Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 21. September 2022
    Staatsgeld auf Pump

    »Mehr, mehr«, ruft der kleine Häwelmann Foto Random House

    Dieser Artikel in der FAZ

    Die Schulden-Ökonomie des kleinen Häwelmann

    Damit musste man rechnen. Nach dem dritten wird jetzt über ein viertes Entlastungspaket gegen die Folgen von Energiekrise und Inflation diskutiert. Die Begründung ist jedes Mal gleich und gleich dürftig: »Es reicht nicht.« Getreu dem Motto des kleinen Häwelmann, der auf die Frage, ob er noch nicht genug habe, »Mehr, mehr!« schrie.
    Das zuletzt beschlossene dritte Paket beläuft sich auf 65 Milliarden Euro. Bedient werden Rentner, Studenten, Familien mit Kindern, Ärmere wie Reichere. Der Wettlauf der Benachteiligten, die nach Entlastungsintervertentionen rufen (oder deren Fürsprecher diese fordern), kennt keine Pause: »Um das Schlimmste gerade für Menschen mit wenig Einkommen abzufedern, müssen wir bei einem Fortschreiten der Krisen bereit sein, noch einmal nachzulegen.« So sprach sich zuletzt Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) für ein viertes Paket aus.

    »Die Erfahrung der Staatshilfen in der Corona-Pandemie hat das Anspruchsdenken gefördert, wonach der Staat bei Verschlechterungen der Gegebenheiten grundsätzlich in der Pflicht steht, für Ausgleich zu sorgen«, schreibt Martin Hellwig, Ex-Direktor der Bonner Max-Planck-Instituts für Gemeinschaftsgüter in einem Aufsatz über »Gasknappheit und Wirtschaftspolitik«. Während die Staatshilfen in der Corona-Pandemie zur Milderung von Staatsmaßnahmen (Lockdown) gedient hätten, werde heute die Wirkung von Entwicklungen in Osteuropa kompensiert, für welche die Bundesregierung keine unmittelbare Verantwortung trage. Die notorisch gewordene Anspruchshaltung des Juste Milieus sagt: Ich habe ein Recht auf den Erhalt des Status quo. Sollte sich dieser verschlechtern – einerlei, von wem auch immer verursacht -, habe ich ein Recht auf finanzielle Entschädigung durch meine Regierung.

    Wie die verängstigten Bürger rufen auch die Unternehmen um Hilfe (besonders vernehmlich die BASF), die sich zuvor in Abhängigkeit vom russischen Gas begeben haben, ohne den damit verbundenen Risiken Rechnung zu tragen. Auch sie verlangen, der Staat müsse sie rauspauken.

    Erst abschöpfen, dann entlasten

    Umsonst ist das alles nicht. Irgendwo müssen die Entlastungsmilliarden herkommen. Das deutsche Wort dafür heißt Schulden. Zwar versichert der Finanzminister ein ums andere Mal, im nächsten Jahr werde die Schuldenbremse der Verfassung eingehalten, die gebietet, dass die Haushalte von Bund, Ländern und Kommunen grundsätzlich ohne Kredite auskommen müssen, also sich durch Steuern und Gebühren finanzieren müssen. Geduldet sind allenfalls Schulden von 0,35 Prozent des nominalen Bruttoinlandsprodukts. Das entspricht im kommenden Jahr 17,2 Milliarden »erlaubter« Neuverschuldung und reicht noch nicht einmal für das dritte Entlastungspaket von 65 Milliarden. Der Finanzminister sagt, da sei noch »Spiel« und außerdem werde man sich einen Teil des Geldes von den klotzig verdienenden Stromerzeugern holen. Erst »abschöpfen« (mein neues Lieblingswort), dann »entlasten«.

    Ist das schlimm? Nö, sagen viele Zeitgenossen, worunter sich auch viele Ökonomen befinden. Schließlich seien die Schulden für einen guten Zweck, festigten den sozialen Zusammenhalt in angespannten Zeiten und kämen den nachfolgenden Generationen zugute, die im Zweifel eine Schuldenkrise der Klimakatastrophe vorziehen würden. Beschwichtigend hörten die Freunde der Verschuldung in den vergangenen Jahren von Ökonomen, solange die Kreditzinsen niedriger seien als das Wirtschaftswachstum müsse man sich ohnehin keine Sorgen machen, weil die Schulden sich von allein verkrümelten.

    Vor Staatsschulden zu warnen, ist altmodisch geworden. Ludger Schuknecht ficht das nicht an. Der Ökonom hat unter Finanzminister Wolfgang Schäuble als dessen Chefökonom gearbeitet, war danach Vize-Generalsekretär der OECD und ist heute Vize-Präsident der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) in Peking. In seinem neuen, gerade bei Cambridge University Press erschienen Buch zur Schuldentragfähigkeit (»Debt Sustainability«) malt Schuknecht ein düsteres Bild. Die Verschuldung der Staaten der Welt ist inzwischen auf einem Rekordniveau, vergleichbar der Situation im Jahr 1947. Damals war ein Weltkrieg die Ursache, heute genügt uns eine Kette von Krisen (Finanz-, Euro-, Corona-, Energiekrise) zur Legitimation exorbitanter Staatsausgaben auf Pump. Die Verschuldung der G7–Staaten lag 2021 bei knapp 140 Prozent des Bruttosozialprodukts; im Jahr 2007 belief sie sich noch auf gut 84 Prozent.

