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  • 30. August 2023
    Fiskalmagie der Lisa Paus

    Lisa Paus Foto: BMFSFJ/Laurence Chaperon

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wer ein Gutachten bestellt, kriegt, was er bestellt hat

    Was macht ein Staat, der von seinen auf ihr Geld achtenden Bürgern noch mehr Geld haben will? Vor diese Aufgabe sieht sich Familienministerin Lisa Paus (Grüne) gestellt, seit sie ihr Kindergrundsicherungsprojekt mit zusätzlichen zwölf Milliarden Euro im Jahr durchbringen will. Akzeptanz im Kabinett und im Parlament ist dafür nötig, aber nicht hinreichend: Auch die Geld verdienenden Bürger müssen überzeugt werden, andernfalls könnte das bei der nächsten Wahl den Grünen Stimmen kosten und der AfD Stimmen bescheren.

    Ich sehe zwei politische Kommunikationsstrategien. Die erste nenne ich sozialkaritativ, die zweite soll fiskalmagisch heißen. Die sozialkaritative Strategie setzt auf den aus der Psychologie vertrauten »Kindleineffekt«. Wer wollte armen Kindern Hilfe verwehren? Ihnen zu helfen, gebietet nicht nur die christliche Barmherzigkeit, sondern auch die Moral des Sozialstaates. Wenn jedes fünfte Kind von Armut gefährdet ist, wie es heißt, dann hat der Sozialstaat versagt, wie Frau Paus sagt. Das Argument appelliert an Altruismus und Empathie und nimmt Egoismus billigend in Kauf. Welcher Reiche, der gerade von einer Mittelmeerkreuzfahrt heimkehrt, will schon gerne als hartherzig gelten, weil er armen Kindern die Unterstützung verweigert? Kognitiven Dissonanzen im Selbstbild sind schwer auszuhalten. Ob tatsächlich zwölf Milliarden Euro jährlich die Kinderarmut lindern oder gar zum Verschwinden bringen, diese Frage touchiert Frau Paus aus guten Gründen lieber nicht. Und der zum barmherzigen Samariter mutierte Besserverdiener stellt sie allenfalls im Halbbewussten.

    Nehmen wir nun an, es bliebe am Ende eine nennenswerte Gruppe der besonders Hartherzigen übrig, zu denen nicht nur FDP-Wähler, sondern sogar Paus Parteifreunde aus dem Habeck-Lager zählen. Die vertreten die Ansicht, der Staat müsse derzeit andere Prioritäten des Geldausgebens setzen (Rüstung, Wirtschaftswachstum), zumal Geld nur ausgegeben werden kann, wenn es vorher verdient wurde und Kindergeld auf Pump von der Schuldenbremse verboten werde. Für diese Gruppe hat sich Frau Paus ein besonders raffiniertes Argument ausgedacht, das ich fiskalmagisch nenne. Die Fiskalmagie verkauft die zusätzlichen Milliarden für die armen Kinder mithilfe von allerlei Beschwörungsformeln als ein gutes Geschäft für die Wirtschaftsbürger. Wobei Lisa Paus sich den Trick genau genommen nicht selbst ausgedacht hat, sondern ihn hat ausdenken lassen vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), bei dem eine Bitte um derartige Freundschaftsdienste noch selten enttäuscht wurde. Freilich gab Frau Paus die Hilfeleistung nicht direkt bei DIW-Chef Marcel Fratzscher in Auftrag, das wäre allzu leicht durchschaubar, sondern ließ das Gutachten von der »Diakonie«, dem Wohlfahrtsunternehmen der evangelischen Kirche, bestellen, über dessen Ergebnisse die Ministerin sich dann dankbar erfreut zeigen konnte.

