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  • 19. Februar 2024
    Ode an den Trecker

    Früh übt, wer mal später demonstrieren will Foto: John Deere

    Dieser Artikel in der FAZ

    Da staunt das Pferd, und der Bauer wundert sich

    Die Kinder meiner Schwägerin, zwei Buben, kannten über Jahrzehnte nichts Schöneres als Ferien im Hunsrück. Dort sagen sich zwar Fuchs und Hase gute Nacht und die Bevölkerung denkt an Auswanderung – Edgar Reitz »Heimat« lässt grüßen. Die beiden Buben indes fieberten den Ferien entgegen, weil der Vater auf dem großen Grundstück zwei Oldtimer-Traktoren angeschafft hatte: auf diesen Riesenheuschrecken zu fahren war für sie das Höchste der Gefühle. Kein Porsche hätte da mithalten können.

    Mir fielen die beiden Buben ein, als ich vergangene Woche eine Weile der Traktoren-Prozession zusah, die sich von der Frankfurter Adickesallee in Richtung Messe bewegte und scheinbar nicht enden wollte. Jämmerlich dagegen das Gehupe der Autos, SUVs, die sich wie Winzlinge ausnahmen gegenüber den grünen Hightech-Treckern mit den Godzilla-Reifen, auf denen stolz ihre Besitzer demonstrierten: »Mammuts von heute« mit 200 PS und schalldichter Kabine, wie der Historiker Ulrich Raulff die Riesendinger einmal nannte. Man kann mit ihnen auf dem Acker und auf der Autobahn fahren. Der Kenner riecht die Marke von weitem: Claas, Fendt oder John Deere.

    »Den Schlepper selbständig zu fahren, ist für Jungen eine Selbstverständlichkeit, sobald ihre Körpergröße und Stärke das Niedertreten des Kupplungspedals ermöglicht.« So erzählte es der Historiker Ewald Frie vergangene Woche beim Neujahrsemfang des Frankfurter Literaturhauses. In seiner autobiographischen Erzählung »Ein Hof und elf Geschwister« über den stillen Abschied vom bäuerlichen Leben in der den sechziger und siebziger Jahren fügt Frie hinzu: »Auf unserem Hof wurden Holzklötze und Latten zurechtgesägt, damit auch noch Jüngere Bremse und Kupplung bedienen konnten.« So habe der Traktor auch die Produktivität der Kinder gesteigert.

    Der Blick auf den Trecker ist ein schöner Nebeneffekt des aktuellen Bauernprotests. Jenseits seiner stakelig-spröden Ästhetik muss unbedingt auch an seine geschichtsphilosophische und wirtschaftshistorische Bedeutung erinnert werden. Als der deutsche Intellektuelle Arthur Koestler, ein Journalist, im Jahr 1932 in die KPD eintritt, teilt er als allererstes der Partei seinen Wunsch mit, als Traktorist in der Sowjetunion in Einsatz zu kommen. Es war die Zeit der Zwangskollektivierung, Stalins Regime brauchte dringend Arbeiter auf den Kolchosen, für die der Name »Traktorist« erfunden wurde, den es später auch im DDR-Deutsch gab. Der Traktorist war ganz vorne mit dabei, wenn es darum ging, den Kapitalismus mit sozialistischen Fünfjahrespläne abzulösen. Wie für die beiden Jungen meiner Verwandtschaft war »der Traktorist« für die Intellektuellen der dreißiger Jahre der Inbegriff der Verheißung einer revolutionären Heldenkarriere. Leider ging Koestlers Wunsch nicht in Erfüllung. Sein Verbindungsoffizier fand, nicht ganz zu Unrecht, es handele sich bei seinem Wunsch um ein »typisches Zeichen kleinbürgerlicher Romantik«. Koestler war schwer beleidigt.