    Wie kommen wir da wieder raus?

    Dass dies auf Dauer nicht gut gehen kann, zeigt die Geschichte der Staatspleiten seit der Antike. Wo genau der »Tipping Point« liegt, bei dem die Gläubiger nervös werden, lässt sich im Vorhinein nicht exakt berechnen, was abermals die Sorglosigkeit befördert. Die Verführung durch das geliehene Geld war für die Mächtigen immer schon groß: Das kann man resignierend zur Kenntnis nehmen – so ist sie halt, die Fiskalpolitik -, man kann aber auch versuchen, daraus zu lernen.

    Ludger Schuknecht macht vier Szenarien auf, wie die Staaten der Schuldknechtschaft entraten können. Szenario 1 wäre der Weg der Tugend, der über Reformen und Konsolidierung führt. Besser als Steuern zu erhöhen, um die Schuldenlast zu drücken, ist es, die Staatsausgaben (Sozialleistungen, Subventionen) zu drosseln. Man sage nicht, das sei unmöglich: Eine Reihe von Ländern (Belgien, Irland, Kanada) haben ihre Haushalte in den 90er Jahren auf diese Weise saniert. Ein zweites Szenario ist das Eingeständnis des Staatsbankrotts (vornehm: »debt workout«), verbunden mit einem Schuldenschnitt für die Gläubiger und der Auflage der Austerität (Sparsamkeit) für die Schuldner. Dieser Weg ist seit der Eurokrise in Verruf geraten, hat aber funktioniert – siehe Griechenland – wenn auch schmerzhaft. Als drittes Szenario nennt Schuknecht die »finanzielle Repression«. In den vergangenen Jahren sah es so aus, als könnten negative Zinsen bei moderatem Wachstum die Schulden minimieren. In Deutschland hat das relativ gut funktioniert – die Nachteile für die Sparer nahm man in Kauf. Doch inzwischen droht die Gefahr, dass das Szenario 3, ähnlich wie in den 70er Jahren, in Szenario 4 umschlägt: Externe Schocks (Inflation, Krieg) untergraben das Vertrauen in die Finanzpolitik. Die Folge: Entweder zwingt der Zinsanstieg die Staaten finanziell in die Knie. Oder aber die Schulden werden weginflationiert – und mit ihnen die Vermögen der Bürger.

    So dramatisch endet die Analyse von Ludger Schuknecht nicht. Das könnte nicht nur daran liegen, dass er ein sanfter Mensch ist, sondern auch, dass das Manuskript seines Buches bei Kriegsausbruch im Februar in Druck ging. Inzwischen sehen wir noch genauer: Vom Allversicherungsstaat führt ein Weg in den Schuldenstaat.

    Rainer Hank

  • 14. September 2022
    Freiheit konkret

    Lea Ypi Foto: Random House

    Dieser Artikel in der FAZ

    Lea Ypis Jugend in Albanien

    Ich habe mich nie gefragt, was Freiheit bedeutet. Nicht bis zum Tag, als ich Stalin umarmte. Mit diesen Sätzen – Hammer-Sätze! – beginnt die Autobiografie der albanischen Autorin Lea Ypi: »Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte.«

    Man muss das Buch noch ein bisschen weitererzählen. Von der Freiheitsliebe Stalins nämlich wusste die kleine Lea, damals elf Jahre alt, durch ihre verehrte Lehrerin Nora. Stalin werde von den Imperialisten und Revisionisten immer als »kleiner Mann« herabgewürdigt, klagt Nora. Was aber gar nicht stimme. Lea glaubt alles und bringt zum Vergleich Napoleon ins Spiel, von dem ihre Großmutter sage, der sei auch klein gewesen. Und der Lehrer von Marx, ein Mann namens »Hegel oder Hängel« habe in Napoleon den Weltgeist zu Pferde erkannt, doziert die Schülerin. Die Lehrerin stellt richtig: Hängel heiße dieser deutsche Philosoph. Hätte Hängel später gelebt, hätte er mit Sicherheit auch in Stalin hoch auf einem Panzer den Weltgeist erkannt. Lea jedenfalls war überzeugt, in der freiesten aller freien Welten zu leben, damals im Albanien des Jahres 1990. Sprechchöre von Umstürzlern, die »Freiheit, Demokratie«, skandierten verstand sie nicht.

    Es gehört zu den Stärken Ypis, dass sie konsequent aus der Perspektive des Mädchens erzählt, das erwachsen wird in den Jahren der Transformation von einem stalinistischen »Musterstaat« zu einer liberalen Demokratie. Die kleine Lea kennt ja nur die »sozialistische« Welt. Dass es eine freie Welt sei, hört sie von der gebildeten Großmutter und der Lehrerin Nora, denen sie blind vertraut. So wie das alle Kinder tun. Und wenn die Lehrerin sagt, dass Stalin mit seinen Augen so schön lächle, und dass der Lehrer von Marx eben Hängel heiße, so glaubt ein Kind das auch.

