Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 15. November 2022
    Der 49–Euro-Schwachsinn

    Pankow ist in den 49 Euro inbegriffen Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Es gibt bessere Lösungen als die Bahn-Flatrate

    »Bei der heißen Schlacht am kalten Buffet, da zählt der Mann noch als Mann
    Und Auge um Auge, Aspik um Gelee, hier zeigt sich, wer kämpfen kann, hurra.«

    Der Song von Reinhard Mey aus dem Jahr 1972 kommt mir in den Sinn, seit hierzulande über 9–, 29– oder 49–Euro-Tickets gestritten wird. Halb Deutschland war in diesem Sommer mit dem ÖPNV quer durchs Land unterwegs. Und so ist es dann auch zugegangen: Ein Gedränge und Gedrücke, falls man überhaupt noch einen Stehplatz bekam, weil der einzig freie Sitzplatz leider schon von den Pommes weiß-rot des Vorgängers besetzt war. Alles eben wie am Kalten Buffet Reinhard Meys, den ich deshalb gleich noch einmal zu Wort kommen lasse (Melodie gibt es auf Youtube): »Gemurmel dröhnt drohend wie Trommelklang, bald stürzt eine ganze Armee die Treppe hinauf und die Flure entlang. Dort steht das kalte Buffet. Zunächst regiert noch die Hinterlist, doch bald schon brutale Gewalt. Da spießt man, was aufzuspießen ist, die Faust um die Gabel geballt. Mit feurigem Blick und mit Schaum vor dem Mund kämpft jeder für sich allein. Und schiebt sich in seinen gefräßigen Schlund, was immer hineinpasst, hinein.«

    Der Kalte-Buffet-Effekt ist die Konsequenz aller Flatrates. Das Restaurant wird bei einem Pauschalpreis entweder an der Qualität des Buffets oder an der Menge oder gleich an beidem sparen. Hummer sollte man besser nicht erwarten. So hat mein journalistischer Lehrer Hans D. Barbier immer argumentiert, um die Schlaraffenland-Illusion der All-You-Can-Eat-Angebote zu entlarven. Trotzdem sind die Leute jetzt wieder ganz besoffen von den Billigtickets. Da geht es genauso zu wie am kalten Buffet: Die Fahrt in die Ferne dauert ewig (es heißt ja auch Nahverkehr), die Züge sind rappelvoll und niemand hat Lust, die Qualität des Angebots zu verbessern.

    Das glauben Sie nicht, weil die 49–Euro-Idee so toll klingt? Ich zitiere Oliver Wolff, den Chef des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen: »Die ersten Betriebe denken darüber nach, Linien auszudünnen und Strecken einzustellen.« Er sei in Sorge um das künftige Angebot im Nahverkehr, so Wolff. Der Präsident des Deutschen Städtetags legt zumindest metaphorisch noch einen drauf. Er habe die Befürchtung, die Verkehrswende drohe durch das 49–Euro-Ticket »auf dem Abstellgleich zu landen«.

    Wissing als Ehrenmitglied der Linken

    Nur einer jubelt. Der Verkehrsminister Volker Wissing. Seit Wochen schwadroniert er von der »größten ÖPNV-Tarifreform in Deutschland« und verkauft als seinen Erfolg, was ihm ursprünglich von den Grünen aufs Auge gedrückt wurde. Deutschland lasse damit »extreme Preisschwankungen im Angebot des Öffentlichen Nahverkehrs hinter sich« jubelt Wissing. Dass ich das noch erleben darf: Ein liberaler Politiker lobt den Einheitspreis und stört sich an »extremen Preisschwankungen«. Er glaubt nicht, dass in einer Marktwirtschaft Preise Signale sind für Anbieter und Nachfrager darüber, was wem wieviel wert ist. Er ignoriert den Kalte-Buffet-Effekt des Festpreises, der jeglichen Wettbewerb erstickt. Kein Zugbetreiber hat Anreize Pünktlichkeit, Zugqualität, Service für die Kunden zu verbessern, denn er darf Preise weder erhöhen noch senken. Er muss alles immer für 49 Euro liefern. Konsequent müsste Wissing auch einen Festpreis für Wohnungen (sagen wir 200 000 Euro), Laugenbrezeln (vielleicht 50 Cent) oder Fahrräder (150 Euro) fordern. Auch da stören sich viele Leute an den »extremen Preisschwankungen«, gerade jetzt in Zeiten der Inflation. Im Erfolgsfall winkt Wissing die Ehrenmitgliedschaft bei der »Linken«, überreicht am goldenen Band von Sarah Wagenknecht, falls die dann dort noch Mitglied ist.

