Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 09. August 2022
    Verhätschelte Arbeitnehmer

    Yoga für jeden Arbeitnehmer? Foto Dylan Gillies/unspash

    Dieser Artikel in der FAZ

    Homeoffice auf Bali, Achtsamkeit im Büro

    Neulich auf einer Party. Viele Personaler waren da. Es gab es (fast) nur ein Thema: Wer hat wie lange Anrecht auf Homeoffice? Und kann ein Homeoffice auch bei den Eltern in Griechenland, dem Surflehrer am Gardasee oder artverwandten Aussteigern auf Bali durchgehen?

    Heerscharen von Juristen bei Arbeitgebern und Gewerkschaften tüfteln derzeit Betriebsvereinbarungen aus, welche die Bedürfnisse der Belegschaften und des Betriebs mit den Fallstricken des Arbeits- und Steuerrechts in Griechenland, Italien oder Indonesien unter einen Hut bringen müssen.

    Das Büro, wie wir es kennen, wird es künftig nicht mehr geben. Arbeitnehmer sind in bestimmten Grenzen frei zu wählen, wo sie arbeiten. Arbeitgeber freuen sich, dass sie teure Office-Mieten und kriegs- und inflationsbedingt steigende Heizkosten sparen – eine Win-Win-Situation.

    Die neue Fürsorglichkeit der Unternehmen für ihre Mitarbeiter hat viele Gründe: Corona hat die Einstellung zum Arbeitsplatz nachhaltig verändert. Der exklusive Schreibtisch für jeden (früher gerne mit Grünpflanze und den Porträtfotos der Liebsten) ist Vergangenheit. Mit Smartphone und Laptop gerüstet, lässt es sich nachgerade überall auf der Welt komfortabel arbeiten. Mehr und mehr kommen die Begriffe Dienstreise und Dienstsitz außer Mode, weil der Ort keine Rolle spielt. Gut, eine Arbeitsnomadenexistenz passt weder auf den Gemüsehändler um die Ecke noch auf die Richterin am Oberlandesgericht oder den Mechatroniker bei Porsche. Aber auf die vielen Leute im mittleren oder Top-Management der allermeisten Branchen passt es schon: Sie mutieren zu globalen Streunern, die ihre Arbeit dort erledigen, wo familiäre Bedürfnisse und individuelle Vorlieben am besten harmonieren.

    Firmen müssen mehr bieten als gute Bezahlung

    Wenn Arbeitskräfte knapp sind, müssen die Firmen im Wettbewerb um gutes Personal mehr bieten als nur eine gute Bezahlung. Was man früher »fringe benefits« genannt hat, Nebenleistungen, mausert mehr und mehr zum entscheidenden Argument für Bewerber, ob sie eine Jobofferte annehmen oder nach einer besseren Alternative suchen.
    Dass die Firmen das alles aus purem Stakeholder-Altruismus machen, ist kaum anzunehmen. »The business of business is business«, so lautet die immer noch gültige Doktrin des amerikanischen Ökonomen Milton Friedman. Zufriedene Arbeitnehmer sind auch produktive Arbeitnehmer, so könnte man die Doktrin übersetzen. Empathie sollte niemand mit selbstlosem Mitgefühl verwechseln. Ein ambitioniertes Unternehmen sucht sich die besten Leute und bietet ihnen dafür die besten Bedingungen. In den siebziger Jahren hätten wir die neumodische Hätschelei als perfiden, jedoch systemimmanenten Übergriff des kapitalistischen Systems auf die Menschen zu decouvrieren gesucht. Oder so ähnlich.

    Wirklich neu ist das gerade nicht. Es wandelt sich lediglich der Charakter der Wohltaten. In meiner Heimatstadt Stuttgart gab es noch in den siebziger Jahren das »Postdörfle«. In bester Stadtlage, ganz nahe am Hauptbahnhof, stand seit dem späten 19. Jahrhundert diese Arbeitersiedlung für »niedere« Post- und Eisenbahnbedienstete. Heute würde man das als eine Art Ghettoisierung kritisch sehen. Ich denke, damals fand man es eher schön, nah mit den Kollegen und ihren Familien zusammen zu leben. Angesichts hoher Mieten könnten solche Werkswohnungen – die es bei VW in Wolfsburg und BASF in Ludwigshafen bis heute gibt – wieder Konjunktur bekommen: Die Deutsche Bahn bietet ihren Beschäftigten in München jetzt Wohnungen an zu Mieten, die unter dem Marktpreis liegen.