    »Der gute Onkel Enver«

    Man kann das Buch der Lea Ypi auf verschiedene Weise lesen. Zunächst: Mit Scham. Albanien hat mich bislang nicht sonderlich interessiert. In meiner Studienzeit waren es im Wettbewerb der K-Gruppen die am meisten durchgeknallten westdeutschen Maoisten, die den kleinen Balkanstaat heroisierten, weil dort die reine Lehre des Sozialismus und Kommunismus gelehrt und gelebt werde. Das musste man selbst als Linker nicht ernst nehmen. Sodann ertappte ich mich bei der naiven Vorstellung, wer in einer Diktatur lebe, müsse sich tagein tagaus auch unfrei und eingesperrt fühlen, weil die Lebenslügen der Ideologen mit Händen zu greifen sind. Das ist offenkundig nicht so, wie man an der kleinen Lea sieht, auch an ihren Eltern, die zumindest Sympathien für das System haben und sich arrangieren. So ähnlich lässt sich wohl auch die Loyalität des russischen Volkes zu Putin verstehen, eine Bindung, die selbst durch einen verbrecherischen Angriffskrieg nicht erschütterbar wird, im Gegenteil. Das albanische Volk verehrte seinen Führer Enver Hoxha, den sie »Onkel Enver« nannten, wie ein sorgendes Oberhaupt der Familie. »Spin-Diktatoren« wie Hoxha oder Putin unterdrücken ihr Volk nicht nur mit äußerem Zwang, sondern mit plausiblen Erzählungen; das sichert die Herrschaft über die Köpfe fast von alleine.

    Schließlich aber kann man Ypis Buch als Abhandlung über die Freiheit lesen, bloß viel lustiger und spannender erzählt als es Essays über den Liberalismus üblicherweise zu tun pflegen. Ypi berichtet, sie haben ursprünglich ein theoretisches Buch über die »Deckungsgleichheit von Freiheit in der liberalen und in der sozialistischen Tradition« schreiben wollen. Das ist es tatsächlich auch geworden, freilich als lebendige Erzählung, zum Schreien komisch und verbürgt durch die Erfahrungen der heute 43 Jahre alten Autorin.
    Die Innenperspektive funktioniert so gut, dass der Leser sie – beinahe – übernimmt. Dass die Albaner nicht ins Ausland reisen dürfen (also objektiv unfrei sind), wird der kleinen Lea damit erklärt, dass dort lauter Feinde leben und der albanische Staat seine Bürger davor schützen müsse, in die Hände der Feinde zu fallen. Und dass im Kapitalismus die Menschen frei seien, wird als Ideologie entlarvt: Potentiell sei man dort schon frei, aber man brauche das nötige Geld, um seine Wünsche erfüllen zu können. Und das entbehrten viele Menschen. Was soll daran Freiheit sein? »Bei uns gab es Freiheit für alle, nicht nur für die Ausbeuter.« Dass Albanien eines er ärmsten Länder Europas war, wusste sie nicht. Dass Freunde und Bekannte in die Verbannung geschickt und in Lager gesperrt wurden, dafür redeten die Eltern nur in einem Code, der eine Fremdsprache blieb für das Kind. Die Illusion der Freiheit funktionierte perfekt.

    Die liberale Enttäuschng

    So loyal die Bürger zu »Onkel Enver« waren, so plötzlich und abrupt trennten sie sich in den neunziger Jahren vom sozialistischen System. Milton Friedman und Friedrich von Hayek übernahmen die Plätze von Karl Marx und Friedrich Engels, so erzählt es Ypi. Eine ökonomische Schocktherapie sei als letztes Opfer nötig, um den Sozialismus hinter sich zu lassen und ins Reich der wahren, der liberalen Freiheit zu kommen, so hätten es ihnen die Berater der Weltbank mit ihren bunten Lacoste-Shirts erklärt; Ypi nannte sie die Krokodile. Die Enttäuschung folgte auf dem Fuß. Die Eltern verloren ihre Arbeit, der Vater sprach zwar vier Sprachen fließend, aber dummerweise kein Englisch und verstand nichts von Computern. Und die Freiheit? »In der Vergangenheit wäre man für den Ausreisewunsch verhaftet worden. Aber nun, da niemand mehr die Ausreise verhinderte, waren wir auf der anderen Seite der Grenze nicht mehr willkommen. Das Einzige, das sich verändert hatte, war die Farbe der Polizeiuniformen. Jetzt wurden wir nicht mehr im Namen unserer Regierungen verhaftet, sondern im Namen anderer Staaten, deren Regierungen uns früher dazu aufgerufen hatten, in die Freiheit aufzubrechen.«

