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  • 11. Juni 2019
    Der Ruf der Horde

    Die Stammesgeschichte werden wir nicht los

    Dieser Artikel in der FAZ

    Über die offene Gesellschaft in Zeiten des Populismus

    Neulich waren wir in Rothenburg ob der Tauber. Ich gestehe, dass ich mich vor diesem Ausflug etwas gefürchtet hatte. Abgesehen von einem kurzen Besuch als Kind bin ich hier noch nie gewesen. Rothenburg hatte für mich einen schlechten Ruf: Spießig, kitschig-mittelalterlich-romantisch, touristisch, dumpf, deutsch und tümelnd. Also alles, was man selber nicht sein möchte. Der deutsche Mann (die deutsche Frau) von Welt lebt urban, mag Frankfurt, London, New York oder Berlin und verachtet mittelalterliche Mauern und trommelnde Landsknecht-Romantik in der Provinz. Alles zum schweißtreibenden Fremdschämen: Was sollen die Touristen aus Fernost und Fernwest nur von uns denken: Schweinsbratenmitknödelesser, Bierkrügeleertrinker, fränkisch-bayerische Lautsprecher.

    Und nun, was soll ich sagen: Die Überprüfung der Phantasien an der Wirklichkeit wurde zu einer Veranstaltung des Selbstschämens – für mich. Spießig-überheblich, das war ich, nicht Rothenburg. Kein Museum für einfältige Ausländer, wie in meiner Vorstellung, sondern eine stolze, lebendige Stadt, die sich zu ihrer Geschichte bekennt, aber nicht im Mittelalter stehen geblieben ist. Das Hotel, in dem wir wohnten, zeigte sich auf der Höhe der Zeit: smart und digital (Einchecken mit der App) inklusive Elektroladestation für den Tesla, mit »common working space« im Erdgeschoss, wo Russen, Asiaten und »Hipster« aus Berlin in der schicken Bulthaup-Küche zusammen kochen. Völkerverständigung als Option. Vorher gab es ein A-Capella-Chorkonzert in der Franziskanerkirche, das man sich gut auch im neuen Boulez-Saal in der Hauptstadt hätte vorstellen können.

    Also kein tumber Provinzialismus, dafür neue, unbekannte Heimatgefühle und sogar Stolz: Wir können uns sehen lassen bei den Fremden, die hierher kommen. Auf der vier Kilometer langen Stadtmauer, bekanntlich das Wahrzeichen Rothenburgs, lässt sich eine Art weltbürgerliche National-Solidarität beobachten. Wer sich mit einer Spende (Mindestbetrag 1200 Euro) für den Erhalt der Mauer engagiert, bekommt dafür einen »Spenderstein«, in den Name und Nationalität eingeschrieben sind: Herr Li aus Beijing oder Ms. Smith aus Cincinnati liegen hier Stein an Stein. Auffallend viele Spender aus Amerika, Japan und China sind uns aufgefallen. Die Gruppe junger Chinesen vor uns blieb stolz fast ein wenig andächtig stehen, wenn sie Landsleute auf den Spendersteinen entdeckte.

    Rothenburg ob der Tauber als Avantgarde

    Wenn ich es jetzt pathetisch übertreiben wollte, würde ich sagen: Geht doch! Rothenburg ist ein Modell dafür, wie wir unsere Welt gerne hätten. Ein Ideal smarter Globalisierung, wo Nationen auf sich und auf die anderen stolz sein dürfen, sich am Altruismus ihrer Landsleute erfreuen, und wir Deutsche ein Heimatgefühl angesichts einer über tausendjährigen Geschichte dieser Vorzeigestadt spüren und zulassen dürfen. Stolz sein auf das Erbe, ohne dessen exklusiven Gebrauch (»Ausländer raus!«) zu beanspruchen. Rothenburg, die offene Stadt, ist Symbol einer multikulturellen Gesellschaft, die doch weiß, dass Offenheit wehrhaft sein muss – und deshalb ohne Grenzen und Mauern nicht auskommt. Denn eine offene Gesellschaft hat Feinde.