    Dabei erstreckt sich die Fürsorge der Firmen auch auf das psychische und physische Wohlergehen ihrer Mitarbeiter. Gesundheit geht vor in einer Welt der körperlichen und seelischen Perfektionierung. Psychische Probleme zu thematisieren, galt lange Zeit als Tabu, war gekoppelt an die Angst vor Stigmatisierung oder gar Kündigung. Inzwischen bieten die Unternehmen freigiebig Therapien bei Depressionen oder Burnout an. Bei vielen Unternehmen ist die Achtsamkeitsapp »Headspace« beliebt. Deren Motto lautet »Be kind to your mind«, sehr frei übersetzt mit »Brillante Ideen entstehen nur im entspannten Körper«. EAP – ausgeschrieben »Employees Assistant Program« – ist ein in Amerika erfundenes Konzept der therapeutischen Fürsorge, bei dem der Arbeitgeber ein Gesundheitsunternehmen dafür bezahlt, dass die Beschäftigten das Recht auf eine bestimmte Anzahl von Therapiestunden bekommen, ohne dafür dem Arbeitgeber Rechenschaft zu schulden oder ihn auch nur davon informieren müssen. Eigene Sport- und Fitnessanlagen (oder aber ein Discount beim Besuch eines Fitnessstudios), kostenloses Kantinenessen auf Gourmetniveau mit angeschlossenem Tischfußball bieten Firmen schon seit der Jahrtausendwende (»New Economy«). Björn Borg, ein Sportartikelhersteller, brüstet sich, man habe es mit solchen Angeboten geschafft, das biologische Alter der Belegschaft auf 27 Jahre zu drücken, während der »wirkliche« Altersdurchschnitt bei 32 Jahren liege.

    Auf dem Weg zum »Nanny Employer«

    Immer mehr Rücksicht nimmt der Arbeitgeber auch auf die familiären Belastungen und wiederkehrenden körperlichen Beschwerden. Kranke Kinder oder pflegebedürftige Angehörige haben Vorrang vor der Arbeitspflicht. Seit Spanien vor kurzem den Menstruationsurlaub eingeführt hat, fordern viele so etwas auch hier. Konsequent diskutiert Großbritannien jetzt über ein Recht auf bezahlten Urlaub für Frauen während der Menopause.

    »Do we want a nanny employer?«, hat die Financial Times kürzlich gefragt: Soll der Betrieb Kindermädchen für seine Mitarbeiter spielen? »Kindermädchen« klingt pejorativ. Es ist eine Analogie zum Nanny Staat, einem Wohlfahrtsstaat, der sich anmaßt, für das Glück seiner Bürger zuständig sein zu wollen. Doch die Analogie ist schief. Der Staat muss sich mehr zurücknehmen als eine Firma. Dem Staat kann sich kein Bürger entziehen, wenn er dessen Beglückungsoffensive ablehnt, es sei denn durch Auswanderung. Das Achtsamkeits-, Yoga- oder Fitnessprogramm meiner Firma kann ich ignorieren. Wird es zu penetrant, kann ich mir ein Unternehmen suchen, welches weniger Arbeitnehmerbeglückung anbietet, dafür dann aber hoffentlich eine bessere Bezahlung nach Leistung.

    Mehr Geld satt Betüddeln, das finde ich persönlich die überzeugendere, weil liberale Lösung. Der Betrieb soll mich gut bezahlen. Dann steht es mir frei, mit diesem Geld nach meinem Geschmack, Achtsamkeit zu pflegen und mir eine schöne Wohnung zu leisten. Aber okay, wenn Arbeitnehmer und Arbeitgeber lieber auf die neuen »fringe benefits« stehen, wer will es ihnen verwehren.

    Rainer Hank

  • 09. August 2022
    Franz von Assisi und die Biontech-Gründer

    Franz von Assisi (1181 bis 1226) Foto katholisch.de

    Dieser Artikel in der FAZ

    Ohne die Reichen wäre unsere Welt ärmer und töter

    Reichenkritik ist nichts Neues. Gelangweilt lümmelt die Generation der Erben auf ihren Yachten, in ihren Porsches und Privatflugzeugen, unschlüssig was sie als Nächstes mit ihrem vielen Geld anstellen könnte. Jetzt hätten die Multimillionäre die Insel Sylt gekapert, berichtet der »Spiegel« exklusiv. Ich bin gespannt, was die Kerle sich noch so alles einfallen lassen.

    Reichenkritik aus dem Munde von Reichen, ist ebenfalls nicht neu. Das gilt als besonders glaubwürdig und moralisch vorbildlich. Marlene Engelhorn (29), Erbin des BASF-Gründers Friedrich Engelhorn, hat kürzlich angekündigt, sie werde auf das zweistellige Millionenerbe verzichten, das sie zu erwarten hat: »Mich beschäftigt, mit welcher Selbstverständlichkeit ich so viel Geld bekomme, obwohl ich dafür nichts getan habe. Ich hatte Geburtenglück.« Daraus leitet Frau Engelhorn eine generelle Kritik der Milliardärsgesellschaft ab: Die oberen fünf Prozent könnten einfach den Hals nicht voll bekommen. Das findet die Erbin verwerflich und gefährlich, denn wer vermögend ist, könne sich politische Macht kaufen.

    Alles nicht neu, wie gesagt. Ähnlich wie Frau Engelhorn hat auch Franz von Assisi, Sohn eines reichen italienischen Kaufmanns, im Frühjahr des Jahres 1207 sich verhalten. Nachdem ihm Christus erschienen war, riss er sich vor aller Öffentlichkeit auf dem Domplatz von Assisi alle Kleider vom Leib, sagte sich vom Vater los und verzichtete mit dieser spektakulären Geste auf sein Geburtenglück: »Behalte Dein Geld!«

    Was ist eigentlich mit den Eltern von Franziskus?