    In den vergangenen Jahren sind viele Erfahrungsberichte über die »liberale Enttäuschung« erschienen. Herausragend Steffen Maus »Lütten Klein«, Anne Applebaums »Verlockung der antidemokratischen Herrschaft« oder Francis Fukuyamas »Liberalism and ist Discontents«. Lea Ypi reiht sich hier ein. Am Ende neigt sie zum Relativismus. Das liberale Freiheitsversprechen habe sich genauso wenig erfüllt wie das sozialistische. Ihre eigene Geschichte dementiert diesen Relativismus: Ohne die Revolution der neunziger Jahre wäre das kleine Mädchen aus Albanien heute nicht Professorin an der London School of Economics (mit Schwerpunkt »Theorie des Marxismus«). Das weiß sie natürlich. Am vergangenen Mittwoch twitterte Ypi: »Ruhe in Frieden, Gorbi. Ohne Dich wären all unsere Biografien anders verlaufen.« Der Wunsch, Gorbatschow möge ihr demnächst auf Russisch erscheinendes Buch in die Hand kriegen, wird sich nicht mehr erfüllen.

    Rainer Hank

  • 06. September 2022
    Entlasteritis

    Robert Habeck – der Entlastungminister

    Dieser Artikel in der FAZ

    Eine neue Seuche grassiert

    Mein Finanzamt spendiert mir für September eine Energiepreispauschale von 300 Euro. Das hat mich überrascht, bildete ich mir doch ein, dass es dieses Steuergeschenk nur für Arbeitnehmer gibt. Ist das nicht der Grund, warum Rentner und Studenten sich schwer benachteiligt fühlen und nach Kompensationsgerechtigkeit rufen?

    Eine Nachfrage bei meiner stets bestens informierten Steuerberaterin bringt Aufklärung: Die Energiepreispauschale erhalten alle, die ein »aktives« Einkommen beziehen. Das sind nicht nur Arbeiter, Angestellte und Beamte, sondern auch Selbständige, Freiberufler, Landwirte und andere Gewerbetreibende, also auch Kolumnisten. Bloß Rentner, Studenten oder »Rentiers«, die ausschließlich von Vermietungen oder Dividenden leben, kriegen das Geld nicht. Denen kann man nur raten, schnell ein paar Stunden in einer Kneipe zu jobben – Personal wird überall gesucht– oder den Schrebergarten als Landwirtschaftsbetrieb anzumelden: Dann gibt es vom Staat 300 Euro obendrauf. Allerdings muss die Pauschale später wieder versteuert werden. Was am Ende bleibt, wird sich also noch weisen. Richtig effizient klingt das nicht.

    Ehrlich gesagt, ich hätte die 300 Euro nicht gebraucht. Auch das 9–Euro-Ticket wäre für mich nicht nötig gewesen: Denn in der Stadt fahre ich ausschließlich mit dem Rad. Und für größere Entfernungen nehme ich den ICE, weil es mir mit den Regionalzügen zu lange dauert. Der Tankrabatt nebst erhöhter Pendlerpauschale wäre für mich ebenso wenig nötig gewesen, weil, wie gesagt, ich Rad- und ICE-Fahrer bin.

    Der Staat macht mir derzeit ständig »Geschenke«, um die ich ihn nicht gebeten habe. Das liegt daran, dass seit Inflation, Ukrainekrieg und Energiekrise und nach Corona eine neue Seuche ausgebrochen ist. Ich nenne sie die »Entlasteritis«. Die Deutschen entdecken sich gerade als ein Volk der Mühseligen und Beladenen, die dringend entlastet werden müssen.

    Eine neue Unübersichtlichkeit

    Dementsprechend ist die Ampel-Regierung jetzt ständig mit Entlastungen beschäftigt, die in immer neuen Paketen unters Volk der Bedürftigen gebracht werden, was – nur am Rande – sprachlich etwas schief ist, weil ein Paket ja eher eine Last ist (das sehen wir an den DHL-Boten).

    Dass die vielen Entlastungen eine neue Unübersichtlichkeit zur Folge haben, hat mehrere Gründe. Erstens hat die Ampel kein Konzept, was man ihr nur eingeschränkt zum Vorwurf machen kann, weil Putin seinen Krieg nicht vorher angemeldet hat. Zweitens besteht diese Regierung aus drei sehr unterschiedlichen Parteien, die sehr unterschiedliche Wählergruppen entlasten wollen, um beim nächsten Mal wiedergewählt zu werden. Also Tankrabatt für die FDP-Autofahrer, Energiepauschale für die wackeren SPD-Facharbeiter und 9–Euro-Ticket für die Grünen Umweltaktivisten. Die politische Ökonomie weiß, dass Koalitionen umso spendabler mit dem Geld anderer Leute umgehen, je mehr Koalitionäre es gibt. Und wenn irgendjemand derzeit mahnt, es mit der Entlasteritis nicht zu übertreiben, malen Politiker soziale Unruhen an die Wand. Der nicht entlastete deutsche Bürger würde auf der Stelle zum Revolutionär, hören wir, was insofern komisch ist, weil die Deutschen bislang in ihrer Geschichte nicht gerade als besonders eifrige Revoluzzer aufgefallen sind.

