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  • 20. Januar 2022
    Die Kinder sind die Verlierer

    Und wo sind die Freunde? Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Ein neuer Blich auf die gesellschaftliche Ungleichheit

    Corona bedroht alle Menschen gleichermaßen. Alpha, Delta, Omikron – kein Kontinent wird vom Virus verschont. Das ist richtig und doch falsch: Bei den Älteren bedroht Corona die Gesundheit in besonderem Maße. Bei den Jungen sind die Zukunftschancen und das Leben generell bedroht.

    1,5 Milliarden Schülerinnen und Studenten konnten in den vergangenen zwei Jahren nicht so lernen, studieren und leben, wie sie es normalerweise täten. Diese Zahl entnehme ich einer[ Übersichtskarte](http://en.unesco.org/covid19/educationresponse#schoolclosures der Unesco. Bis heute sind die Staaten der Welt über die Frage der Schulschließungen uneins. Während in den USA die Schulen 71 Wochen lang ganz oder teilweise geschlossen waren – in vielen Fällen sind sie es bis heute – haben Frankreich oder Spanien die Klassenzimmer lediglich 12 beziehungsweise 15 Wochen zugesperrt, die Schweiz sogar nur sechs Wochen. Deutschland liegt mit 38 Wochen irgendwo in der Mitte. Uganda hat nach 83 Wochen Schulschließung in der vergangenen Woche wieder geöffnet: Schüler und Lehrer mussten sich in der Zwischenzeit anderswo verdingen – vermutlich ein schlechterer Infektionsschutz als der Klassenraum.

    Der gesellschaftliche Konsens hat sich in den vergangenen zwei Jahren gedreht. Anfangs hat man die Schulen zuerst geschlossen, weil die jungen Menschen am meisten schutzbedürftig seien. Jetzt heißt es: Die Schulen schließen wir zuletzt. Lediglich Bildungsgewerkschaften und Lehrerverbände liebäugeln immer noch mit partiellen Schulschließungen. Vermutlich verstehen sie sich als Anwälte der Lehrer und weniger der Schüler. Man sollte einmal untersuchen, ob es eine Korrelation zwischen der Dauer der Schulschließungen und der Gesundheit der Schüler oder eher der Stärke der Gewerkschaften im jeweiligen Land gibt. Jedenfalls berichtet mein Kollege Winand von Petersdorff, USA-Wirtschaftskorrespondent der FAZ, dass dort die Lehrergewerkschaft die letzte mächtige Arbeitnehmerorganisation sei.

    Langsam setzt sich durch, dass auch in den Schulen nach Kriterien der Verhältnismäßigkeit zu entscheiden ist. Komplette Schulschließungen mit Rücksicht auf den Gesundheitsschutz ließen die pädagogischen, psychischen, sozialen und ökonomischen Kosten des Homeschoolings außer Acht. Erst als wir begriffen haben, dass Schüler weniger stark unter dem Virus als unter Lernmangel, Mangel an Kontakten und Mangel an Abwechslung leiden, haben sich die Gewichtungen verschoben.
    Ist nun alles gut? Karin Prien, CDU-Bildungsministerin aus Schleswig-Holstein, hat so etwas kürzlich behauptet. Anfangs sei man »kalt erwischt« worden, aber dann habe man digital, pädagogisch und hygienemäßig (Stichwort »Luftfilter«) aufgerüstet, um »situationsangemessen« zu reagieren, hat die Politikerin jüngst in einer Talkshow behauptet; sie ist Präsidentin der Kultusministerkonferenz.

    Smartphone geht vor Lernen

    Stimmt das? Ludger Wößmann, Bildungsökonom am Münchner Ifo-Institut, hat Zweifel. Wößmann hat die zweite Welle der Schulschließungen 2021 mit dem ersten Lockdown 2020 verglichen. Dabei hat er 2000 Eltern befragt, wie Kinder die mehrwöchigen Schulschließungen verbracht haben. Das Ergebnis: Im Durchschnitt haben die Kinder im Frühjahr 2021 4,3 Stunden pro Tag mit schulischer Tätigkeit verbracht. Das ist zwar eine knappe Dreiviertelstunde mehr als im Vorjahr, aber immer noch drei Stunden weniger als vor der Krise. Fast jedes vierte Kind hat sich nicht mehr als zwei Stunden am Tag mit Schule beschäftigt. Mehr Zeit als mit Lernern verbringen die Kinder mit Fernsehen, Computerspielen und am Smartphone (4,6 Stunden).