    Franziskus wurde für sein Leben in Armut heiliggesprochen. Mir tun, seit ich diese Geschichte zum ersten Mal gehört habe, seine Eltern leid, die in der Geschichte schlecht wegkommen. Dabei wäre die Welt arm dran, hätte sie nicht Männer und Frauen gehabt wie diese wohlhabenden Tuchhändler Pietro und Giovanna di Bernardone aus Assisi. Kaufleute wie dieses Paar des späten Mittelalters waren es, die über Jahrhunderte den Wohlstand der Nationen geschaffen und dafür gesorgt haben, dass es den Armen immer besser geht. Bettelmönche des Franziskanerordens können nur erbetteln, was andere erworben oder geschaffen haben und abgeben können. Ohne Reiche gäbe es keine Bettler. Es waren Unternehmer wie die Vorfahren der Marlene Engelhorn (BASF und Boehringer Mannheim), die die Chemie- und Pharmaindustrie in Deutschland groß gemacht und vielen Menschen sichere Arbeitsplätze verschafft haben. Und die dafür ihren Lohn – genannt Gewinn – verdient haben.

    Engelhorn-Enkelin Marlene will eine »Reichtumsgrenze« einführen mit dem Ziel einer egalitären Gesellschaft: In einer Demokratie müssten Vermögen und Macht gleich verteilt sein, sagt sie. Das wäre nichts anderes als ein Programm zur kollektiven Verarmung der Menschheit. Und mehr Menschen müssten sterben.

    Mehr Menschen müssten sterben? So ist es. Zum Beleg nehme ich die Erfindung des Corona-Impfstoffs. Schon am 24. Januar 2020, als man hierzulande Corona noch für eine chinesische Angelegenheit hielt, startete das Biontech-Gründerehepaar Ugur Sahin und Özlem Türeci mit der Entwicklung eines Impfstoffs. Wettbewerb und die Hoffnung auf Gewinn sorgten dafür, dass in der ganzen Welt an Vakzinen geforscht wurde. Am 8. Dezember 2020, bereits ein Jahr nachdem das fürchterliche Virus in die Welt kam, konnte mit den Impfungen begonnen werden – ein Riesenerfolg, macht man sich klar, wie viele klinischen Studien und aufwändige Zulassungsverfahren in der Pharmaindustrie erforderlich sind, bis ein Impfstoff auf den Markt kommen darf.

    Das »Imperial College« in London hat jetzt den Erfolg des ersten Jahres der Corona-Impfungen bilanziert. Das Ergebnis ist spektakulär. Heute sind rund Zweidrittel der Weltbevölkerung zumindest einmal geimpft. Das hat das Risiko schwerer Symptome reduziert und Millionen Todesfälle verhindert.

    Corona-Impfstoff rettet das Leben von 20 Millionen Menschen

    Impfungen sind Lebensretter. Die Forscher am »Imperial College« schätzen, dass 20 Millionen mehr Menschen allein im ersten Jahr der Impfung an oder mit Corona gestorben wären, hätte es den Impfstoff nicht gegeben. Ohne Impfstoff hätten bei ansonsten gleichen Bedingungen der Verbreitung des Virus, seiner Mutationen und Übertragungsgeschwindigkeit 31,4 Millionen Menschen ihr Leben lassen müssen. Mit Biontech & Co. waren es »lediglich« 11,6 Millionen Corona-Tote. 19,8 Millionen Menschenleben wurden gerettet. Das ist eine Reduktion der Sterbezahlen um 63 Prozent.

    Anders als oft behauptet rettet der Covid-Impfstoff nicht nur die Leben der Menschen in den reichen Ländern. Auch das kann man in der Studie aus London nachlesen. 7,5 Millionen weniger Tote gab es allein in den armen Ländern, die über das sogenannte Covax-Programm von der Weltgesundheitsorganisation WHO aufgelegt und von den reichen Ländern (großzügig auch aus Deutschland) finanziert wurden. Reiche und Arme profitieren gleichermaßen vom Impfstoff. Anders als auch von Frau Engelhorn behauptet, basiert gerade Biontech nur in geringem Umfang auf staatlicher Anschubfinanzierung. Gäbe es die beiden mutigen Gründer nicht, die im rechten Moment die gute Idee hatten, würden heute Millionen Menschen weniger auf der Welt leben. Lob und Preis verdienen nicht zuletzt die Biontech-Investoren, die beiden Strüngmann-Brüder, Milliardäre, die schon früh mit Millionenbeträgen auf Sahin und Türeci gesetzt haben bei vollem finanziellem Risiko. Nicht vergessen sollte man, dass all die Biontech-Gewinne versteuert werden und allein die gezahlten Gewerbesteuern dazu führten, dass sich die hoch verschuldete Stadt Mainz, Sitz von Biontech, auf einen Schlag entschulden konnte.