    Irgendjemand freilich muss das ganze Geld, das die Entlastungen kosten, am Ende wohl bezahlen. Mir schwant, dass ich da voll mit dabei bin, zumal der Finanzminister ständig und meines Erachtens zu Recht betont, nachfolgende Generationen dürften wegen Grundgesetzverbot nicht mit höheren Schulden belastet werden – auch die verlangen nach Entlastungen. Also trage ich als Radfahrer mein Scherflein bei zu den 14 Milliarden Euro, die das 9–Euro-Ticket kostet und finanziere als Stadtmensch den Landbewohnern ihre aufgestockte Pendlerpauschale. Weil das nicht reichen wird, soll es nach Meinung vieler ans Portemonnaie der Kapitalisten gehen, deren hohe Gewinne vielen ein Dorn im Auge sind. Viel Gewinn nennen wir neuerdings Übergewinn und schöpfen ihn einfach ab. Wo der erlaubte Gewinn aufhört und der Übergewinn anfängt, bestimmt sinnvollerweise der Fiskus nach Maßgabe der Kassenlage. Als Wähler sind die Kapitalisten in ihrer Macht zu vernachlässigen, verglichen etwa mit den Millionen Rentnern.

    Die Seuche der Entlasteritis wird Langzeitfolgen haben, fürchte ich. Zunächst: Für Inflationsbekämpfung und Geldwertstabilität ist traditionell die Notenbank und nicht der Finanzminister zuständig. Das gerät immer mehr in Vergessenheit. Die EZB drückt sich und die Politiker springen als Entlaster in die Bresche. Sodann gerät das Steuersystem völlig aus den Fugen, wird willkürlich nach dem Motto, wer am lautesten schreit und mutmaßlich am meisten demokratische Stimmgewalt hat, wird vorzugsweise bedient. Einmal damit angefangen, ergibt sich eine fiskalpolitische Interventionsspirale, die zu keinem Ende kommt, weil immer einer da ist, der sagt »Das reicht noch lange nicht.« So folgt auf das dritte mit böser Sachnotwendigkeit das vierte Entlastungspaket. Am Ende erodiert das Vertrauen in die Regelgebundenheit des Steuersystems.

    Vertrauen in die Regelgebundenheit schwindet

    Der Inflationsbekämpfung nützt das gar nichts. Denn das Geld vom Staat will ja von den Leuten ausgegeben werden und heizt im schlimmsten Fall die Inflation an. Das Steuersystem verkommt zur willkürlichen Umverteilungsmaschine. Alle Maßstäbe (Äquivalenz als Preise für Staatstätigkeiten, Leistungsfähigkeit als Begründung für Proportion und Progression des Steuertarifs) verludern. Steuersystematisch wäre es nämlich gerade geboten, die sogenannte kalte Progression auszugleichen, die den Staat zum Profiteur der Inflation macht: Dies ist nun gerade keine Entlastung, sondern der Verzicht auf eine zusätzliche Belastung der Steuerbürger, ohne dass sich an ihrer »Leistungsfähigkeit« etwas geändert hätte. Aber eben: Regeln und Logik spielen keine Rolle mehr, wenn sich die Steuergerechtigkeit auf die simple Umverteilungsformel reduziert: Nehmt das Geld den Reichen und verteilt es nach Lust und Willkür irgendwie an alle. Wenn die Wohltaten wenigstens zielgenau und ausschließlich den wirtschaftlich Schwachen zugutekämen, könnte man dies als Gebot der Solidarität rechtfertigen. Aber als Armenhilfe sind die Pakete gerade nicht geschnürt.

    »Nichts bedarf größerer Weisheit und Vorsicht als die Festsetzung dessen, was man von den Untertanen nimmt und was man ihnen lässt«, lesen wir bei Montesquieu. Diese Weisheit braucht Maßstäbe und Regeln, um von den Bürgern als gerecht empfunden zu werden, und darf nicht im archaischen Verteilungskampf der Entlasteritis erstickt werden.

    Rainer Hank

  • 25. August 2022
    Himmelfahrts-Ökonomie

    Die Muttergottes auf dem Weg in den Himmel Foto katholisch.de

    Dieser Artikel in der FAZ

    Sind christliche Feiertage noch zeitgemäß?

    Vergangene Woche, am 15. August, war das Fest Mariä Himmelfahrt. Wer an diesem Tag in Italien, Österreich oder Oberbayern weilte, konnte sehen: Die Arbeit ruht, die Geschäfts sind geschlossen. In Italien gilt »Ferragosto« als einer der höchsten Feiertage des Jahres, den die Menschen mit Familie oder Freunden am Meer oder in den kühlen Bergen verbringen.

    Ich war an Mariä Himmelfahrt in Wolfegg, einem wunderschönen Flecken im schwäbischen Allgäu (inklusive Schloss, Kirche und Biergarten). Dort ist kein Feiertag, obwohl die Leute genauso (wenig) katholisch sind wie im wenige Kilometer entfernten bayerischen Allgäu, wo der Feiertag den Menschen ein verlängertes Wochenende beschert hat.
    In Zeiten, in denen sogar die Bedeutung von Ostern oder Weihnachten nicht mehr geläufig ist, kann womöglich etwas Nachhilfe in Sachen Volksfrömmigkeit nicht schaden. In der Bibel findet sich kein Hinweis darauf, dass Maria, die Mutter Gottes, in den Himmel aufgefahren ist. Doch schon die frühe christliche Theologie war der Meinung, dass Maria wegen ihrer besonderen Beziehung zu Christus als »Ersterlöste« leiblich in den Himmel aufgenommen wurde. 1950 hat dann ein Papst den frommen Glauben offiziell zum Dogma erhoben. Dogma bedeutet: Wer katholisch ist, von dem wird erwartet, dass er an die Himmelfahrt Mariä glaubt.

