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  • 05. November 2019
    Hartz IV: Ein Erfolg

    Das Krochsche Hochhaus in Leipzig

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum nur die Arbeit gesellschafltiche Teilhabe ermöglicht

    Gegenüber dem Leipziger Gewandhaus steht ein Bauwerk aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts, dessen Giebel das Tympanon eines antiken Tempels imitiert. Darauf eingemeißelt ist der Satz: »Omnia vincit labor«, die Arbeit besiegt alles. Über der Inschrift stehen zwei Skulpturen von Arbeitern, die abwechselnd mit schweren Klöppeln die Glocke schlagen. Das »Krochsche Hochhaus«, so der Name des Gebäudes, hämmert den Menschen mit ziemlich viel Pathos eine Weisheit aus Vergils Lehrgedicht über den Landbau ein: Arbeit ist ein Glücks-Versprechen.

    Wenn das stimmt, ist allein die Möglichkeit einer Welt, der die Arbeit auszugehen droht, der worst case. Die Erfahrung von Arbeitslosigkeit entzieht nicht nur Einkommen, sondern auch Sinn und kann die ganze Existenz zerstören. Man lässt den Dingen ihren Lauf, wird apathisch, verliert allen Elan. Gefragt, was sie unglücklich mache, nennen viele Menschen Arbeitslosigkeit an erster Stelle. Mehr noch: Auch wer Arbeit hat, fühlt sich weniger zufrieden, wenn andere arbeitslos sind.

    Im Jahr 2005, als die berühmt-berüchtigten Hartz-Reformen in Kraft traten, waren in Deutschland fast fünf Millionen Menschen ohne Arbeit, davon 1,8 Millionen Langzeitarbeitslose, die länger als ein Jahr keine Arbeit hatten. Dass es je wieder Vollbeschäftigung geben könnte, wurde von vielen als Illusion verworfen. Und heute? Kurz vor dem Jubiläum »15 Jahre Hartz IV« am 1. Januar 2020 hat sich die Zahl der Arbeitslosen im Vergleich zu 2005 mehr als halbiert, auf 2,3 Millionen. Es gibt nur noch gut 700 000 Langzeitarbeitslose. 45 Millionen Menschen sind erwerbstätig – das ist Rekordbeschäftigung; 33 Millionen darunter in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen – ebenfalls eine Rekordzahl, die den Vorwurf entkräftet, der Preis der neu gewonnenen Arbeit seien vornehmlich prekäre Beschäftigungsverhältnisse.
    Auch wenn es neben den Hartz-Reformen noch weitere Faktoren gibt, die diesen enormen Beschäftigungserfolg verantworten: Die Geschichte der Rückgewinnung von Arbeit in Deutschland widerspricht in nahezu allen Punkten dem linken Narrativ eines Sozialabbaus, eine Lesart, der »Die Linke« als Partei bekanntlich ihre Existenz – und zuletzt ihren Erfolg in Thüringen – verdankt. Folgt man dem Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge, den »die Linke« 2017 für die Wahl zum Bundespräsidenten vorgeschlagen hatte, bedeuten die Hartz-Reformen »eine Verschlechterung in fast allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens«.  Deutschland sei »unsozialer, kälter und inhumaner« geworden, sagt er.
    Die linke Verelendungstheorie geht so: Die Hartz-Reformen sind erstens das Ende des Sozialstaates, wie wir ihn kannten, sie haben zweitens ein neues Prekariat arbeitender Armer (working poor) geschaffen und am Ende, drittens, die Ungleichheit im Land vergrößert. Diese fatale Ungerechtigkeit der Hartz-Reformen habe, viertens, auch politische Risiken – »Neoliberalismus bringt Rechtsradikalismus«. Nichts von alledem lässt sich belegen.

    Die These vom »sozialen Kahlschlag« ist Unsinn

    Erstens ist es verfehlt, Hartz IV als »sozialen Kahlschlag« zu brandmarken. Dass seit 2005 die Ausgaben für die Arbeitslosigkeit zurückgehen, ist wahr. Doch dies ist der verbesserten Beschäftigung geschuldet, die weniger Transferzahlungen erforderlich machte. Arbeitslosigkeit kommt die Allgemeinheit heute billiger zu stehen als vor den Reformen. Das bedeutet nicht, dass der Sozialstaat insgesamt geschrumpft wäre. Im Gegenteil: Insgesamt sind die Sozialausgaben stärker als das Wachstum auf inzwischen knapp eine Billion Euro angeschwollen. Das sind fast 50 Prozent mehr als Mitte der 2000er Jahre. Von Kahlschlag keine Rede!

