Rainer Hank als Illustration

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  • 22. Juli 2019
    Kommen wirklich die Richtigen?

    Migration ist ein Menschenrecht

    Dieser Artikel in der FAZ

    Einige Ideen zur Einwanderung in den Sozialstaat

    Dr. Lee hatte eine geniale Idee. Der südkoreanische Mediziner war vor gut fünfzig Jahren als Kinderarzt an einer Klinik in Mainz tätig. Aber es fehlten Säuglingsschwestern. Lee schaltete Anzeigen in Zeitungen seines Heimatlandes, und bald kamen die ersten Koreanerinnen nach Deutschland, wo sie für 600 DM netto im Monat in Dr. Lees Klinik arbeiteten. Korea war in den sechziger Jahren noch ein sehr armes Land.
    Rund zehntausend junge Frauen aus Korea sollten sich bis in die mittleren siebziger Jahre entscheiden, in deutschen Kliniken als Schwestern zu arbeiten. Einfach waren die Bedingungen nicht. Ein Drittel der Koreanerinnen ist für immer hier geblieben; viele sind inzwischen wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. Meine Kollegin Lena Schipper, die inzwischen als Korrespondentin des britischen »Economist« in Seoul arbeitet, hat kürzlich einige dieser Re-Migrantinnen besucht. Viele leben in Seoul. Andere haben sich auf dem Land ein »deutsches Dorf« gebaut, wo es im Biergarten Wurst und Schnitzel und im Herbst ein Oktoberfest gibt.

    Dr. Lees Migrations-Experiment war ganz offensichtlich eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten. Der Arzt ist mir in den Sinn gekommen als in der vergangenen Woche unser Gesundheits- und Beinahe-Verteidigungsminister Jens Spahn (CDU) in den Kosovo fuhr, um dort Pflegekräfte anzuwerben. In Deutschland gibt es immer mehr ältere Menschen, die auf Pflege angewiesen sind, aber viel zu wenig Altenpfleger. Im Kosovo, einem jungen Land, gibt es viel zu viele arbeitslose Jugendliche ohne Zukunftsaussichten. Sie investieren eigenes Geld für eine Pflegeausbildung in ihrer Heimat, lernen deutsch und hoffen darauf, in Deutschland eine Arbeit zu bekommen. Bis zu tausend ausgebildeter Pflegekräfte im Jahr sollen künftig nach Deutschland kommen, sofern es gelingt, die bürokratischen Hürden (Anerkennung der Abschlüsse) abzubauen. Man kann auch das als eine Win-Win-Situation beschreiben.

    Deutschland braucht dringend Migranten

    Südkoreanische Kinderkrankenschwestern, kosovarische Altenpfleger: Beide Male handelt es sich um Beispiele, bei denen die Bilanz von Kosten und Nutzen für Herkunfts- und Zielland zu stimmen scheint. Aber sie bleiben begrenzt. Tatsächlich ist im lauten Getöse der Jahre nach dem Flüchtlingsschock 2015 in Vergessenheit geraten, dass Deutschland auf Zuwanderung dringend angewiesen ist, wird doch die Bevölkerung hierzulande binnen fünfzehn Jahren um sechs Millionen Bürger schrumpfen. Vieles spricht dafür, dass es in unserem Land weiterhin gute Arbeit geben wird, aller Ängste vor der Automatisierung durch Roboter und Algorithmen zum Trotz, und dass die Alten nicht nur auf junge Pfleger angewiesen sind, sondern auch auf junge Menschen, die im Umlageverfahren ihre Rente finanzieren.