    Rund um das Fest hat sich im Lauf der Jahrhunderte ein ganzer Kranz von frommen Bräuchen entwickelt: Man sammelt Kräuter und Blumen auf den Feldern – sieben sollten es schon sein -, lässt diese gebunden als »Weihbüschel« vom Priester im Gottesdienst am Festtag segnen, trocknet sie zuhause und baut auf ihre Hilfe, wenn Unbilden drohen: Bei Krankheit von Mensch und Vieh sollen die Kräuter heilen, auch zur Abwendung von Blitz und Donner wird ihnen Wirkung zugesprochen getreu dem Dreisatz: Wachstum fördern, Krankheit abwehren, Geister vertreiben.

    Trittbrettfahrer religiösen Brauchtums

    Es ist vermutlich nicht schwer nachzuweisen, dass die Zahl jener Menschen, die die Bedeutung des Festes kennen und gar an das Dogma und die heilende Wirkung der Kräuter glauben, ziemlich überschaubar geworden ist. Man könnte sich (nicht nur für Himmelfahrt) fragen, ob es in Ordnung ist, dass wir an Feiertagen frei bekommen, deren Grund und Anlass uns schnuppe ist – eine Art von Trittbrettfahrerei oder parasitärer Anlehnung an religiöses Brauchtum und Tradition. Auf die Idee, das Recht auf Inanspruchnahme kirchlicher Feiertage von der Glaubensüberzeugung abhängig zu machen, sind freilich noch nicht einmal die Kirchen gekommen.

    Der Deutsche Gewerkschaftsbund Mittelfranken hat jetzt immerhin gefordert, Mariä Himmelfahrt für alle Menschen in Bayern zum Feiertag zu machen: Einen Feiertag auf Basis der Religionszugehörigkeit zwischen Gemeinden unterschiedlich zu behandeln, sei nicht mehr zeitgemäß, wenn immer weniger Menschen die christliche Religion hätten. Da kann man nur sagen, die Gewerkschaften haben den Festtagsbraten gerochen. Ob Mariä Himmelfahrt in einer bayrischen Gemeinde Feiertag ist, hängt davon ab, ob die Bevölkerung überwiegend katholisch ist, was sich ausschließlich darauf bezieht, ob es dort mehr Katholiken als Protestanten gibt. Wenn angenommen in einer Gemeinde mit hundert Bürgern zwanzig Protestanten und fünfzehn Katholiken leben, fällt der Feiertag aus. Merkwürdig, oder?

    Das lässt sich generalisieren. Der Föderalismus christlicher Feiertage (also Allerheiligen bei den Katholiken, Reformationstag bei den Protestanten) setzt eine geschlossen christliche, wenngleich konfessionell gespaltene Gesellschaft voraus, die noch dazu stabil, also wenig mobil ist. Mithin die Welt von gestern. Inzwischen bekennen sich weniger als die Hälfte der Deutschen zu einer der beiden Konfessionen und selbst die – siehe oben – wissen mit dem Sinn der Feste wenig anzufangen.

    Daraus kann man theoretisch drei unterschiedliche Schlüsse ziehen. Der erste wäre die Radikalisierung des Vorschlags der Gewerkschaftler aus Mittelfranken: Gewährt allen Deutschen ein gesetzliches Recht auf alle christlichen Feiertage! Der Vorschlag würde vermutlich bei jeder Volksabstimmung eine Mehrheit bekommen. Derzeit gibt es je nach Bundesland (oder Gemeinde) zwischen neun und vierzehn freie Tagen. Gelten alle Feiertage überall, käme man auf die Zahl von sechzehn, bei Wiedereinführung des Buß- und Bettages sogar auf siebzehn. Dann wären wir weltweit Feiertagsweltmeister.

