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  • 05. Oktober 2020
    Mit Kanonen auf Spatzen schießen

    Ja nicht mit Kanonen drauf schießen Foto: Oldiefan/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wie viel Freiheitsbeschränkungen darf der Staat seinen Bürgern zumuten?

    Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat für Juristen einen großartigen Klang, Ich habe bislang keine Notwendigkeit gesehen, mich um seine Bedeutung zu kümmern.

    Das ändert sich jetzt gerade. Schuld daran ist erstens Corona, zweitens der Berliner Mietendeckel und drittens die Europäische Zentralbank. Mein nichtjuristisches Vorurteil: Verhältnismäßigkeit ist ein gummiweicher Begriff. Zu sagen, irgendeine staatliche Maßnahme sei verhältnismäßig, dient den einen zur Legitimation von Freiheitsbeschränkungen. Wem das nicht passt, der macht geltend, die Maßnahme sei unverhältnismäßig. Gerade wie es einem passt.

    Gehen wir also die Beispiele durch:

    (1) Nach Ausbruch der Pandemie wurden hierzulande von heute auf morgen mit Bezug auf das Infektionsschutzgesetz Freiheitsrechte außer Kraft gesetzt. Dagegen wandte sich im April ein Katholik hilfesuchend an das Verfassungsgericht, der darunter litt, dass er nicht mehr an einer Heiligen Messe teilnehmen konnte. Das vollständige Zurücktreten des Grundrechts der Glaubensfreiheit hinter das kollidierende Grundrecht auf Leben beziehungsweise auf körperliche Unversehrtheit nannte der fromme Mann unverhältnismäßig. Er suchte darzulegen, dass die gemeinsame Feier der Eucharistie ein zentraler Bestandteil seines Glaubens sei und ihm Schaden für sein Seelenheil drohe.
    Gleichwohl sahen die Richter des Ersten Senats in Karlsruhe keine Notwendigkeit, katholische Messfeiern in Corona-Zeiten zu erlauben. Ihr Argument: Gegenüber den Gefahren für Leib und Leben, vor denen zu schützen der Staat nach dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verpflichtet sei, müsse das grundrechtlich geschützte Recht auf die Feier von Gottesdiensten »derzeit« zurücktreten. Sie fügten sogleich hinzu, dies gelte nicht für immer, sondern müsse immer wieder einer strengen Prüfung der Verhältnismäßigkeit unterliegen, bei der zu untersuchen sei, ob ein Verbot von Gottesdiensten verantwortet werden könne angesichts neuer Erkenntnisse zur Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystem.

    Das Wägen divergierender Freiheitsrechte klingt einleuchtend. Doch die Kriterien dafür bleiben vorerst dunkel. Das Gericht hat lediglich festgestellt, dass der eucharistische Lockdown zulässig ist. Alles andere bleibt dem noch ausstehenden Hauptsacheverfahren vorbehalten.

    (2) Das Gesetz zur Mietenbegrenzung in Berlin macht detaillierte Vorschriften über Mietenstopp, die Mietobergrenzen und die Absenkung von Bestandsmieten. Das schränke die Freiheit des Eigentums unverhältnismäßig ein, so klagen derzeit mehrere Vermieterverbänden in Karlsruhe. Die Maßnahmen seien darüber hinaus weitgehend ungeeignet, den – ebenso legitimen wie unterstützenswerten – sozialpolitischen Gesetzeszweck (»Eigentum verpflichtet«) zu erreichen, bezahlbaren Wohnraum für Haushalte mit geringem Einkommen zu schaffen und zu erhalten. Doch der »Mietendeckel« wirke kontraproduktiv und verknappe günstigem Wohnraum. Soll heißen, es hätte bessere Maßnahmen gegeben als den Deckel.

    Dass der Deckel seinen Zweck nicht erfüllt, liegt meines Erachtens auf der Hand. Aber hilft in der Schlacht gegen ihn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit?