    Die Geschichte geht weiter. Derzeit sind rund 400 Corona-Impfstoffe der nächsten Generation in unterschiedlichen Stadien der klinischen Erprobung. Sie können uns vor möglichen neuen Mutationen schützen, verbessern den Umfang der Immunantwort und sie helfen mit, dass auch in den armen Ländern bald eine noch höhere Impfquote erreicht wird.

    Kann mir jemand sagen, warum angesichts dieser großartigen Erfolge der Pharmaindustrie gerade diese Branche weltweit einen besonders miserablen Ruf genießt? Es kann nicht nur am Missbrauch der Opioide liegen. Kann mir jemand sagen, warum – gefühlt – die Branche der Reichenkritiker zunimmt (siehe Sylt!), die Gruppe der Reichenfreunde hingegen eine schrumpfende Minderheit bleibt? Es kann nicht nur am Neid liegen, einem zumeist destruktiv wirkenden menschlichen Gefühl. Jeder ist frei, mit seinem Vermögen zu machen, was er oder sie will. So wie Franz von Assisi und Marlene Engelhorn. Wenn sie daraus aber den Anspruch ableiten, Gewinne »demokratisch« zu enteignen, dann sollte sich dagegen lauter Protest erheben: Aus Sorge für die Armen.

    Rainer Hank

  • 25. Juli 2022
    Nachhilfe für die EZB II

    Die Präsidentin: Christine Lagarde Foto: ECB

    Dieser Artikel in der FAZ

    Für den »Zusammenhalt der Eurozone« ist die Notenbank nicht zuständig

    Die Europäische Zentralbank (EZB) soll dafür sorgen, dass der Wert des Geldes im Euroraum stabil bleibt. Inflation bringt alles aus dem Lot und ist extrem ungerecht. Werden – wie derzeit – Energie, Lebensmittel und vieles andere teurer, muss eine Zentralbank gegensteuern.

    Wie Zinsen und Inflation genau zusammenhängen, darüber habe ich am vergangenen Sonntag geschrieben. Jetzt hat die EZB nach einer langen Phrase der Null- oder Negativzinsen ihren Leitzins um 0,5 Prozentpunkte angehoben. Viel zu spät, sagen viele – blickt man auf die Teuerung in der EU, die im Juni bei 8,6 Prozent lag (und in Estland und Litauen bei 20 Prozent). Das Inflationsziel der EZB lautet »zwei Prozent«.

    Warum erhöht die EZB die Zinsen so zögerlich? Es könnte daran liegen, dass die Notenbanker die hoch verschuldeten Staaten Südeuropas im Blick haben (Italien liegt derzeit bei 150 Prozent Schulden bezogen auf das Bruttosozialprodukt), die eine Verteuerung des Schuldendienstes belasten würde. Schon jetzt gehen die Zinsen auseinander, die von den Anlegern für italienische Staatsanleihen gefordert werden im Vergleich zu einer deutschen Bundesanleihe. Unter dem sperrigen Namen »Anti-Fragmentierungsinstrument« glaubt sich die EZB dazu ermächtigt, am Sekundärmarkt (also bei normalen Geschäftsbanken) Anleihen eines Hochzinslandes kaufen zu können, damit die Zinsdifferenz zwischen den Staaten der Eurozone nicht zu groß wird und der »Zusammenhalt in der Eurozone« nicht in Gefahr gerät.

    Darf sie das? Nein, – habe ich in der vergangenen Woche geschrieben. Der »Zusammenhalt der Eurozone« gehe die EZB nichts an. Das hat mir scharfen Protest der EZB eingebracht. Auf Twitter schreibt der EZB-Sprecher: »Dass die EZB nicht für den Zusammenhalt der Eurozone zuständig sein soll, scheint mir eine grenzwertige Rechtsauffassung zu sein. Die EZB muss Geldpolitik für die Eurozone als Ganzes machen. Wäre ihr das egal, könnte sie willkürlich Politik nur mit Blick auf Deutschland oder auf Italien oder auf die baltischen Staaten machen.«

    Eine »grenzwertige Rechtsauffassung«?

    Eine »grenzwertige Rechtsauffassung«? Starker Tobak. Dass die EZB, ein wichtiger Mitspieler im Diskurs, sich anmaßt, ihrerseits die Grenzen des Diskurses zu definieren, irritiert mich. Der Bank scheint die Debatte unangenehm zu sein und stellt Verbotstafeln auf.

    Ich habe mich bei einer Reihe von Rechtsgelehrten schlau gemacht, ob meine Rechtsauffassung »grenzwertig« sei und wurde beruhigt. Zwar sagen die einen so, die anderen so, wie das bei Juristen Usus ist; »Grenzwertigkeit« hat mir keiner vorgeworfen.

    Fangen wir mit dem Gesetz an. In Artikel 127 Absatz 1 des »Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union« (AEUV) heißt es: »Das vorrangige Ziel des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten. Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union.«

    Die Geldpolitik muss sich auf die gesamte Eurozone beziehen, darf nicht willkürlich zwischen Italien, Deutschland oder den baltischen Staaten unterscheiden, sagt die EZB. Das habe ich nicht bestritten. Aber heißt »Geldpolitik für die Eurozone als Ganzes« auch, dass die Renditen der Marktzinsen homogen sein müssen?