    Sedantag und Veggy Day

    Ähnlich radikal, nur in Gegenrichtung, könnte man für die Abschaffung (fast) aller Feiertage plädieren. Wo kein Christentum mehr, da kein christlicher Feiertag! Übrig blieben dann nur noch der Neujahrstag am 1. Januar, der Tag der Arbeit am 1. Mai (inzwischen wie die christlichen Feste ziemlich blass) und der 3. Oktober (Tag der Deutschen Einheit), der freilich im Vergleich etwa zu Mariä Himmelfahrt bislang leider kein Brauchtum hat (analog zur Kräuterweihe). Das wäre womöglich ein Vorschlag nach dem Geschmack der Arbeitgeberverbände zur Output-Verbesserung am Standort Deutschland, könnte freilich von den Gewerkschaften kassiert werden mit dem Argument, dass das im Ländervergleich bestplatzierte Bundesland (gemessen an Prokopf-BIP, Verschuldung, Beschäftigung) ausgerechnet Bayern ist, wo es die meisten Feiertage gibt.
    Eine dritte Idee müsste man als säkulare Kompensationsidee vermarkten. Anstatt der obsolet gewordenen christlichen Feiertage, könnte man die Einführung »fortschrittlicher« Feste durchzusetzen suchen. Hier ist Berlin mit dem »internationalen Frauentag« am 8. März VorreiterIn. Aus der DDR importiert wäre der »Tag des Kindes« am 1. Juni arbeitsfrei zu stellen. Und wenn die Grünen Mumm hätten, würden sie angesichts der zugespitzten Klimakrise noch einmal den Veggie Day ins Gespräch bringen (einmal im Jahr für den Anfang), am besten an einem Freitag im Anschluss an die fleischlose Tradition der Katholiken (bei uns gab es da immer Spinat). Zu reden wäre über »Halloween« am 31. Oktober, aber das ist ein US-Import und letztlich auch wieder ein christliches Fest, der Abend vor Allerheiligen eben.

    Und nun? Ich jedenfalls plädiere am Ende dieser Gedankenspiele dann doch für den Beibehalt des Status quo. Lieber christliche Feiertage, deren Inhalte verblasst sind (aber irgendwie die Erinnerung an eine Welt vor ihrer rationalen Entzauberung wachhalten), als ideologisch aufgeladene Feiertage (früher gab es den Sedantag, heute den Frauentag). Paradoxerweise war Mariä Himmelfahrt ursprünglich selbst ein ideologisches Fest: Die Christen usurpierten die im römischen Reich Mitte August gefeierten dreitägigen »feriae Augusti« (daher »Ferragosto«), die Feiertage des Augustus, zur Erinnerung an dessen Sieg über Antonius und Cleopatra bei Actium.

    Rainer Hank

  • 16. August 2022
    Dr. Lauterbachs Instrumentenkasten

    Was Erlauben Lauterbach? Foto Bundesgesundheitsministerium

    Dieser Artikel in der FAZ

    Seit der Pandemie leben wir im permanenten Ausnahmezustand

    Es sollte ein anregender, harmonischer Abend werden. Jenny und Friedrich, ein Ehepaar mittleren Alters aus Westdeutschland, das seit einem Jahrzehnt mit den beiden Söhnen in Ostdeutschland lebt, haben Rolf und Beate, Arbeitskollegen aus Brandenburg, geborene Ostdeutsche, zum Essen eingeladen. Außerdem hat sich Tine, eine frühe Liebe Friedrichs (Ferien an der Amalfi-Küste) zum Essen eingeladen.

    Das kann ja heiter werden: Vom ersten Moment an bringen Rolf und Beate Jenny aus der Fassung und Friedrich in Verlegenheit. Noch immer unverstandene west-östliche Seelenlagen brechen sich Bahn – sarkastisch, angriffslustig – über dreißig Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung. Wechselseitig ist man voneinander enttäuscht. Es wird am Ende nicht nur heiter, sondern auch gruselig.

    Der Abend in Fünferrunde ist der Plot einer gerade erschienenen Novelle (»Gewittergäste«) des Schriftstellers Dirk von Petersdorff. Der kommt selbst aus Westdeutschland, lebt seit langem in Jena, ist bislang eher mit Gedichten aufgefallen, schreibt neuerdings aber auch Prosa. Weil Petersdorff im Neben- oder Hauptberuf Literaturwissenschaftler ist, kann man das Büchlein auch als Übungsstück in Literaturtheorie fürs Proseminar lesen: Alles spielt sich an einem Tag und an einem Ort ab wie in einem Drama. Und natürlich gibt es jene »unerhörte Begebenheit«, die seit Goethe für eine Novelle, die etwas auf sich hält, zwingend vorgeschrieben ist und den Wendepunkt der Handlung markiert. Diese unerhörte Begebenheit wird hier selbstverständlich nicht verraten.

    »Habeck, Habeck«, ruft der Wellensittich

    Die Knappheitsvorschrift der Novelle hat »inhaltlich« den Vorteil, die »unverstandenen west-östlichen Seelenlagen« und gegenseitige Vorwurfsdynamik auf seinen Kern zu schälen: Das im Osten lebende Westlerpaar, dessen Wellensittich »Udo« (wie Udo Lindenberg) Laute kräht, die in den Ohren der Ostler wie »Habeck, Habeck« klingen, gibt sich alle Mühe den Ostdeutschen am Abendbrottisch die Vorteile der Freiheit in Erinnerung zu rufen, die sie so selbstverständlich einstreichen und dass sie froh sein sollten, den diktatorischen Stasi-Staat los zu sein. Den wollen Rolf und Beate auch gar nicht zurück, im Gegenteil: Sie nehmen die Freiheits-Behauptung der Westler beim Wort und sind enttäuscht. »Wir sind sehr empfindlich gegen Bevormundung.« Dass man ihnen – nur zum Beispiel – ihr Dieselauto als Dreckschleuder madig macht, finden sie nicht gut. Sie brauchen es schließlich auf dem Land, um zur Arbeit zu kommen. Dass diese Verbote von Männern aus Berlin kommen, die mit Elektrorollern und Umhängetaschen zur Arbeit fahren, ärgert sie besonders.

