunststopferinnen, Betonstein- und Terrazzoherstellerinnern oder Dachdecker der Fachrichtung Reetdach-Technik werden noch schneller aus unserem Alltag verschwinden. Mein Onkel Hugo war in den sechziger Jahren Bankschalterbeamter bei der Dresdner Bank in Stuttgart. Seine wichtigste Aufgabe war es, Geld zu zählen, das ihm die Kunden brachten, damit es auf ihr Konto kommen kann. Onkel Hugo hatte einen Fingerhut aus Gummi (rot oder grün mit kleinen Noppen), um sicher zu sein, dass ihm nicht aus Versehen zwei Hundertmarkscheine für einen durchgingen. Bei Amazon gibt es diese Fingerhüte heute noch, das Zehner-Set für 10 Euro 30. Ich habe mir Onkel Hugos Tätigkeit immer todlangweilig vorgestellt, er selbst war zufrieden. Von der Rückkehr aus dem Krieg bis zur Pensionierung irgendwann in den siebziger Jahren ist er seinem Beruf treu geblieben. Geldzähler braucht es schon lange nicht mehr, das wurde automatisiert. Und wenn irgendwann das Bargeld ganz verschwindet, braucht es auch diese Maschinen auch nicht mehr.

    Vom Aussterben bedrohte Berufe sind ein guter Anlass, über den Fortschritt nachzudenken. Geht es gut, lässt sich der alte Beruf mit neuen Anforderungen anreichern; Arbeitsmarktexperten nennen das »Substituierbarkeitspotential«: Die »Sekretärin« braucht heute keine Steno-Kenntnisse, weil der Vorgesetzte nicht mehr »zum Diktat« ruft. Stattdessen wurde der Beruf zur »Assistentin« aufgewertet und ihr oder ihm die Büroorganisation übertragen. Irgendjemand muss die Zoom-Konferenzen ja hosten, was – so hört man – ältere Chefs nur schwer packen.

    Alte Berufe, neue Berufe

    Doch nicht immer lässt der technologische Fortschritt sich so leicht und noch dazu mit Prestigegewinn abfedern. Vor ein paar Jahren hatte uns eine Studie der Oxford-Ökonomen Frey und Osborne aufgeschreckt, die – vergröbert – prognostizierten, die Digitalisierung werde jeden zweiten Arbeitsplatz – und darunter eine ganze Reihe anspruchsvoller Tätigkeiten – vernichten. Die Steuererklärung eines mittelständischen Unternehmen wie die Baufinanzierung eines durchschnittlichen Bauherrn übernimmt der Algorithmus schneller, zuverlässiger und kostengünstiger als der Mensch.

    Verläuft der Fortschritt wirklich so linear, wie wir (und die Digitalisierungs-Gurus) uns dies vorstellen? Etwa nach dem Muster: Erst war das Pferd, dann wird es von Stahlross (Dampflokomotive), Traktor oder LkW abgelöst. Die Welt braucht dann keine Reiter mehr, sondern Traktoristen und Fernfahrer. Der britische Wirtschaftshistoriker David Edgerton widerspricht energisch. In einem Update seines im Jahr 2006 publizierten Buches »Der Schock des Alten« berichtet der am Londoner Kings College lehrende Forscher von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Besonders überraschend ist die Geschichte der Pferde: Im Großbritannien, weltweit Pionier der Industrialisierung und Automatisierung, wurden die meisten Pferde zum Transport von Gütern und Menschen nicht etwa Anfang des 19., sondern Anfang des 20. Jahrhunderts eingesetzt. Noch im Jahr 1930 verfügte die »London and North Eastern Railway«-Gesellschaft immer noch über 5000 Pferde, außerdem 7000 Dampflokomotiven, aber lediglich 800 Motor-Loks.

    In der Landwirtschaft dauerte es noch länger, bis das Pferd abgelöst wurde. Und erst recht im Krieg: Der Eindruck täuscht, das Tier sei schon im ersten Weltkrieg vom »Tank«, dem Panzer abgelöst worden. Die deutsche Armee, die als besonders fortschrittlich galt, hatte im Zweiten Weltkrieg mehr Pferde und Maultiere im Einsatz als die britische Armee im Ersten Weltkrieg: Für die Invasion in der Sowjetunion im Jahr 1941 wurden von der Heeresleitung 625 000 Pferde bereitgestellt. Später mussten sogar die Ackergäule vom Bauernhof in den Krieg ziehen, was dazu führte, dass am Kriegsende 1945 noch 1,2 Millionen Pferde gezählt wurden bei einem Verlust von insgesamt 1,5 Millionen Pferden.

    Brettspiele sind der neueste Schreihttps://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/hanks-welt/warum-sich-alte-berufe-laenger-halten-als-gedacht-16928672.html

    Innovation ist eine merkwürdige Sache. Es dauert Jahrzehnte (manchmal Jahrhunderte) bis das Alte verschwunden ist und das Neue sich durchgesetzt hat. Manchmal verläuft die Innovationsgeschichte sogar in umgekehrter Richtung: Radfahrer galten lange als aussterbende Spezies. Heute sind es eher die Autofahrer, um die man sich Sorgen machen muss. Während es in Indien es schon vor geraumer Zeit eine Bewegung zur Abschaffung der altmodischen Fahrrad-Rikschas gab, gelten sie in deutschen Innenstädten inzwischen wieder als ökologisch korrektes und bequemes Beförderungsmittel, in den Fußgängerzonen den Taxis haushoch überlegen. 2007 war der Tiefpunkt in Produktion und Verkauf von Vinyl-Schallplatten; seither steigt die Zahl wieder und erreicht inzwischen den Stand der siebziger Jahre, jenen Jahren, als ich meine Kinks-Sammlung angelegt hatte.

    Noch ist nicht ausgemacht, ob die Corona-Pandemie nur einen Innovationsschub auslöst, wie jetzt immer zu hören ist – und nicht gleichzeitig auch eine Retro-Bewegung losgetreten wird. Der Brettspiele verkaufende Laden in der Frankfurter City, wo uns kürzlich die Augen übergingen, brummt jedenfalls: die Leute kaufen nicht nur »Monopoly« oder »Mensch ärgere Dich nicht!«, sondern auch komplizierte und teure Dinge wie »Gloomhaven«, bei dem man mehrere Tage für eine Partie braucht. Und die allgemeine Begeisterung für das »Homeoffice« könnte man übersetzt auch als Rückkehr in die Zeit der »Heimarbeit« beschreiben, wo die ganze Familie die Arbeit zuhause erledigt wie im Schwarzwalddorf oder in Edgar Reitz› Hunsrückeinsamkeit.

    »Ich stand auf einem Hügel, da sah ich das Alte herankommen, aber es kam als das Neue«, heißt es in Bertolt Brechts Gedicht »Parade des Alten Neuen.«

    Rainer Hank