    Es gibt noch ein paar weitere Einwände gegen das 49–Euro-Ticket. Der wahre Preis der Reise wird verschleiert, denn Bund und Länder schießen gepumpte drei Milliarden aus dem Doppel-Wumms zu. Die Zugbetreiber werden jetzt ihre Lobbyabteilungen aufrüsten, denn mehr Geld kommt künftig nicht vom Kunden, sondern vom Staat. Auch das klingt nicht wirklich nach Marktwirtschaft. Das Billigticket wird kofinanziert von heutigen oder künftigen Steuerzahlern, auch wenn sie kein 49–Euro-Ticket kaufen, sondern mit Fahrrad, E-Auto oder ICE unterwegs sind. Gerecht wäre es, Preise individuell streckenabhängig zu berechnen. So etwas hat die FDP früher – etwa in den Mautdebatten – immer gefordert. Wenn Arme sich das nicht leisten könne, kann der Staat sie direkt mit Geld unterstützen. 49 Euro sind für arme Menschen kein Pappenstiel, für den Zahnarzt schon, der braucht es aber nicht.

    Fairtiq kann alles besser

    Und was ist mit dem Klima? Bahnfahren reduziert die CO2–Emissionen prahlt Wissing. Das wollen wir erst einmal sehen. Für jene Bürger auf dem Land, bei denen kein Bus und keine Bahn vorbeikommt, stimmt das schon mal nicht: Die pendeln auch künftig mit dem alten Diesel. Und für die Strecken, die künftig vom Netz genommen werden (siehe oben), stimmt es auch nicht. Und woher kommt der Strom, mit dem die Züge fahren? Natürlich aus der Steckdose, also aus der Oberleitung. Erzeugt wird er zu nicht geringen Teilen aus Kohle und Gas, wie wir in den letzten Monaten teuer lernen mussten (»Merit Order«). Klingt nicht super-klimafreundlich.

    Bleibt das Argument der Vereinfachung. Die 49–Euro-App funktioniere immer, unabhängig von kaputten Fahrscheinautomaten und von Kleinstadt zu Kleinstadt undurchschaubaren Tarifsystemen. Das stimmt. Doch dieser Mega-Vorteil ist nicht an eine Flatrate gebunden, sondern geht auch bei streckenabhängigen Preissystemen. »Fairtiq« zum Beispiel, ein Startup ohne Staatssubventionen aus der Schweiz (da fahren bekanntlich die Züge pünktlich), bietet eine Check-in/Check-out-Lösung: Niemand muss vor der Fahrt ein Ticket kaufen und sich um Tarifzonen kümmern. Teure Automaten werden überflüssig. Beim Betreten des Zuges loggt man sich durch Wischen ein, beim Aussteigen checkt man genauso aus. Fairtiq garantiert, dass stets das günstigste verfügbare Ticket berechnet wird. Die gefahrene Strecke wird über GPS ermittelt und am Monatsende abgebucht, streng datenanonymisiert natürlich, verspricht das Unternehmen. Das funktioniert seit langem prima in der Schweiz, in Liechtenstein und Vorarlberg. Auch einzelne Regionen in Deutschland (neuerdings auch Nordrhein-Westfalen) haben Fairtiq gekauft.

    So kommt man zu einer einfachen und gerechten Lösung, die Wettbewerb und Anreize zu Qualitätsverbesserung zulässt und All-You-Can-Eat-Effekte vermeidet. Was waren das nochmal für Nachteile? Fragen wir Reinhard Mey: »Da braust es noch einmal wie ein Orkan, ein Recke mit Übergewicht wirft sich aufs Buffet im Größenwahn, worauf es donnernd zerbricht.«

    Rainer Hank

  • 08. November 2022
    Stapelkrisen

    Foto redbubble

    Dieser Artikel in der FAZ

    Was tun, wenn die Zeit aus den Fugen ist?

    Der achtjährige Gaylord hatte seine Augen und Ohren überall. Vor allem dort, wo sie nicht hingehören. Schon morgens früh hopst er von Bett zu Bett und will seine Familie mit selbstgebrühtem Kräutermatsch-Tee beglücken. Doch der Haussegen hängt gewaltig schief: Der Vater wurde aus dem elterlichen Schlafzimmer verbannt, Großtante Marigold steckt irgendwo in der Vorkriegszeit fest, und Tante Becky spannt der eigenen Schwester den Liebhaber aus.

    So geht der Plot eines Romans von Eric Malpass mit dem Titel »Morgens um Sieben ist die Welt noch in Ordnung«, der im Jahr 1968 in deutschen Kinos lief. Dass es sich um eine schnulzige Komödie handelte, ahnt man. Demensprechend hatte ich mich nicht getraut, Freunden zu erzählen, dass ich den Film anschauen würde. Schließlich befinden wir uns im Jahr 1968: Die revolutionären Studenten in Berlin und Frankfurt, unsere Helden als Schüler, hätten das mit Sicherheit nicht gut gefunden und als unpolitisch-seichte Ablenkung vom verwerflichen Zustand der kapitalistischen Welt getadelt.

    Die Erinnerung an den Film ist längst verblasst. Gehalten – nicht nur in meiner Erinnerung – hat sich der geniale Titel. Er spiegelt die nur allzu verständliche Sehnsucht nach Normalität. Früher war die Welt noch in Ordnung. Und Ordnung ist bekanntlich das halbe Leben (Marie Kondo).