    »Folgekosten« heißt das Zauberwort

    Wie funktioniert die Fiskalmagie? Das Leitmotiv, wie gesagt, heißt: Wer heute bei den Kindern spart, zahlt später drauf. Das Zauberwort lautet: Folgekosten. Armut sei nämlich nicht nur schlimm für die Armen, sondern auch teuer für die Gesellschaft (also die steuerzahlenden Wirtschaftsbürger). Dabei gibt es Folgekosten im Bereich der Gesundheit, der Bildung und der sozialen Teilhabe. Ich paraphrasiere das Gutachten: Weil arme Kinder später weniger Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, entgehen dem Staat Steuereinnahmen und Sozialbeiträge. Weil arme Kinder sich häufig schlecht ernähren und kaum Sport machen werden sie dick und krank. Die Kosten dafür tragen nicht nur die Krankenkassen, sondern auch die Rentenkasse, die die krankheitsbedingten Frühverrentungen mitfinanzieren müssen.

    Es wird dann noch kleinteiliger im Gutachten: Dem Staat entstehen Kosten für Ersatzfreiheitsstrafen, weil arme Kinder im ÖPNV schwarzfahren und, wenn erwischt, eingesperrt werden. Da sie häufig nicht nur kriminell, sondern auch noch drogensüchtig seien, kommen Therapie- und Sanatoriumskosten obendrauf. Nebenbei bemerkt, kann man sich fragen, ob diese pauschale Verunglimpfung armer Kinder als volkswirtschaftliche Kostenverursacher nicht doch ein bisschen diskriminierend klingt. Unterschlagen dagegen, weil ein Tabu, wird die Tatsache, dass die Hälfte der heute armen Kinder, die Bürgergeld erhalten, keinen deutschen Pass haben.

    Die volkswirtschaftlichen Kosten der Kinderarmut lassen sich laut DIW und mit Bezug auf die OECD beziffern: auf 3,4 Prozent des deutschen Bruttosozialprodukts (2019) oder in absoluten Zahlen auf 110 bis 120 Milliarden Euro im Jahr. Daraus leitet die Diakonie ab, dass der Staat sich ruhig 20 Milliarden Euro jährlich für die Kindergrundsicherung leisten könne. Subtraktionsübung für Grund- und Hauptschüler: Folgekosten von 120 Milliarden Euro minus 20 Milliarden Kindergrundsicherung erbringen einen Überschuss von 100 Milliarden für Staat und Steuerzahler, die künftig anderweitig zur Verfügung stehen. Wer es noch nicht kapiert hat, dem hilft ein bisschen Semantik: Aus der Kindergrundsicherung, einer Subvention wie alle Transferleistungen, wird simsalabim eine Investition: »Hervorragend investiertes Geld« (Marcel Fratzscher) mit einer volkswirtschaftlichen Rendite, wie sie selbst ausgebuffte Börsenspekulanten kaum erzielen dürften. Und fertig ist der fiskalmagische Zaubertrick.

    Arbeit für die Eltern, hilft den Kindern

    Das illusorische Versprechen der Zauberei ist leicht zu durchschauen. Wer sagt, dass Milliarden für arme Kinder aus adipösen Halbwüchsigen schlanke Athleten machen? Wer sagt, dass arme Migrantenkinder durch Geldleistungen plötzlich besser deutsch sprechen? Dass einfach nur ein Scheck die Ungleichheit der Kinder nicht einebnet und den Schulerfolg nicht verbessert, ist traurige Einsicht der Bildungspolitik seit Jahren. Warum soll das unter der Überschrift Kinder- und Familienpolitik jetzt plötzlich funktionieren? Und woher wissen wir, dass die Eltern armer Kinder das zusätzliche Geld für Schulbrote, Sport und Nachhilfe ausgeben? Am Ende reduzieren sich die Folgekosten nicht oder minimal und die Kindersicherung muss man addieren, nicht subtrahieren.

    Kinderarmut ist ein Problem. Ob mehr Geld die Armut lindert, darf bezweifelt werden. Arbeit (und Einkommen) für Eltern ist allemal nachhaltiger als Geld für Kinder. Das Projekt Kindergrundsicherung macht den Sozialstaat nicht besser, sondern teurer. Doch am Ende werden FDP und Habeck-Grüne einknicken (irgendwo bei 3,5 Milliarden). Und nicht nur Frau Paus, sondern auch die Bürger werden zufrieden sein. Denn die Bürger hassen Regierungsstreit, sie lieben Frieden und Eierkuchen. Und sehen nicht, dass die Rechnung dafür auf dem Fuße folgt – ohne viel Nutzen für die Bedürftigen.

    Rainer Hank