    (3) Nun zur Europäischen Zentralbank. Hier haben sich die Richter des Zweiten Senats in Karlsruhe vor ein paar Monaten zum Milliarden-Anleihekaufprogram der EZB geäußert. Sie kamen zum Schluss, dieses sei wegen einer Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit kompetenzwidrig. Freilich drücken sich die Richter um die Frage der materiellen Kriterien herum. Sie monieren lediglich, dass die EZB selbst die Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf seine Folgen (etwa die Nullzinsen für die Sparer) weder geprüft noch dargelegt hätten. Somit hatte die Zentralbank es leicht, den Schaden durch ein Schreiben nach Berlin zu heilen. Mehr hatte das Gericht nicht verlangt. Es machte sich gerade nicht anheischig, selbst zu beurteilen, ob Risiken und Nebenwirkungen des Anleihekaufs im Vergleich zum Nutzen für das Stabilitätsziel der EZB verhältnismäßig sind.

    Woher haben die Richter ihr Wissen?

    Die Sache ist also einigermaßen verwirrend. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit scheint zwar universale Bedeutung in der Rechtsprechung zuzukommen, wenn er für Religion, Mieteigentum und Geldpolitik gleichermaßen herhalten muss. Woher die Richter aber wissen, was höher zu gewichten ist (der deutsche Sparer oder die Rettung des Euroraums; der geschröpfte Mieter oder sein Vermieter, das Seelenheil oder das physische Heil) bleibt im Dunkeln.

    In der Not hilft manchmal die Wissenschaft: Argumente und Material bietet das von Matthias Jestaedt und Oliver Lepsius herausgegebene Standardwerk zur Verhältnismäßigkeit . Für den Eingriff in die Freiheit der Bürger müssen drei Voraussetzungen gegeben sein: Er muss (1) geeignet sein, seinen Zweck zu erreichen. Er muss (2) erforderlich sein. Dabei muss dargelegt werden, dass es kein milderes Mittel gibt, den Zweck zu erreichen. Schließlich muss der Freiheitsentzug (3) angemessen sein. Das heißt, die Nachteile einer Maßnahme müssen in einem angemessenen Verhältnis stehen zu den Vorteilen. Der Volksmund sagt dazu, man dürfte nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen.

    Löffelenten und Kammmolche

    Die Freiheit des Einzelnen ist in einem liberalen Land unbegrenzt. Die Macht des Rechtsstaates ist dagegen prinzipiell begrenzt. Begründungspflichtig ist der staatliche Eingriff als Ausnahme, nicht die als Regel gesetzte individuelle Freiheit. Dieses Verhältnis von Ausnahme und Regel diene im freiheitsrechtlichen Kontext als Korrektiv, welches verhindert, dass die staatliche Befugnis zur Begrenzung der Freiheitsrechte die individuelle Freiheit zu weit zurück drängt, schreibt der Kieler Verfassungsrechtler Andreas von Arnauld. Man kann sich fragen, ob die Exekutive hierzulande in Corona-Zeiten dies zu jedem Zeitpunkt im Blick hatte.

    Doch gibt es für solches Abwägen objektive Kriterien? Die Suche muss scheitern, wie abermals Andreas von Arnault mit einem skurrilen Beispiel veranschaulicht: Wenn – so lautet tatsächlich ein ernst gemeinter Vorschlag eines Rechtsgelehrten – im Konflikt zwischen Naturschutz und Arbeitsschutz einer zu schützenden Löffelente oder einem Kammmolch ein bestimmter Punktwerkt zugeordnet würde, auf der anderen Seite der Schutz eines Arbeitsplatzes ebenfalls einen Punktwert erhielte, könnte man am Ende auf objektive und transparente Ergebnisse hoffen. Das Beispiel macht sofort deutlich: Es kommt heraus, was man vorher hineingegeben hat. Wer vor allem Arbeitsplätze im Blick hat, wird das relative Gewicht auf dieser Seite hoch punkten. Wem der Naturschutz am Herzen liegt, der gibt den Löffelenten viele Punkte.

    Am Ende bleibt reflektiertes Unbehagen: Die Frage, was angemessen ist, ist aus prinzipiellen Gründen mit hoher Unsicherheit behaftet und hängt entscheidend von Wertenscheidungen, gesellschaftlichen Plausibilitäten und Evidenzen ab, ist somit auf die Akzeptanz der Bürger angewiesen.

    Am Ende bleibt das Verhältnismäßigkeitsprinzip eine regulative Idee, nicht mehr, aber auch kein purer Gummibegriff. Immerhin schützt das Prinzip den Bürger davor, vom Staat mit Kanonen beschossen zu werden. Gar nicht so schlecht, wie ich inzwischen finde.

    Rainer Hank