    Heute ist die Zeit mal wieder aus den Fugen. Shakespeares Hamlet hat das schon vor ein paar Jahrhunderten diagnostiziert. Früher wussten wir wenigstens noch, in welcher Krise wir uns gerade befinden. Heute gibt es eine Krisenunübersichtlichkeit: Corona ist noch nicht vorbei. Inflation, Krieg und geopolitisch-atomare Bedrohung kommen hinzu. Eine neue Migrationskrise ist zurück, die wir doch eigentlich mit dem Jahr 2015 für erledigt hielten. Nicht zu reden von der Klimakrise, die als Krise gar nicht weichen will. Von Polykrise ist die Rede, sprachlich schöner noch von »Stapelkrise«.

    Am Rande des Nervenzusammmenbruchs?

    Was machen wir jetzt mit der aus den Fugen geratenen Zeit? Unter dem Titel »Nicht mehr normal« hat der Soziologe Stefan Lessenich gerade ein kleines Bändchen veröffentlicht, in dem er unsere Gesellschaft »am Rande des Nervenzusammenbruchs« wähnt. In Pedro Almodovars gleichnamigem Film von 1988 waren es lediglich die hysterischen Frauen, die nervlich am Ende waren, heute ist es schon die ganze Gesellschaft. Wie will man das künftig noch steigern? Lessenich, seit geraumer Zeit Direktor des durch Max Horkheimer und Theodor Adorno berühmt gewordenen Instituts für Sozialforschung in Frankfurt, braucht den Superlativ als Voraussetzung seiner spätmarxistischen Revolutionstheorie. Die geht ungefähr so: Alles geht den Bach runter. Und das ist gut so. Endlich werde die »Irrationalität des Ganzen« sichtbar: »Ganz gleich, ob im Feld der Finanz-, Klima- oder Zuwanderungspolitik, bei der Organisation des gesellschaftlichen Zusammenhalts oder der Geschlechterverhältnisse, im Umgang mit Pandemien oder mit Diktatoren: Wir sind aufgefordert, die Macht der Illusion zu brechen – der Illusion, dass wir mit alten Rezepten durchkommen könnten.« Völker hört die Signale: Die Apokalypse bringt uns ins Paradies, welches bei Stefan Lessenich selbstredend ein sozialistisches Paradies mit demokratischer Planwirtschaft ist, wo »die Bestimmung gesellschaftlicher Bedarfe nicht mehr den Märkten überlassen wird, sondern zum Gegenstand demokratischer Entscheidung« gemacht wird. Viel Spaß dabei! Ich bin raus.

    Der Denkfehler ist die Vorstellung, Krise sei die Ausnahme, Normalität hingegen der Normalfall, also das Übliche. Dabei war es doch gerade Karl Marx, der uns darüber belehrt hat, dass die Wirtschaft rhythmischen und zyklischen Schwankungen unterliegt, der stetigen Wiederkehr von Auf- und Abschwung, Boom und Bust, Globalisierung und Deglobalisierung. Sieben fetten Kühen folgen sieben magere Kühe, pflegte man in einer früheren Welt zu träumen, in der solche Bilder aus der Fleischwirtschaft noch keinen klimapolitischen oder ökotrophologischen Fauxpas bedeuteten.

    Während die Krise der Normalzustand ist, ist die Normalität wohl eher eine Fiktion und Projektion, die freilich als Gegenstand der Sehnsucht eine psychostabilisierende Funktion hat. Seit ich Wirtschaftsjournalist bin stolpern wir von einer Krise in die nächste. Bloß ist die Erinnerung daran verblasst, dass wir in den neunziger Jahren der Meinung waren, knapp fünf Millionen Arbeitslose würden bald politische Unruhen wie in den frühen dreißiger Jahren nach sich ziehen. Über die Beschäftigungskrise stapelte sich die sogenannte New-Economy-Krise, die das Vermögen vieler Kleinaktionäre mit einem Schlag vernichtete und den Deutschen die Lust an den Aktien auf lange Jahre vergällte.
    Krisen, wohin man blickt. Harold James, Wirtschaftshistoriker an der Princeton-Universität, fängt in seinem gerade erschienenen Buch »Schockmomente«, einer Weltgeschichte von Inflation und Globalisierung, bereits in den 1840er Jahren an. Hungersnöte, Mangelernährung, Krankheiten und Aufstände hatten Europa damals im Griff. Ähnlich wie die Marxisten, gewinnt auch Harold James den Krisen viel Gutes ab. Doch anders als die Marxisten sind für ihn Krisen nicht notwendige Umschlagpunkte zum Sozialismus, sondern Bedingung des kapitalistischen Fortschritts und der Globalisierung. So brachten die Hungersnöte des 19. Jahrhunderts international einen wirtschaftlichen Integrationsschub, der den Lebensmittelbedarf Europas durch Getreideimporte aus dem Ausland zu stillen vermochte. Knappheit ist nichts Neues, das muss Robert Habeck noch lernen: Hohe Preise sind gut. Denn sie geben Verbrauchern und Unternehmern Signale einer Notwendigkeit zur Veränderung. Die Globalisierung wird damit zu einer Geschichte von Zusammenbrüchen und Schöpfungen. Am Ende kann sich das Ergebnis sehen lassen, finde ich. Wir sind alle reicher geworden. Unser Smartphone, unsere Waschmaschinen und Butterpäckchen wurden über die Zeit viel billiger, was man in Inflationszeiten nicht sehen mag.