    Davon lese ich im Gesetz nichts. »Vorrangig« gehe es um Preisstabilität. Es geht also nicht um möglichst viele Jobs, es geht auch nicht um Klima- und Umweltpolitik, obwohl viele in der EZB mit einer solchen grünen Geldpolitik liebäugeln. Es geht um die Eindämmung der Inflation auf zwei Prozent. In der Tradition der deutschen Ordnungsökonomik und der Bundesbank, die dem Gründungsakt der EZB Pate standen, heißt das: Jeder wirtschaftspolitische Akteur soll die Aufgabe erfüllen, die er am besten erledigen kann. Das gelingt am ehesten, wenn mit einem Instrument – hier der Geldpolitik – nicht mehrere Ziele erreicht werden sollen. Von »Schutz des Zusammenhalts der Eurozone« steht jedenfalls nichts im Gesetz.

    Die dehnungsoffene Formulierung im Gesetz heißt, die EZB »unterstützt die allgemeine Wirtschaftspolitik«. Die Notenbanker selbst legen diese Wendung spätestens seit 2012 sehr weit aus. Sie wollen Entwicklungen verhindern, die dazu führen, dass ein Mitgliedsstaat faktisch zum Austritt gezwungen wird. Wenn Spekulanten an den Finanzmärkten einzelne Staaten mit »ungerechtfertigt und unkontrolliert« hohen Zinsen strangulieren und in die Pleite treiben, soll die EZB gegensteuern. Der EZB wohlgesinnte Rechtsgelehrte sprechen von einem »Homogenitätskriterium«.

    Was ist ein »angemessener Zins«?

    Ich halte das Argument für nachgeschoben. Die Homogenitätsanforderung würde bedeuten, dass die EZB abweichend von der Marktpreisbildung einen »angemessenen Zins« festlegt. Das ist eine Anmaßung. Denn der Zins eines Landes hängt von Fundamentaldaten ab, die ihrerseits auf unterschiedlichen politischen Entscheidungen beruhen (Haushalts- und Sozialpolitik). Über ein privilegiertes Wissen zur Scheidung fundamentaler und spekulativer Zinsbestandteile verfügt die EZB nicht.
    »Unabhängigkeit« der EZB bedeutet nicht Beliebigkeit. Fehlende demokratischer Fremdbestimmung (kein Parlament kann Frau Lagarde absetzen) bezieht sich strikt auf die Erfüllung des gesetzlichen Auftrags der Notenbank: Geldwertstabilität garantieren. Je größer die Unabhängigkeit einer Institution von demokratischer Kontrolle, umso enger muss sie ihr Mandat auslegen. Leider hat die EZB sich seit der Eurokrise angewöhnt, ihr Mandat sehr zu dehnen.

    Es ist nicht Aufgabe der EZB, mit der süßen Droge billigen Geldes in demokratische Prozesse einzugreifen. Wenn Cinque Stelle oder die Lega in Italien aus dem Euro rauswollen und darüber eine Mehrheit zustande bringen, ist dies das Recht eines souveränen Staates. Die EZB hat sich nicht zum Richter über die Wirtschafts- und Finanzpolitik ihrer Mitglieder aufzuschwingen. Es gab einmal – während der Eurokrise – die Situation, dass Griechenland sich gegen Reformen wehrte und der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble über einen Rauswurf des Landes nachdenken ließ. Hätte die EZB dann unabhängig von Willen und Handeln der politischen Akteure den Zusammenhalt organisieren sollen? Ein absurder Gedanke.

    Ob der Zusammenhalt der Eurozone eher durch die Homogenität der Schuldzinsen oder durch eine strikte Beschränkung des Mandats und die Achtung der Stabilität des Rechts garantiert wird, darüber kann man geteilter Meinung sein. Ich habe mich für letzteres entschieden und dafür gute, keine grenzwertigen Gründe genannt.

    Rainer Hank

  • 25. Juli 2022
    Nachhilfe für die EZB I

    Die EZB im Winter Foto: European Central Bank

    Dieser Artikel in der FAZ

    Was die Zentralbank tun müsste, aber nicht tut

    Eine gute Bekannte, Strafverteidigerin in einer renommierten Berliner Kanzlei, gab mir einen Arbeitsauftrag mit auf den Weg: Sie habe nie verstanden, was die Zinsen der Zentralbank mit der Inflation zu tun hätten. Das möge ich ihr und allen, denen es ähnlich gehe, doch einmal erklären.

    Früher, also vor ganz langer Zeit, hätte ein Wirtschaftsjournalist so eine Frage mit gehöriger Arroganz beantwortet: wer die Anfangsgründe der Geldpolitik nicht verstehe, sei es auch nicht wert, die FAZ zu lesen. Das geht heute nicht mehr: Die Leserin ist Königin, ihr Wunsch ist uns Befehl. Und seien wir ehrlich: Ist es nicht kontraintuitiv zu sagen, wenn Frau Lagarde die Zinsen der Eurozone um 0,25 Prozent anhebt, würden im Gegenzug bei unserem Bäcker die Brötchen nicht mehr teurer werden?