    Und dann werden die Ostler grundsätzlich: Manchmal fänden sie den aktuellen »Verbots-Staat« schlimmer als die DDR: »Da konntest Du abtauchen oder unauffällig leben, aber dieser Staat hier: fiel feiner, er fasst Dich ganz und gar, die Gedanken, meine ich.« Es fällt das böse Wort der »Demokratur«; na ja, Rolf ist inzwischen nicht mehr ganz nüchtern.
    »Verbots-Staat«? Ost-Ressentiment und leichte Beute für AfD-Politiker, klar. Doch damit würde man es sich zu einfach machen, finde ich. Während ich Dirk von Petersdorffs Novelle lese, gibt es in der deutschen Politik eine Debatte über das neue Infektionsschutzgesetz. Der Wechsel von der Fiktion in die Realität gelingt mühelos.

    Oder anders gesagt: Wem die Freiheit des Bürgers im demokratischen Rechtsstaat ein oberster Wert ist, den muss die aktuelle Debatte um das Infektionsschutzgesetz gehörig verstören. Welches Staatsverständnis steht hinter dieser Politik? Ein zentraler Begriff ist der »Instrumentenkasten«. In diesem Kasten liegen unterschiedliche Instrumente – Abstandsregeln, Ausgangssperren, Maskenpflichten an unterschiedlichen Orten, 3G, 4G, 5Gplus und so weiter -, die je nach Inzidenzlage von wohlmeinenden Politikern angeordnet werden sollen. Der Unterschied zwischen dem Verbots- und Gebotsstaat ist fließend: Die Kehrseits jedes Gebots ist ein Verbot – wenn man, nur zum Beispiel, ein Restaurant nicht ohne Maske betreten darf (es sei denn man sei geimpft und diese Impfung wiederum darf nicht länger als drei Monate zurückliegen). Bisschen absurd klingt alles ohnehin.

    Woher kommt dieser »Instrumentenkasten«? An erster Stelle verweist das Lexikon auf den Arzt. In dessen Instrumentenkasten befindet sich »meist fein gearbeitetes, oft kompliziert gebautes Gerät«. Man kann an das Stethoskop des Hausarztes denken oder – besonders »fein gearbeitet« – an die Instrumente des Zahnarztes (der Zahnspiegel oder der Heidemann-Spatel, welch schöner Begriff). Neben dem Arzt käme der Handwerker infrage. Der hat bekanntlich einen Werkzeugkasten.

    Der Politiker als Arzt

    Wenn Politiker wie Karl Lauterbach (SPD) und Marco Buschmann – FDP, war das nicht die Partei der Freiheit? – sich jetzt darauf geeinigt haben, womit sie den neuen Instrumentenkasten bestücken, dann entlarvt das ihr Selbstverständnis: Der Staat ist der Arzt, der weiß, was für seine Bürger gut ist und entsprechend strengere oder weniger strenge Medizin verabreicht, Gebote (Bettruhe!) oder Verbote (Ausgangssperren) anordnet. Was erlauben Doktor Lauterbach? Großzügig, wie er ist, gewährt er »Ausnahmen« der Maskenpflicht für »frisch Geimpfte«. Danke auch dafür!

    Eine quasi natürliche Informationsasymmetrie versteht sich offenbar von selbst: Der Politiker als Arzt mit Instrumentenkasten hat – gestützt auf Experten – ein exklusives Wissen, das dem Patienten (dem Bürger) abgeht. Und wenn die Belastungen (Schmerzen) für die Patienten zu groß werden, bringt der Politiker sogar finanzielle Entlastung – so wie das gerade die Regierung in der Inflations- und Energiekrise im Wochentakt uns verspricht – »uns« also natürlich nur uns »Bedürftigen«, vulgo Armen.

    Bezieht sich die Metapher des »Instrumentenkastens« eher auf den Handwerker, entlarvt sich das Selbstverständnis des Politikers vollends als technokratisch: Der Handwerker repariert alles, was im Haushalt klemmt und klappert. Mister Fix-It, wie die Amerikaner sagen.

    Zur Legitimation der Rolle der Intervention mit Instrumentenkasten verweist die Politik gerne auf die Krise. Weil Krise so langsam zum Dauerzustand wird, besteht die Gefahr, dass der »Verbots-Staat« zum permanenten Ausnahmezustand wird. »Der Souverän will das Volk nach seinen Begriffen glücklich machen, und wird Despot; das Volk will sich den allgemeinen menschlichen Anspruch auf eigene Glückseligkeit nicht nehmen lassen, und wird Rebell«, schreibt Immanuel Kant (»Schriften zur Geschichtsphilosophie«).
    Das Freiheitsversprechen des Westens jedenfalls sieht anders aus, da haben Rolf und Beate Recht, die Ostler aus Dirk von Petersdorffs Novelle.

    Rainer Hank