    Folgt man der Idee der kapitalistischen Fortschrittsgeschichte, dann ist es grundfalsch, Preise politisch niedrig zu halten und – wie es jetzt geschieht – den Status quo dadurch zu zementieren, dass Subventionen für Firmen an Beschäftigungsgarantien gebunden werden. Geholfen werden muss den wirklich Armen. Die üppigen Entlastungspakete verhindern dagegen, dass Krisen ihr Kreativitätspotential freisetzen können. Das mag zynisch klingen, aber so geht der Fortschritt. Für Politiker ist das schwer auszuhalten. Man sollte sie an das Diktum einer früheren Bundeskanzlerin erinnern: »Chaos ist in Politik immer.«

    Rainer Hank

  • 01. November 2022
    Das Rollkoffer-Rätsel

    Geniale Idee Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Verhindern die Männer die besten Erfindungen?

    Warum kam man erst im Jahr 1972 auf die Idee, Räder an Reisekoffer zu montieren – obwohl es das Rad schon seit 5000 Jahren gibt. Die Frage ist faszinierend. Denn inzwischen können wir uns eine Welt ohne unsere Rimowa-Koffer gar nicht mehr vorstellen. Tänzerisch drehen die Dinger sich auf ihren vier Rädern um die eigene Achse; lässig und leicht ziehen wir sie hinter uns her.

    Das Rollkoffer-Rätsel lässt mich nicht mehr los seit ich vergangene Woche bei der Verleihung des Wirtschaftsbuchpreises der schwedischen Autorin Katrine Marçal zugehört habe, die dem Trolley ein ganzes Buch gewidmet hat und der Frage, warum sich die naheliegendsten Innovationen manchmal erst Jahrtausende später (oder gar nicht) durchsetzen. Offenbar ging es anderen wie mir: Katrine Marçal wurde vom anwesenden Publikum in einer Spontanwertung auf Platz eins unter den zehn Finalisten ausgezeichnet.

    Die Antwort auf die Rollkofferfrage, die die Schwedin anbot, war beim anschließenden Häppchengeplauder heiß umstritten. Einmal mehr sollen nämlich die Männer schuld sein. Ein echter Mann trägt seinen Koffer selbst, wozu hat ihm der liebe Gott ein dickes Muskelpaket geschenkt, sagt Katrine Marçal. Und wenn er ein Kavalier sein wollte, dann trug er natürlich auch das Gepäck seiner Gemahlin. Rollen wären dem Mann weichlich und weibisch vorgekommen. Weil die meisten Erfindungen in der Weltgeschichte von Männern gemacht wurden, kamen die Rollen erst an den Koffer, nachdem die Männer historisch bedeutsamere Erfindungen hinter sich hatten – zum Beispiel einen Kurzausflug auf den Mond. Wir Männer sind also selbst schuld daran, dass wir aus falschem Stolz Jahrhunderte lang sinnlos Koffer wuchten mussten. Das lässt sich generalisieren: Wir lassen uns Bequemlichkeit, Wohlstand, Klimaschutz, Reichtum und vieles andere entgehen, weil wir über Jahrhunderte machistisch und paternalistisch verbogen wurden. Sagt Frau Marçal.

    Meine unsystematische Nachfrage bei kundigen Männern lässt am Gender Bias der Innovationsgeschichte kein gutes Haar. »Völliger Quatsch«, meint zum Beispiel Bert Rürup, Ökonomieprofessor und langjähriges Mitglied des Sachverständigenrats. Falsch sei schon die Voraussetzung, dass die Männer ihre reisenden Koffer selbst getragen hätten. Dafür gab es bezahlte Kofferträger und Sackkarren mit Rädern. Da hat Rürup recht. Schon im ersten Kapitel von Thomas Manns Zauberberg, den ich gerade mal wieder lese, erfahren wir, dass es natürlich nicht Hans Castorp ist, sondern der Concierge des Internationalen Sanatoriums »Berghof« – ein Mann im Livree mit Tressenmütze -, der den großen Koffer des neu ankommenden Gastes vom Bahnhof Davos Platz abholen muss, während davon unbelastet Hans Castorp zusammen mit seinem Vetter Joachim Ziemßen direkt mit dem Wagen zum Abendbrot fahren. Erst als die Kofferträger verschwanden, mussten die Leute ihr Gepäck selbst tragen und waren genötigt, auf Erleichterung zu sinnen.