    Bei einer Inflation nimmt die Kaufkraft des Geldes ab. Für meinen Stadtrucksack, der heute 100 Euro kostet, müsste ich bei fünf Prozent Inflation im nächsten Jahr 105 Euro zahlen; in fünf Jahren dann schon 128 Euro. An der Qualität des Rucksacks hat sich nichts verbessert. Empfänger von Löhnen, Renten oder Sozialleistungen haben das Nachsehen. Denn ihre Einkommen bleiben trotz Inflation (zunächst) gleich, was dazu führt, dass die Menschen sich von ihrem Geld weniger leisten können, obwohl sie mit ihrer Arbeit das Gleiche leisten. Inflation ist zutiefst ungerecht: Die Ersparnisse auf dem Konto schrumpfen, die Schulden auf der anderen Seite auch. Warum werden die Schuldner belohnt, die Sparer aber bestraft? Der ehemalige US-Präsident Gerald Ford nannte die Inflation den »public enemy number one«.

    Lange Zeit spielte Inflation bei uns keine Rolle mehr. Das ändert sich jetzt: Die Menschen rechnen wieder mit der Inflation. Das ist rational und gefährlich zugleich: Liegt die Inflationserwartung bei, sagen wir, sechs Prozent, werden die Gewerkschaften acht Prozent mehr Lohn fordern, um wenigstens »real« zwei Prozent mehr im Geldbeutel zu haben. In Zeiten wie diesen, in denen Arbeitskräfte knapp sind, gibt es gute Chancen, dass sie sich durchsetzen. Das erhöht die Kosten der Unternehmen, die versuchen werden, diese Kosten auf die Preise ihrer Produkte zu überwälzen. So werden die Inflationserwartungen selbst zum Treiber der Inflation (»Lohn-Preisspirale«). Am besten ist es deshalb, wenn die Inflation öffentlich kein Thema ist; dann gibt es sie auch nicht. Einmal in der Welt, wird man sie hingegen schwer wieder los.

    Stabile Preise sind das A und O

    Was kann die Zentralbank tun, um die Preise zu stabilisieren? Sie kann zum Beispiel den Leitzins erhöhen. Das ist jener Zinssatz, zu dem sich die Banken bei der Zentralbank Geld leihen oder anlegen können, somit ein Preis für das Geld, das die Banken wiederum anderen zur Verfügung stellen können. Der Leitzins wiederum hat Auswirkungen auf die Bau-, Kredit- und Sparzinsen, also auf das Verhalten von Bürger und Unternehmen. Vereinfacht gesagt, beeinflussen die Zinsen die Kreditvergabe und das Sparverhalten. Steigen die Zinsen, wird es für die Unternehmen weniger attraktiv zu investieren, denn die Finanzierungskosten erhöhen sich. Für die Bürger lohnt es sich wieder, mehr zu sparen. Sie geben weniger Geld aus; für die Unternehmen wird es schwieriger, Preise zu erhöhen. Eine Zinserhöhung dämpft also auf der Nachfrage- und Angebotsseite die Dynamik des wirtschaftlichen Wachstums. Das ist gewünscht, weil es die Inflation drosselt – im besten Fall wieder auf das Stabilitätsziel der Europäischen Zentralbank von zwei Prozent. Auf Null Prozent soll die Inflation nicht sinken (obwohl erst das im Wortsinn das Ende der Teuerung wäre). Doch die Statistik neigt zur Überschätzung der Preissteigerungen und auch die Gefahr einer Deflation wäre zu nah. Sinkende Preise können sich nämlich verselbständigen mit hohen wirtschaftlichen Kosten und begrenzten Einflussmöglichkeiten der Zentralbank.

    Dürfen wir uns jetzt also endlich wieder auf Zinsen auf dem Sparkonto freuen, wie die Bild-Zeitung jubelt? Vorsicht! Dafür muss man sich den Unterschied zwischen Real- und Nominalzins vor Augen führen. In den letzten Jahren gab es null (oder gar leicht negative) Zinsen. Bei, sagen wir, einem Prozent Inflation schrumpft das Ersparte jährlich um ein Prozent. Sollte die EZB in diesem Jahr die Zinsen in zwei Schritten um insgesamt 0,5 Prozent anheben, und sollte die Teuerung 7,6 Prozent betragen (so die jüngste Prognose der EU-Kommission), so schrumpft unser Sparvermögen um 7,2 Prozent, also deutlich stärker als in den »schlimmen« Zeiten der Null-Zinspolitik.

    Dann müsste die EZB also die Zinsen stärker erhöhen und hätte damit schon längst beginnen müssen. So ist es. Warum tut sie das nicht? Sie sagt, sie wolle die Konjunktur nicht abrupt abwürgen. Das Argument sollte man ihr allenfalls zur Hälfte durchgehen lassen. Der frühere Bundesbank-Präsident Jens Weidmann (schade, dass er demissioniert hat) hat in seinem Vortrag über »Die Ära der Unsicherheit«, den ich vergangene Woche erwähnt habe, die Gefahren einer allzu zögerlichen Geldpolitik beschrieben. Je länger die Geldpolitiker die Inflation laufen lassen, umso schlimmer wird die Wirtschaft später einbrechen: »Und die EZB läuft am Ende Gefahr, ihre Glaubwürdigkeit zu verspielen«, so Weidmann.

