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  • 12. Mai 2023
    Die neue Ostalgie

    Udo Lindenberg war auch schon da. Foto: pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Gibt es ein richtiges Leben im Unrechtsstaat?

    In meiner Familie wird die Geschichte eines Vetters erzählt, der eines Nachmittags, es muss Ende der fünfziger Jahre gewesen sein, aus dem Gasthaus zurückkommt und seinem Vater – meinem Onkel – den Satz entgegenschleudert: »Du bist ein Nazi.« Die Antwort ließ nicht auf sich warten: Der Junge bekam eine gescheuert, die derart saß, dass er den Vater nie mehr auf das Thema ansprach.

    Katja Hoyer, Mitte der 80er Jahre in der DDR geboren, frug eines Tages ihren Politik- und Geschichtslehrer im wiedervereinigten Jena, wie er heute das Gegenteil dessen lehren könne, was er vor dem Mauerfall unterrichtet habe. Die Antwort ließ nicht auf sich warten: Der Lehrer schmiss Katja aus seiner Klasse.

    Von dem Philosophen Hermann Lübbe stammt das Diktum des »kommunikativen Beschweigens«. Nach 1945 hatte man sich im Nachkriegsdeutschland darauf geeinigt, die Jahre zwischen 1933 und 1945 nicht zu thematisieren. Lübbe sprach von »Beschweigen«, nicht von »Verdrängen«, notwendige Vorbedingung für den Neuanfang. Die beiden Beispiele könnte man in Abwandlung des Lübbe-Diktums »aggressives Beschweigen« nennen.

    Ein sonderbares, verschwundenes Land

    Es kann Jahre dauern, bis aus Beschweigen Verstehen wird. In Westdeutschland hat es bis in die frühen 80er Jahre gedauert, also fast dreißig Jahre, bis ein offenes Gespräch über die Nazizeit möglich wurde. Seit dem Zusammenbruch der DDR sind inzwischen gut 30 Jahre vergangenen. Erst jetzt gibt es in meinem Freundeskreis einigermaßen offen-selbstbewusste Gespräche über biografische Erfahrungen in der DDR, jenem »sonderbaren, verschwundenen Land« (Katja Hoyer). So wundert es nicht, dass sich jetzt Bücher häufen, die antreten, der DDR Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ohne gleich apologetisch zu werden: »Lütten Klein«, das Buch des Soziologen Steffen Mau beschreibt die Demütigungen, denen die Ostdeutschen in den Jahren der Transformation nach 1989 ausgesetzt waren. »Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung«, der Bestseller des Literaturwissenschaftlers Dirk Oschmann, behauptet wortgewaltig, der Westen brauche den Osten als negative Projektionsfläche, um sich selbst in ein besseres Licht zu setzen.
    In diesen Kreis gehört auch Katja Hoyers in diesen Tagen erschienenes, spannend zu lesendes Buch »Diesseits der Mauer«. Die DDR war kein graues Land voller hoffnungsloser Existenzen, so die These. Das andere Deutschland sei mehr als Mauer und Stasi. Auch Hoyer behauptet, die Geschichtsschreibung der DDR werde bis heute vom westlichen Blick dominiert. Mit dem Fokus auf die Verfehlungen der Diktatur werde übersehen, dass die meisten der 16 Millionen Einwohner der DDR ein relativ friedliches und normales Leben mit alltäglichen Problemen, Freuden und Sorgen führten. Die Mauer habe die Freiheit eingeschränkt, aber andere gesellschaftliche Schranken seien gefallen.

    Katja Hoyer schildert vierzig Jahre deutschen Sozialismus aus der Sicht derer, die ihn selbst erlebt haben. Als »Westdeutscher« bin ich überrascht und beschämt, wie wenig ich weiß. Wir begegnen dem Kommunisten Erwin Jöris 1937 in einer schmutzigen Zelle in Swerdlowsk/Sibierien, wir begegnen Regina Faustmann, die 1951 die Ärmel aufkrempelt, um sich am Wiederaufbau der Wirtschaft zu beteiligen (»Bau auf, bau auf, Freie Deutsche Jugend, bau auf!) oder Andreas Weihe, einem 1980 »durch freiwilligen Zwang« bei der NVA gelandeten jungen Wehrpflichtigen, der verzweifelt hofft, nicht schießen zu müssen.