    Keiner will mehr Koffer tragen

    Aber warum ausgerechnet 1972? Bert Rürups kühne These lautet: Das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit war auf dem Höhepunkt, es gab Vollbeschäftigung und die Arbeiter hatten bessere berufliche Alternativen als sich als Kofferträger zu verdingen: als Dienbstboten schuften und schlecht verdienen wollte keiner mehr.
    Auch Werner Plumpe, ein Wirtschaftshistoriker in Frankfurt, vermag über die Genderthese nur den Kopf zu schütteln. Innovationen erfolgen nicht aus funktionalen Gründen, sagt er. Also ob die Erfinder sich hinsetzen und darüber nachdenken, was jetzt gebraucht werde. Das sei von der Logik her ausgeschlossen, da man erst weiß, ob etwas funktioniert, wenn es das gibt. Der evolutionäre Weg der Innovation geht vielmehr so: versuchen, ausprobieren, bewähren, scheitern, bewahren, weiterentwickeln. Trial-and-Error eben. Höchstwahrscheinlich sei der Rollkoffer ein Phänomen des Massentourismus, vermutet Plumpe, während der ältere Tourismus mit großen Koffern eher ein Elitenphänomen war.

    Jetzt wird es grundsätzlich. Wann führen Innovationen zu einem Paradigmen- oder Pfadwechsel, wie die Ökonomen sagen. Tatsächlich hat man jahrelang und naheliegend versucht, das Material des Koffers leichter zu machen (Stoff statt schwerem Leder zum Beispiel) und die Griffe weicher und breiter zu gestalten, damit sie beim Tragen nicht die Hände einschneiden. Folgt man der Machismo-These wäre das ja schon der erste Schritt der Verweichlichung gewesen. Der Einfall mit den Rädern muss einem erst mal kommen. Und manchmal sind es gerade die simplen Dinge, die einem nicht kommen.

    Es sind Beharrungskräfte der Gewohnheit, die den Pfadwechsel erschweren. Schon in der ersten Energiekrise 1972 hätten die Menschen merken können, dass die Zukunft der fossilen Energie unsicher ist. Und schon damals konnte man in Kopenhagen ein »Null-Energiehaus« besichtigen, das mit Solar-Paneelen ausgerüstet war und gänzlich unabhängig von Öl, Gas oder Kohle beheizt und beleuchtet wurde. Warum hat man das damals nicht energisch weiterverfolgt? Weil der technische Fortschritt und der (deutsche) Autoingenieur auf Effizienzverbesserung des Verbrenners setzten und dabei unglaubliche Sparfortschritte erzielten. Das hat deutsche und japanische Autos im internationalen Wettbewerb schwer nach vorne gebracht. Zuletzt habe ich es mit einer einzigen Dieseltankfüllung meines Dreier-BMW von Ravenna bis Frankfurt geschafft. Und unglaublich billig war das, damals vor dem Ukraine-Krieg.

    E-Autos für Weicheier?

    Sie ahnen, was Katrine Marçal dazu sagt, warum es so lange gedauert hat, bis die Elektroautos ernsthaft zur Alternative für den Verbrenner geworden sind, obwohl die Elektrotechnik schon seit 1839 (!) bekannt ist. Auch daran sind selbstredend wir Männer schuld: Denn so ein Diesel oder Benziner röhrt richtig, wenn man aufs Gaspedal drückt. Das mag der Mann (ich habe mir sagen lassen, auch die ein oder andere Frau). Die Batterie im leisen E-Auto halten die Männer dagegen für weibisch und weichlich. Erst kommt die kulturelle Einstellung, dann kommt die Innovation. Also müssen wir die Einstellungen ändern, damit wir die richtigen Erfindungen kriegen. So schräg argumentiert die Gender-Theorie.

    Mir leuchtet die materialistische Alternative mehr ein: Erst das Verschwinden der Kofferträger und der Massentourismus verhalfen dem Rollkoffer zum Durchbruch. Und erst wenn E-Autos finanziell erschwinglich werden, ich damit von Ravenna nach Frankfurt fahren kann und überall Ladestationen stehen, werden Frauen und Männer aufs E-Auto umsteigen. Das wird im Übrigen erfolgreicher sein als ein politisches Verbrenner-Verbot. Und wenn die Männer am E-Auto den zünftigen Sound vermissen, kann man den als Extra hinzukaufen.

    Rainer Hank

  • 26. Oktober 2022
    Prinzipienreiterei

    Auf der Suche nach den seinen Prinzipien: Christian Lindner Foto Bundesfinanzministerium

    Dieser Artikel in der FAZ

    Ein Versuch, Christian Lindner zu verstehen

    Wenn eine Megakrise drohe, könne »Prinzipienreiterei« nicht die Lösung für ein Land sein, ließ Markus Söder unlängst verlauten. Ausgerechnet Söder. Das einzige Prinzip, dass der bayerische Ministerpräsident kennt, ist ein gefühlssicherer Populismus, der sich aus einem wetterwendigen Pragmatismus speist. In Bayern regiert das Prinzip der Prinzipienlosigkeit.