    Der Zusammenhalt der Eurozone geht die EZB nichts an

    Die EZB hat die Inflation lange verschlafen. Sie fühlt sich nicht nur für die Geldwertstabilität zuständig, sondern auch für den Zusammenhalt der Eurozone (was sie nichts angeht). Würde sie die Zinsen stärker erhöhen, stiegen auch die Finanzierungskosten (die Renditen, sprich Schuldzinsen) der hochverschuldeten Staaten (Italien liegt derzeit bei rund 150 Prozent des Bruttosozialprodukts). Am Ende droht diesen Staaten die Zahlungsunfähigkeit, was rechts- und linkspopulistischen Parteien Aufwind gäbe. Aber ist es Aufgabe der EZB, demokratische Prozesse zu steuern? Ihr Mandat gibt das nicht her. Eigentlich müsste sie sich mit aller Gewalt gegen ihre Politisierung stemmen.

    Umgekehrt ist es nicht Aufgabe des Staates, Maßnahmen gegen die Inflation zu ergreifen. Die von Kanzler Olaf Scholz ausgerufene »konzertierte Aktion« ist nicht nur ein untaugliches, sondern auch ein überflüssiges Mittel. Stattdessen müsste der Kanzler all jene, die sich jetzt über die Teuerung empören, an die EZB-Chefin Christine Lagarde verweisen. Von der EZB muss Entlastung für die darbenden Bürger kommen, nicht von einer »konzertierten Aktion«. Wobei es der Regierung unbenommen ist, die sozialen Folgen der Inflation abzufedern, wenn sie meint, dies tun zu müssen. Gegen die Inflation selbst ist eine Regierung machtlos.
    Noch Fragen zum Zusammenhang von Inflation und Zinsen, Frau Strafverteidigerin?

    Rainer Hank

  • 14. Juli 2022
    Zeitenwende 1972

    Abitur72 Dillmann-Gymnasium Stuttgart Foto privat

    Dieser Artikel in der FAZ

    Sind die guten Jahre jetzt vorbei?

    Im Frühjahr 1972, also vor genau 50 Jahren, hielt ich mein Abiturzeugnis in der Hand. An diesem Juli-Wochenende 2022 trifft sich unsere Klasse in Stuttgart. Auftakt ist in der alten Schule (inzwischen viel schicker geworden mit Aula, Schwimmbad und Spanisch im Angebot), anschließend Führung durch die Stadt (die ist auch schicker geworden, zum Glück hat man den scheußlichen Kleinen Schloßplatz weggesprengt) und anschließender Feier im Gasthaus (mit Maultaschen und so). Wie man das halt macht, mit ein bisschen Bangnis im Voraus, ob man noch alle kennt und sich noch etwas zu sagen hat.

    Unsere Gefühle waren damals nicht viel anders als die der Abiturienten von heute: Die Welt steht offen, das Leben darf in vollen Zügen gelebt werden. Was wir nicht gemerkt haben: Das Jahr 1972 markiert eine, wenn nicht die entscheidende Zäsur der Nachkriegsgeschichte. Die »goldenen Jahre« gingen zu Ende; das Wirtschaftswunder verabschiedete sich – nicht nur hierzulande, sondern in der gesamten westlichen Welt. Hätten wir es bemerkt, wir hätten uns in unseren Zukunftsoptimismus kaum irritieren lassen. Aber als Zeitgenosse ist man ohnehin ein schlechter Deuter seiner Gegenwart. Das können die Historiker hinterher besser. Die Eule der Minerva beginnt erst mit einbrechender Dämmerung ihren Flug, wie man zu sagen pflegt.

    Der amerikanische Ökonom Paul Krugman (er ist mein Jahrgang, einen Monat jünger) kommt regelmäßig ins Schwärmen, wenn er von den »glorreichen Jahren« nach dem Zeiten Weltkrieg erzählt. Vergangene Woche tat er es in seiner New-York-Times-Kolumne mal wieder besonders überschwänglich: dem Kapitalismus waren seine schroffen Ecken und Kanten von starken Gewerkschaften abgeschliffen worden, die Regierungen bekannten sich zu ihrer Verantwortung als Wohlfahrtsstaaten, die Inflation war niedrig, das Wachstum hoch, die Ungleichheit gering. Hierzulande nannte man dieses Arrangement »soziale Marktwirtschaft«. Krugman spricht von den »anständigsten Gesellschaften, welche die Menschheit je gesehen hat«. Nun ja, im Älterwerden neigt man dazu, seine Jugend zu verklären. Bei uns in Deutschland firmierten die Fünfziger- und Sechzigerjahre ja lange eher unter dem Label »spießige Adenauerzeit«.