    Von der personal- zur kapitalintensiven Landwirtschaft

    Über Jahrhunderte hatten die Menschen sich der Pferde als Arbeitsmaschine auf dem Feld bedient, ein »kentaurischer Pakt« (Raulff), bei dem Mensch und Tier ein Arbeitsbündnis eingegangen waren. Das änderte sich um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Der Traktor wurde zum Vehikel der »Entpferdung« der Welt. Zählte man um 1900 in Deutschland noch vier Millionen Pferde in der Landwirtschaft, waren es um 1950 nur noch halb so viele; 1970 blieben gerade einmal 250.000 Pferde übrig. Seither nimmt die Zahl der Pferde wieder zu – nicht auf den Bauern-, sondern auf den Reiterhöfen, wo es die Mädchen hinzieht. Merke: Pferde sind für Mädchen, Traktoren für Jungs.

    Diese vom Traktor betriebene Revolution kann man sich als Übergang von einer personal- zu einer kapitalintensiven Produktion nicht radikal genug vorstellen. Waren um 1900 noch mehr als ein Drittel aller Erwerbtätigen in der Landwirtschaft beschäftigt, womit sie gerade einmal fünfzehn Prozent des Wachstums erzeugten, so ackern dort heute gerade einmal zwei Prozent der arbeitenden Bevölkerung (verantwortlich für knapp ein Prozent des BIP). Etwas überspitzt hat man formuliert, das 20. Jahrhundert sei weniger durch den Aufstiegs des Proletariats als durch das Verschwinden des Bauerntums gekennzeichnet. Der Traktor gab den Bauern Hoffnung und machte ihnen Angst zugleich. Frühe Zeugnisse aus England sahen in ihm ein gefährliches Tier, das paffend und schnaubend über die Felder zog. Statt einem oder zwei PS vor dem Pflug, konnte die Stärke der Maschine rasch auf 15 bis 20 PS gesteigert werden. Mit dem Traktor ernährte eine gegebene Fläche eines Ackers viel mehr Menschen als früher. Auch umweltmäßig war das Fahrzeug ein Fortschritt: Kot und Urin der Rosse in den Dörfern waren schuld an den lausigen sanitären Bedingungen des ländlichen Raums. Der dieselbetriebene Traktor galt lange Zeit als umwelt- und menschenfreundliche Alternative: kann man sich heute nicht mehr vorstellen.

    Gleichwohl ist es eines der bis heute letztlich nicht gelösten Geheimnisse der Wirtschaftsgeschichte, warum es bis Mitte des 20. Jahrhunderts dauerte, bis der Traktor sich flächendeckend in der Landwirtschaft durchgesetzt hatte. Das hing weniger mit Maschinenstürmerei und Technikaversion des traditionellen Bauerntums zusammen, als mit den gigantischen Umstellungsprozessen, die die Traktorisierung nach sich zog und die ihre Zeit brauchten. Das Personal musste geschult werden; ein Knecht, der vorher den Pflug führte und mit Pferden zurechtkam, konnte nicht einfach zum Traktoristen umgeschult werden. Zudem waren die Trecker zu Anfang ziemlich unbeholfen, blieben im Schlamm stecken und taugten bis zur Erfindung der Zapfwelle (ein Wort, das ich bei der Recherche für diese Kolumne gelernt habe) außer zum Pflügen zu nicht viel mehr. Schließlich ging die Mechanisierung einher mit einer Vergrößerung der Farmen, ein Vorgang der ebenfalls Zeit und Kapital brauchte. Der Traktor war wurde das Vehikel zur Durchsetzung großflächiger industrieller Landwirtschaft.

    Und nun? Es könnte sein, dass der Traktor bald verschwindet. Daran ist dann nicht Landwirtschaftsminister Cem Özdemir und die sogenannte Sparpolitik der Regierung schuld, sondern abermals der technische Fortschritt. Schon bald, sagen Fachleute, würde nur noch ein Bruchteil der bisher eingesetzten Zugmaschinen in der Landwirtschaft nötig sein. Das Gros der Feldarbeit könnten dann kleine selbstfahrende Roboter übernehmen, satellitengesteuert und batteriebetrieben. Dafür braucht es dann noch weniger Landarbeiter als im Traktorzeitalter. So gesehen könnten die stolzen Trecker-Umzüge, die wir derzeit sehen, auch eine Art Beerdigungsprozession sein, der lautstarke Abschied vom bäuerlichen Leben. Bloß dass die Bauern das noch nicht wissen.

    Rainer Hank