    Konkret ging es Söder um die Schuldenbremse und um die FDP, deren Vorsitzenden Christian Lindner er als einen starrsinnigen Prinzipienreiter denunziert. Was der Franke unterschlägt: Das Verbot, den Staat mit neuen Schulden zu finanzieren, ist nicht einfach der Starrsinn eines Dogmatikers. Sondern steht im Artikel 109 des deutschen Grundgesetzes, hat also Verfassungsrang. Offenbar gilt den Pragmatikern die Verfassung nur für langweilige Zeiten, immer dann, wenn gerade nichts los ist. Wenn aber Krise ist, heißt es: Not kennt kein Gebot. Jetzt machen wir Politik nach Tageslosung, will sagen: nach der Lautstärke, mit der unterschiedliche Wählergruppen ihr finanziellen Entlastungsforderungen vorbringen.

    Was sind Prinzipien wert, wenn sie ausgerechnet in der Krise nicht mehr gelten? Statt Prinzipienreiter zu diskreditieren, müsste man sie hofieren: Gerade jetzt soll man für seine Prinzipien kämpfen. Dass die Schuldenbremse es in die Verfassung geschafft hat, soll ja gerade verhindern, dass man sie bei jedem politischen Unwetter kassieren kann. Prinzipien, so der Duden, sind Regeln, die als Richtschnur des Handelns dienen. Das nimmt dem Handeln seine Beliebigkeit, und macht Kritik allererst möglich. Selbstverständlich kann man Prinzipien hinterfragen, ablehnen oder durch bessere Prinzipien ersetzen. Allemal haben wir sie nötig; ohne Prinzipien verdämmern alle Maßstäbe.

    Deshalb singe ich hier das Loblied der Prinzipienreiterei, durchgeführt und orchestriert am Beispiel der FDP in Zeiten der Krise.

    Was sind die Grundsätze des Liberalismus? Die FDP hat den Vorteil, dass sie sich auf die Tradition der europäischen Aufklärung als ihr normatives Fundament berufen kann. Deren Dreh- und Angelpunkt ist die Freiheit des Individuums. Der Staat ist eine davon abgeleitete Institution, deren erstes, einziges und letztes Ziel es ist, die Freiheit seiner Bürger gegen Feinde von außen und innen zu schützen, dafür zu sorgen, dass Minderheiten nicht von Mehrheiten unterdrückt werden, dass Regeln des Wettbewerbs fair sind und den besten Argumenten, den kreativsten Künsten und den originellsten Geschäftsideen zum Erfolg verhelfen. Marktwirtschaft ist, anders als staatliche Plan- oder Kriegswirtschaft, ein Arrangement, das die Freiheit der Bürger im höchsten Maße zur Entfaltung bringt. Die großen menschheitsbeglückenden Utopien scheut der Liberalismus ebenso wie die großen apokalyptischen Dystopien. Scheitern ist erlaubt und berechtigt zum Wiederaufstehen. Der Liberalismus ist universal. Alles Ständische verdampft, alles Heilige wird entweiht, um mit Marx und Engels zu sprechen.

    Liberale Prinzipien

    Freiheit ist ein Recht, aber auch eine Pflicht: Jeder Bürger hat zunächst einmal selbst für sich Verantwortung zu tragen. Nur dann, wenn er sich selbst nicht helfen kann, hat er Anspruch auf Hilfe vom Staat. Man nennt dies Subsidiarität. Die Schuldenbremse lässt sich gut aus diesem Prinzip ableiten, insofern eine Gesellschaft (genauso wie der Einzelne) ihre finanziellen Wünsche auf eigene und nicht auf die Rechnung künftiger Generationen nehmen muss.

    Ungefähr so könnte man die Prinzipien grob zusammenfassen, auf denen die FDP reiten müsste, will sie ihrem Programm gerecht werden. Tut sie es auch? Es gehört zur Tragik der Liberalen, dass sie häufig der Privilegierung einzelner Gruppen den Vorrang gaben vor den liberalen Prinzipen, die universal sind und nicht ständisch. Hoteliers oder Autofahrer finanziell zu entlasten, nennen wir Klientelpolitik, mithin das Gegenteil liberaler Prinzipienreiterei.

    Und wie steht es nun mit der Schuldenbremse? Christian Lindner, der FDP-Finanzminister, verschuldet sich (und uns) derzeit unter anderem mit 200 Milliarden Euro zur Energiepreisabrüstung und100 Milliarden zur militärischen Aufrüstung. Dafür errichtet er wenig transparente zweckgebundene Schattenhaushalte, um, wie er sagt, die Begehrlichkeiten seiner Kabinettskollegen in Schranken zu weisen. Nicht Prinzipienreiterei müsste man Christian Lindner vorwerfen, sondern, ganz im Gegenteil, dass er es mit seinen Prinzipien nicht so genau nimmt. Er rechtfertigt den Regelbruch als notwendig dafür, künftig die Prinzipien einhalten zu können – eine rhetorische, aber keine prinzipientreue Meisterleistung.