    Die goldenen Nachkriegsjahre

    Tatsächlich, so Krugman unter Verweis auf seinen Kollegen Brad DeLong, gab es nur zwei Phasen in der Geschichte (sieht man einmal von einer kurzen Phase im alten Rom ab), in denen sich wirtschaftliches Wachstum mit einer Steigerung von Glück und Zufriedenheit bei den Menschen paarte. Es waren die vier Jahrzehnte nach 1870, als der Fortschritt der industriellen Revolution in der der westlichen Welt angekommen und nicht gleich wieder vom Bevölkerungswachstum aufgefressen wurde. Diese Phase endete abrupt im Jahr 1914 mit dem – damals so genannten – Großen Krieg.

    Die zweite Phase des Glücks begann nach dem Zweiten Weltkrieg und endete, nicht ganz so abrupt, in den auf 1972 folgenden Jahren. Was war passiert? Im Frühjahr 1972 warnte der »Club of Rome«, dass das Wachstum nicht grenzenlos sein würde und das Öl nicht ewig zum Heizen reichen würde. Das hörte sich gefährlich an. Seit den fünfziger Jahren war Deutschland von heimischer Steinkohle mehr und mehr auf Öl aus Nordamerika, Russland und dem Nahen Osten umgestiegen: schon einmal hatte man sich also von ausländischem Öl und der Macht des Opec-Kartells abhängig gemacht. Zugleich kam die bis dahin gefeierte Atomenergie (Walt Disney: »Unser Freund – das Atom«) in die Fundamentalkritik. 1972 wurden der deutsche »Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU)«, 1973 Greenpeace gegründet. In Whyl am Kaiserstuhl hatten sich die Weinbauern mit der neuen grünen AKW-Bewegung verbündet, um den Bau eines Atomkraftwerks zu verhindern.

    Als dann 1973 ägyptische Flugzeuge israelische Stellungen auf dem Sinai angriffen (»Yom-Kippur-Krieg«), drosselte die Opec die Öl-Fördermenge, um die westlichen Staaten zu schwächen. Deutschland sprach vom »Ölpreisschock« – und legte hektisch ein Energiesparprogramm auf, um die Abhängigkeit vom Öl zu reduzieren: Ausbau des Braunkohlebergbaus, ein erster Großversuch mit Sonnenenergie und vielfältige Appelle zum Energiesparen, die ihren Höhepunkt in den sogenannten autofreien Sonntagen fanden, als wir uns zu Spaziergängen auf den Autobahnen trafen. Komisch, dass sich das heute ganz vertraut anhört.

    Ob man uns damals auch schon aufgefordert hat, die Duschzeit zu reduzieren, erinnere ich nicht mehr. Was danach kam weiß ich allerding schon noch: Die Inflation stieg 1972 auf sechs Prozent, zwei Jahre später dann auf 13 Prozent. Die Gewerkschaften suchten die Reallohnverluste wettzumachen. In der sogenannten Klucker-Runde setzte der öffentliche Dienst elf Prozent mehr Lohn durch, ein Datum, dass zumindest mit zum Sturz von Kanzler Willy Brandt beitrug.

    Alles klingt erschreckend aktuell

    Von »Zeitenwende« war damals nicht die Rede. Die Schlagworte hießen »Kulturwende« (Robert Held in der FAZ) oder »Tendenzwende« (Hermann Lübbe). Anfangs war damit lediglich der ökonomische Schock gemeint, später mündete dies in den moralischen Apell, unser Leben zu ändern. Die Tendenzwende verlangte eine konservative Genügsamkeit.

    Energiekrise, Inflation, Stagnation, Rezession, Lohn-Preis-Spirale, ein Krieg, an dem die ganze Welt indirekt beteiligt ist und Appelle, Verzicht im Großen wie im Kleinen zu üben: Die Stichworte muten in der Tat gespenstisch aktuell an. Auch wir haben seit der Jahrtausendwende zwanzig gute Jahre hinter uns. Man durfte hoffen, Corona werde Episode bleiben und danach brächen die »goldenen Zwanziger« an, Zeiten des ausgelassenen Konsums nach Wochen des häuslichen Gefängnisses, genannt Lockdown. Stattdessen finden wir jetzt vor in einer »Ära der Unsicherheit« (Jens Weidmann).

    Deutschland ist nach Auskunft der Wirtschaftshistoriker übrigens in den Siebzigern mit einem blauen Auge davongekommen, weil die Bundesbank relativ schnell durch eine restriktive Geldpolitik, also höheren Zinsen und einer Verknappung der Geldmenge, die Inflation stoppen konnte. Dieser Ausweg ist heute verstopft, weil es keine nationale Geldpolitik mehr gibt und die Europäische Zentralbank ihr Stabilitätsziel aus dem Auge verloren hat, weil die Sorge größer ist, mit höheren Zinsen die Südländer im Euroraum fiskalpolitisch zu strangulieren.

    Ob die »Konzertierte Aktion« uns Rettung bringt, die der Kanzler ins Leben gerufen hat? Das glaube ich nicht. »Unterhaken« (Olaf Scholz) ist SPD-Romantik. Lieber halte ich mich an den »realistischen Optimismus«, den ich dieser Tage im Blick einer jungen Frankfurter Abiturientin des Jahres 2022 zu erkennen glaubte.

    Rainer Hank