    Nur ein Viertel der Schüler hatten täglich gemeinsamen Unterricht per Video. Und fast vierzig Prozent hatten dies nur maximal einmal pro Woche. Jedes Unternehmen hat sich in kürzester Zeit auf Zoom- oder Teams-Arbeit umgestellt. Aber in den Schulen ist es auch nach einem Jahr Pandemie nicht gelungen, flächendeckend Videounterricht nach Hause zu senden. So viel zum Digitalisierungsschub durch Corona. So viel auch zur situationsadäquaten Corona-Strategie der Schulen, die Frau Prien lobt. Dass leistungsschwache Schüler und Nicht-Akademikerkinder inzwischen besondere Lerndefizite aufweisen, hat einmal mehr auch die Studie von Ifo-Forscher Wößmann gezeigt.
    Kurzsichtig wäre es, lediglich auf die direkten Lerndefizite durch wenig und unkonzentriert konsumierten Unterricht zu blicken und dabei die sozialen Kosten der Schulschließungen zu übersehen. Fabrizio Zilibotti, ein an der amerikanischen Eliteuniversität Yale lehrender Ökonom, hat jetzt zusammen mit Kollegen eine Studie abgeschlossen über die von Schulschließungen verursachte Ungleichheit (»Journal of Public Economics«). Mehr Ungleichheit gibt es nicht nur für die heutige Schülerkohorte im Vergleich mit früheren oder späteren Jahrgängen, die von Corona verschont blieben. Mehr Ungleichheit gibt es erst recht innerhalb der heutigen Schülerschaft.
    Zilibotti macht nämlich darauf aufmerksam, dass für den Lernerfolg nicht nur Lehrer, Eltern und der zu vermittelnde Stoff wichtig sind, sondern auch die Mitschüler. Der Ökonom spricht vom »Peer-Effect«, also den positiven Wirkungen durch den Umgang mit Gleichaltrigen. Die kommen in der Schule häufig aus sehr unterschiedlichen sozialen Schichten. Ich erinnere mich gut, dass das Gymnasium für mich als Zehnjährigen der erste Ort war, wo ich mit Fabrikanten-, Professoren- oder Anwaltskindern der Stuttgarter »Halbhöhe« zusammenkam. Die waren nicht unbedingt schlauer als ich (was ich mit Stolz registrierte), jedoch brachten mich mit einer bürgerlichen Welt und ihren Werten zusammen – wenn schon nicht durch die Mitschüler selbst, so spätestens, als ich die Eltern bei ihnen zuhause kennenlernte.

    Soziale Entmischung: Eine Bildungskatastrophe

    Die Schulschließungen führten nun dazu, dass die Kinder nicht mehr diesen »diversen« Umgang hatten, sondern entweder ganz isoliert zuhause herumsaßen oder aber mit Kindern der Nachbarschaft zusammen waren, die aus dem gleichen sozialen Milieu stammen: man nennt das »soziale Entmischung«; in der Nachbarschaft stößt man immer nur auf seinesgleichen.

    Die fehlenden Anregungen durch die Klassenkameraden, keine »positiven Peer Spillovers«, halten die Yale-Ökonomen für die größte von Corona ausgelöste Bildungskatastrophe. Ich finde das aus eigener Erfahrung völlig nachvollziehbar. Für Kinder aus unteren sozialen Klassen ist das viel schlimmer als für »bessere« Schichten.
    Horace Mann, ein amerikanischer Bildungsreformer im 19. Jahrhundert, nannte die Schule die größte soziale »Chancen-Ausgleichsmaschine« – »the great equalizer«. Diese »Maschine« stottert erheblich. Die Folgen sind nicht absehbar. https://en.unesco.org/covid19/educationresponse#schoolclosures

    Rainer Hank