    Die Schuldenbremse ist im Übrigen nicht nur ein abstraktes Prinzip und nicht nur zum Schutz künftiger Generationen geboten, sondern aus ökonomischen Gründen zur Bekämpfung der Inflation dringend erforderlich: Die Zinspolitik der Notenbanken verliert ihre Wirkung, wenn sie durch eine aggressive Fiskalpolitik (»Entlasteritis«) konterkariert wird. Inflationsbekämpfung war in der Geschichte immer nur dann erfolgreich, wenn Geld- und Fiskalpolitik als Tandem aktiv wurde. Ausgabenfreudiger Pragmatismus hingegen führt ins Verderben.

    Die Lindner-FDP ist halbherzig

    Ihre Prinzipien verteidigt die FDP auch in der Energiepolitik nur halbherzig. Staatliche Eingriffe in den Markt (Atommeiler abschalten, Verbrenner verbieten, Gaspreise deckeln) müssten ihr eigentlich ein Horror sein. Atomstrom ist klimafreundlich, muss nicht bei Schurken gekauft werden und unterliegt bei der Produktion höchsten Sicherheitsvorschriften. Was spricht dagegen? Den mit Kanzlermachtwort durchgesetzten »Streckbetrieb« eines dritten AKWs schon als liberalen Erfolg zu feiern, ist arg bescheiden. Wenigstens der wackere Wolfgang K. lässt sich damit nicht abspeisen.

    Kurzum: Eine Schärfung ihrer Prinzipien würde der FDP in ihrer derzeitigen prekären Lage guttun. Es waren gerade die jungen Wähler, die der liberalen Partei ihren Einsatz für die Freiheit in Zeiten der Lockdown-Pandemie mit ihrer Stimme entlohnt haben. Sich auf Prinzipienreiterei zu berufen, könnte die FDP auch davor schützen, ständig mit ihrer »staatspolitischen Verantwortung« herumwedeln zu müssen. Die Berufung auf »staatspolitische Verantwortung« ist anmaßend und nichtssagend zugleich. Programmatische Prinzipienreiterei ist ehrlicher.

    Rainer Hank

  • 20. Oktober 2022
    Schießbudenfiguren

    Schießbude Foto Christian Lendl/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum Demokratie ohne Liberalismus barbarisch wird

    Die Demokratie als höchsten politischen Wert zu loben, ist, wenn nicht töricht, so zumindest fahrlässig. Ist nicht auch Victor Orban ein Demokrat? War nicht Hitler mithilfe der Demokratie an die Macht gekommen? Hatte etwa Donald Trump nicht die Mehrheit der amerikanischen Wähler hinter sich? Irgendwie müsste man es schaffen, die Demokratie vor ihrer Vereinnahmung zu schützen, mithin der unbeschränkten demokratischen Macht des Volkes Grenzen zu setzen. Die populistischen Demokratien von links (Venezuela) bis rechts (Ungarn et al.) sind ein Fluch.

    Die Demokratie durch das Gebot der Rechtstaatlichkeit zu zähmen, vermag einzig der Liberalismus. »Wenn der Liberalismus die Demokratie fordert, so nur unter der Voraussetzung, dass sie mit Begrenzungen und Sicherungen ausgestattet wird, die dafür sorgen, dass der Liberalismus nicht von der Demokratie verschlungen wird.« Denn die Populisten bekämpfen die liberale Demokratie, »um die illiberale Demokratie an ihre Stelle zu setzen.«. Victor Orban kaschiert das noch nicht einmal, wenn er seinen Staat bewusst zur »illiberale Demokratie« adelt. Es ist ein Staat, der Richter nach Gutdünken ab- oder einsetzt, Pressefreiheit mit Füßen tritt, Universitäten Maulkörbe verhängt – und das Volk bei alledem hinter sich weiß.

    Die Warnung vor dem Umkippen der liberalen in eine »illiberale Demokratie« ist ein Zitat des Ökonomen Wilhelm Röpke. Der Ideenhistoriker Jens Hacke sagt, Röpke habe die Formel überhaupt erst erfunden. Sie findet sich in einem »Epochenwende« überschriebenen Vortrag, den Röpke am 8. Februar 1933, wenige Tage nach Hitlers Machtergreifung, in Frankfurt hielt. Dieser Shooting Star der deutschen Nationalökonomie, geboren 1899, war mit 24 Jahren bereits zum Professor ernannt worden. Nach der Machtergreifung erhielt er umgehend Berufsverbot. Röpke fiel nicht unter die Hasskategorien Sozialist, Kommunist oder Jude. Vielmehr galt er den neuen Machthabern als unversöhnlicher Staatsfeind, weil er »ohne jeglichen Kompromiss für Liberalismus, Marktwirtschaft und individuelle Freiheit focht«, wie der Historiker Götz Aly schreibt. Dieser liberal-republikanische Widerstand kommt in der Geschichtsschreibung häufig zu kurz, wird gar verfälscht zur perfiden Gleichsetzung von Kapitalisten und Faschisten.