    Was sich in Rothenburg, mitten in Deutschland, zur Einheit fügt, scheint ansonsten derzeit gesellschaftlich überall auseinander zu brechen. Die Darmstädter Soziologin Cornelia Koppetsch spricht in ihrem klugen Buch »Gesellschaft des Zorns« über den neuen Rechtspopulismus von einer Re-Nationalisierung, einer Re-Souveränisierung und eine Re-Vergemeinschaftung. Alle drei Rückwärtsbewegungen zusammen beschreibt sie als Protestbewegung, eine Konterrevolte gegen die arrogante Verweltbürgerlichung globaler Wirtschaftseliten, deren Heimat London und New York (aber nicht Rothenburg) ist. Was dabei verloren gegangen zu sein scheint ist ein Gefühl von Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder Nation, welche doch Voraussetzung dafür ist, dass Menschen Würde entwickeln.

    Eine solche Deutung des Populismus als – den Achtundsechzigern vergleichbare – Protestbewegung trägt deutlich weiter als die derzeit gängigen Interpretationen, weil sie es nicht nötig hat, die rechten Revoluzzer von oben herab paternalistisch als Clan minderbemittelter Dummerjane zu behandeln und ihren moralischen Alleinvertretungsanspruch als inferior zu geißeln. Kollektive Wir-Gefühle dienen dazu, Loyalität und Identität innerhalb der jeweiligen Gruppe herzustellen. Das gilt für die Bildungselite, deren Individualismus unbewusst kollektiven Moden folgt, nicht weniger als für die Populisten. Treffend lässt sich diese Suche nach Identität als »Tribalismus« beschreiben, eine Art von Stammesdenken, wo das Eigene vor allem und zuallererst in der Abgrenzung zum feindlich Anderen mit sich bekannt wird.

    Schlag nach bei Karl Popper

    Wie konnte es zu dieser giftig-aufgeheizten Situation kommen, wo wir doch schon einmal so stolz waren auf unsere aufgeklärte, tolerante und offene Gesellschaft, die wir längst auf halbem Weg zu einer grenzenlosen Weltgesellschaft wähnten? Es lohnt ein Blick in das einschlägige Standardwerk Karl Poppers: »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« erschien 1945 als der von den Feinden der offenen Gesellschaft angezettelte Krieg in Europa zu Ende ging. Ziel seines Buches, so Popper, sei es zu zeigen, »dass sich die Zivilisation noch immer nicht von ihrem Geburtstrauma erholt hat – vom Trauma des Übergangs aus der Stammesordnung, die magischen Kräften unterworfen ist, zur offenen Gesellschaft, die die kritischen Fähigkeiten der Menschen freisetzt«. Der »Schock dieses Übergangs« ist nach Popper einer der Faktoren, die den Aufstieg der totalitären Protestbewegungen ermöglichten, zu denen für ihn neben dem Faschismus stets auch der Kommunismus in der Sowjetunion zählten.

    Das kann nur heißen, dass die Geschichte eben keine teleologische Fortschrittsgeschichte ist, die sich zwingend vom Schlechten zum Guten, vom Stammesdenken zum kritischen Rationalismus fortentwickelt. Bekanntlich äußert sich ein Trauma in einem Wiederholungszwang; das Verdrängte kehrt zurück und richtet sich gegen jene, die sich längst von der Last des kollektivistischen Erbes befreit dünkten. Könnte es sein, dass der kosmopolitische Liberalismus meinte, jene »Ligaturen« (Ralf Dahrendorf) ignorieren zu können, welche den Bezug zu den Kollektiven Heimat, Volk oder Nation für jedermann essentiell sein lassen? Der Schock über die populistische Protestbewegung wäre dann das Erschrecken über die Wiederkehr des »Rufs der Horde«.

    Statt den Fehler zu machen, die Rechtspopulisten als Erscheinung des Bösen zu diabolisieren – und also abzuspalten und zugleich für sich selbst eine Art alternativlose Ewigkeitspacht auf Wahrheit und Rationalität zu beanspruchen, wäre es besser, sich den von den protestierenden Populisten aufgeworfenen Themen zu stellen: den Fragen von Heimat, Zugehörigkeit oder Würde. Ein Ausflug nach Rothenburg ist dafür eine gute Kur: Man kann dort deutsches Erbe stolz erfahren und erleben, dass Heimatliebe und globales Lebensgefühl sich bestens vertragen.

    Rainer Hank