    Dass die Deutschen sich diesen Ausbau des Sozialstaats leisten konnten, ist Folge der Hartz-Reformen, die für sprudelnde Steuereinnahmen und üppige Sozialbeiträge mitverantwortlich sind. Wenn mehr Menschen Arbeit haben, zahlen sie mehr Steuern und insgesamt mehr Sozialversicherungsbeiträge. Dies (verbunden mit niedrigen Zinsen) brachte den deutschen Finanzminister in die komfortable Lage, den Staat auszubauen, ohne neue Schulden machen zu müssen. Vollbeschäftigung ist nicht nur ein Gewinn in sich und für die Menschen, die nicht mehr arbeitslos sind. Es ist auch eine soziale Wohltat für das Land.

    Dass es, zweitens, Armut in Deutschland gibt, ist unbestritten. Die Zunahme des Armutsrisikos liegt in dem gestiegenen Anteil an Personen mit Migrationshintergrund; die Armutsquote bei Personen ohne Migrationshintergrund hat sich in den vergangenen 25 Jahren wenig verändert. Das soll nicht heißen, dass Armut unter Migranten weniger schlimm wäre. Es soll nur zeigen, dass der Anstieg der Armutsquote keinen Bezug zu den Agenda-Reformen hat, sondern vor allem daran liegt, dass Migranten Defizite in der Sprache haben oder soziale Netzwerke fehlen, was eine Beschäftigungsaufnahme erschwert – und sie deshalb auf Unterstützung angewiesen sind.

    Schröders Agenda führt nicht zum Rechtspopulismus

    Verfehlt ist es, drittens, zu behaupten, Hartz IV habe die Ungleichheit vergrößert. Das Gegenteil ist wahr: Die Ungleichheit der Einkommen hat zwar seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts zugenommen, wie überall in den entwickelten Ländern. Doch die Spreizung der Einkommen ist 2005 zum Stillstand gekommen, ausgerechnet in jenem Jahr, in dem die Gesetze in Kraft getreten sind. Unser Wohlfahrtsstaat komprimiert die Ungleichheit der Markteinkommen besonders stark. Das genau ist das Ziel einer Sozialen Marktwirtschaft.

    Viertens wird für den Erfolg des Rechtspopulismus inzwischen alles und jedes verantwortlich gemacht. An erster Stelle stehen aber definitiv nicht die Reformen des Arbeitsmarktes, sondern der Schock der Migration von 2015. Eine maßgebliche Rekrutierungsbasis der Rechten sind nicht die arbeitslosen Hartz-IV-Bezieher, sondern jene Zurückgebliebenen, die – zu Recht oder zu Unrecht – wähnen, die Migranten zögen als privilegierte »Einwanderer in den Sozialstaat« an ihnen vorbei.  Die AfD wurde bekanntlich nicht als Anti-Hartz-IV-Partei gegründet, sondern als konservativ-liberale Anti-Euro-Protestbewegung, von wo sie sich immer weiter ins Extreme bewegt hat. Der Populismus hat einen völkischen Verteilungskampf innerhalb des Sozialstaates eröffnet. AfD-Mann Björn Höcke plädiert wie die Linke für mehr Sozialstaat, dessen Wohltaten indessen den Fremden vorenthalten werden sollen. Das ist in der Tat schlimm, hat aber mit den Hartz-Reformen nichts zu tun.
    Die Agenda-2010–Reformen sind ein Beleg für die Leistungsfähigkeit des deutschen Modells der Sozialen Marktwirtschaft und nicht Ausweis seiner Kapitulation. Die Reformen mögen die Linke gespalten haben – in SPD, Linke und sozialchauvinistische Teile der AfD –, aber sie haben die Gesellschaft geeint, weil sie Teilhabe wieder ermöglicht haben. Teilhabe ist in einer Arbeitsgesellschaft nur über Arbeit möglich. Die ökonomische Spaltung in Arbeitslose und Arbeitsplatzbesitzer wurde – zumindest von der Tendenz her – überwunden. Hartz IV und die Agenda-Reformen werden als Erfolg der Sozialstaatsmodernisierung in die Geschichtsbücher eingehen.

    Eine Langfassung dieser Kolumne gibt es im Novemberheft (44–45/2019) von »Aus Politik und Zeitgeschichte«

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    Rainer Hank