    Schlag nach bei Wilhelm Röpke

    Röpke, der liberale Marktwirtschaftler, geht in die Emigration, zunächst nach Istanbul, dann nach Genf. 1942 wird er von den Nazis ausgebürgert, weil er »extrem humanistisch-weltbürgerlich eingestellt« sei. Aus der Schweiz entwickelte er eine rege Publikationstätigkeit, in der frühen Bundesrepublik war er ein »public intellectuell«. Neben Walter Eucken ist Röpke der wohl wichtigste Kopf der Freiburger Schule der sozialen Marktwirtschaft (»Ordoliberalismus«), deren wirtschaftspolitische Praxis die Grundlage war für den raschen Wohlstandsgewinn der Menschen in Westdeutschland nach dem Krieg.

    Die Lektüre von Röpkes Epochenwende-Vortrag (abgedruckt in »Wirrnis und Wahrheit«, 1962) bringt zuhauf Aha-Erlebnisse. Schon der Titel zitiert avant la lettre Olaf Scholz› »Zeitenwende«, nimmt dem Schlagwort aber sein radikales Neuheitspathos. Immer verlängerten die Zeitgenossen ihre Gegenwart auf ewig in die Zukunft: Jene, die in der Hochkonjunktur nicht an ein Ende der guten Geschäfte glauben wollten, seien dieselben, die in der Krise kein Ende des Jammers für möglich hielten. Die Hysterien gleichen sich.
    Götz Aly hat recht: Es ist ein großes Vergnügen, Röpke zu lesen. Der Mann schreibt und spricht knapp, kraftvoll, kühl und bildhaft. Der Liberalismus sei inzwischen zu einer »Schießbudenfigur« geworden, auf die man nach Herzenslust schießen könne, findet Röpke. Die Schießbudenfigur der Liberalen, wie sie die deutschen Illiberalen – die Nazis -angefertigt haben sieht für Röpke so aus: »ein trockener Pedant, bis zum Knöchel im Großstadtasphalt versunken, ohne einen Glauben irgendwelcher Art und ein höheres Ideal als das des Geldverdienens, von liederlicher Gesinnung und Lebensführung – eine Mumie des 19. Jahrhunderts.« Die Karriere dieser Schießbudenfigur zum heutigen »Neoliberalen« ließe sich unschwer nachzeichnen. Als Sündenbock für alles, was einem nicht passt, taugt er bis heute.

    Der »wahre« Liberalismus, seine zivilisatorische Mission, sieht anders aus als sein neoliberales Zerrbild. Ihm geht es um »Toleranz, Denk-, Meinungs- und Preßfreiheit (sic!), Fair Play und Diskussion«. Das sind Errungenschaften der Aufklärung, die nach 1933 mit Füßen getreten wurden, die auch heute nicht nur in den illiberalen Demokratien von rechts verachtet werden, sondern auch in vielen sich »links« verstehenden Kreisen der identitätspolitischen Zensur verfallen: Zuwiderhandlungen stehen unter Strafe des Diskursverweises.

    Das Problem der Masse

    Für Röpke ist die Demokratie gerechtfertigt als Kind des individuellen bürgerlichen Liberalismus. Das ist das Gegenteil des kollektivistisch-plebejischen Populismus. Die liberale Demokratie zeichne sich dadurch aus, dass sie jeder Opposition die Aussicht eröffne, die regierende Gruppe in die Minorität zu bringen. Es geht um ein Spiel von Meinung und Gegenmeinung. Es ist mithin das ökonomische Prinzip des Wettbewerbs, das als Entmachtungsinstrument die Demokratie erst lebendig werden lässt. Ein fairer Wettbewerb ist das Gegenteil der autoritären Entmachtung jeglicher Opposition durch politische Autokraten oder des identitätspolitischen Meinungsterrors. Die populistische Demokratie endet im »Servilismus«, einer der Unterwürfigkeit der Menschen unter staatliche oder meinungsmäßige Verhaltensvorschriften. Aus dem Servilismus, so Röpke, erwüchsen Totalitarismus und Nationalismus – »mit blindwütigem Hass alles Fremden«. Brutalismus schließlich schlägt am Ende um in Barbarei. Die »illiberale Demokratie« legt Wert auf Legitimation durch das Volk (»die Masse«). Zugleich bekämpft sie die aufklärerische Ideen der (Wirtschafts)freiheit, der Vernunft und der Humanität.

    Röpkes Plädoyer für die liberale Demokratie reiht sich ein in zwei andere Reden aus den frühen Dreißigerjahren, an die ich in den beiden vorhergegangenen Kolumnen erinnert habe: Thomas Manns flammendes Plädoyer für den »Zukünftigen Sieg der Demokratie« (1938) und seine Aufforderung die Demokratie »militant« zu verteidigen. Und Theodor Roosevelts große Rede zur Amtseinführung 1933 als Präsident der USA am 4. März 1933, die mit dem berühmten Satz beginnt, das Einzige, was die Menschen zu fürchten hätten, sei die Furcht selbst. Lasst euch nicht von der Angst niederzwingen! Alle drei Reden empfehle ich heute als Wegzehrung in Zeiten der Bedrohung durch die grassierende Illiberalität.

    Rainer Hank