    Die Haltung, die sich in all diesen Erinnerungsbüchern trotzig breit macht, heißt: Innensicht. Deshalb der Titel »Diesseits der Mauer« (Original: »Beyond the Wall«). Es fällt auf, dass all die genannten Autoren die DDR als junge Leute erlebt haben und die Entwürdigung und Depravierung ihrer Eltern oder Verwandten mitansehen mussten, denen sie jetzt Gerechtigkeit verschaffen wollen. Katja Hoyers Vater hatte eine vielversprechende Karriere als Luftwaffenoffizier vor sich, Hoffnungen, die von heute auf morgen vereitelt wurden, wie sie in einem Interview erzählt. Es ist aber auch interessant, dass alle Autoren im demokratischen Kapitalismus Karriere gemacht haben, was kaum möglich wäre, hätte die DDR weiter existiert. Katja Hoyer lebt seit über zehn Jahren in England, forscht als Historikerin am King’s College in London, ist Fellow der Royal History Society und hat eine Kolumne in der Washington Post.

    Freiheit lässt sich nicht aufteilen

    Wir lassen nicht zu, die Geschichte der DDR pauschal als eine Fußnote der deutschen Geschichte abzutun, die man am besten vergisst, so Katja Hoyer. Das hat freilich seinen Preis. Zu Recht sagt Katja Hoyer, BDR und DDR seien wie ein sozialwissenschaftliches Experiment, bei dem zwei Laborgruppen historisch unterschiedliche Wege gegangen sind. Ökonomisch ist der Ausgang des Feldversuchs eindeutig. Das Bruttosozialprodukt der BRD lag 1949 bei 261 Milliarden Euro, das der DDR bei 37 Milliarden. Am Ende, 1989, war der Wohlstand der Westdeutschen auf 1,4 Billionen Euro angewachsen im Vergleich zu 207 Milliarden der DDR. Katja Hoyer leugnet dies nicht. Aber sie stellt die soziale Gleichheit der DDR der westlichen Marktwirtschaft als mindestens ebenbürtig gegenüber: Eine viel größere soziale Durchlässigkeit, eine Gender-Gerechtigkeit (1988 arbeiten 90 Prozent der Frauen) nebst der staatlichen Förderung von Volks- und Spitzensport, dies Sachen nennt sie als Stärken des Ostens; sozialistischer Alltag im Zustand existenzieller Sorglosigkeit.

    Spätestens hier sind Rückfragen nötig. Was heißt soziale Mobilität im Arbeiter- und Bauernstaat, wenn Akademikerkindern das Studium verwehrt wird und Christen das Nachsehen haben, wenn sie nicht in der FDJ waren? Wo steckt der Denkfehler in der »Vision einer klassenlosen Gesellschaft, in der man am oberen Ende des wirtschaftlichen Spektrums freiwillig auf Luxus verzichtete, um am unteren Rand große Armut zu verhindern«? Was heißt Gendergerechtigkeit, wenn Kinder – natürlich nicht alle – in sogenannten Wochenkrippen untergebracht wurden, wo sie bleibenden psychischen und sozialen Schaden nahmen? Und was ist einer egalitären Gesellschaft wert, die nicht auf freier Wahl der Menschen beruht, sondern autoritär und undemokratisch von einer Elite oktroyiert wurde. Die Freiheit ist nicht einfach eine Schranke von vielen, die ein Staat verweigern oder gewähren kann: Ohne Freiheit ist alles andere nichts.

    Die Siegerpose der Westler, die den »Beitritt« der fünf neuen Bundesländer 1990 als »alternativlos« durchgezogen haben, hat die Würde der Menschen aus der DDR beschädigt. Diese »Schuld«, die mehr ist als Unsensibilität, wird nicht dadurch ausgeglichen, dass nun die DDR in Nachhinein als das bessere Sozialmodell idealisiert wird. Auch im falschen Leben ist normales Leben in Würde möglich. Doch Unrechtsstaat bleibt Unrechtsstaat.

    Rainer Hank