    Offene Grenzen sind ein hohes Freiheitsgut. Entscheidend ist freilich, dass die Richtigen kommen. Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre wäre es naiv zu glauben, alle Einwanderer seien vom Typus der engagierten Koreanerinnen und Kosovaren. Es gibt eben auch jene Zehntausende Armutsmigranten aus Bulgarien und Rumänien ohne Schulabschluss und Deutschkenntnisse, die von kriminellen Schlepperbanden hierher gebracht werden, wo sie Kindergeld und Hartz IV kassieren – um am Ende häufig selbst in der Kriminalität zu landen (F.A.Z. vom 19. Juli). Mit umfangreichen Sozialleistungen übt unser Land hohe Attraktivität aus auf Migranten mit geringer Qualifikation, die aus ärmeren Ländern kommen. Verführerisch sind vor allem Sozialleistungen im Arbeitslosen-, Gesundheits- und Bildungssystem, weniger dagegen ein ausgebauter Arbeitnehmerschutz und ein hohes Rentenniveau. Denn Arbeitslosen-, Gesundheits- und Bildungsleistungen (auch für die nachziehende Familie) sind sofort wirkende Wohltaten, während Arbeitnehmerrechte meist die im Land lebenden Insider vor Newcomern schützen und Renten erst einmal von den Migranten finanziert werden müssen. Da es auch innerhalb der EU, aller Transfers zum Trotz, alles andere als gleiche Lebensverhältnisse gibt, verstärken Push-Faktoren im armen Land und Pull-Faktoren aus dem reichen Land sich wechselseitig.

    Die Fiskalbilanz muss positiv sein

    Migranten belasten den Staat und seine Steuerbürger, wenn sie Sozialleistungen und Infrastruktur in Anspruch nehmen. Sie entlasten ihn, wenn sie selbst Steuern und Abgaben zahlen. Alles hängt davon ab, dass die »Fiskalbilanz« am Ende positiv wird. Denn dann profitieren nicht nur die Migranten, sondern auch die ansässige Bevölkerung. Das trägt zugleich zur Akzeptanz der Migranten bei und verdirbt mittelfristig sowohl den Populisten wie den kriminellen Schleusern ihr schmutziges Geschäft.

    Vor zwei Wochen hatte ich an dieser Stelle versprochen, Ideen vorzustellen, wie das Dilemma von offenen Grenzen im üppigen Sozialstaat gelöst werden kann: Im Kern laufen alle Vorschläge darauf hinaus, dem Markt das richtige »Matching« zu überlassen, will sagen, Zuwanderung über Preise zu regeln und Übereinkünfte zu treffen, wer zahlen muss. Es zeigt sich, dass der Markt das gerechtere und humanere Arrangement hat als Bürokraten oder korrupte Schlepperbanden.

    Generell (und analog zu Korea und Kosovo) sollte jeder Ausländer eine befristete Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung bei uns bekommen, der von einem deutschen Unternehmen verbindlich einen Arbeitsplatz angeboten bekommt: Das Gehalt muss dabei eine festgelegte Mindestgrenze erreichen, die hoch genug ist, um ihn zu einem Nettobeitragszahler an den öffentlichen Finanzen (Steuern und Sozialbeiträge) zu machen. Alle bürokratischen Prüfungen und absurden Nachweise, dass sich kein heimischer Arbeitnehmer für diese Arbeit findet, kann man sich dann sparen. Panu Poutvaara, Leiter des Ifo-Zentrums für Migrationsforschung, nimmt an, dass derzeit eine Bruttolohnschwelle von 34000 Euro Jahresgehalt nötig ist, die sicherstellt, dass alle von der Immigration profitieren.

    Sinnvoll wäre es, dass auch Migranten ohne feste Jobzusage befristet eine Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Allerdings sollten sie dann nicht sofort alle Sozialleistungen bekommen, um nicht wie die verschleppten bulgarischen Armutsflüchtlinge dauerhaft zu Hartz-IV-Fällen mit allen negativen ökonomischen und sozialen Folgen zu werden. Hans Werner Sinn, der ehemalige Ifo-Chef, unterscheidet zwischen ererbten und erarbeiteten Ansprüchen. Erarbeitete Ansprüche sind solche, die man selbst durch Steuern und Abgaben finanziert hat, also Leistungen aus der Renten-, Unfall-, Arbeitslosen- oder Krankenversicherung. Ererbte Ansprüche stammen aus der Grundsicherung, die jeder genießen darf, wenn er nicht oder noch nicht arbeiten kann. Dazu zählen Sozialhilfe, Kindergeld oder Hartz-IV-Leistungen und wohl auch Bildung.

    Der Clou an der Unterscheidung: Erarbeitete Leistungen können sofort vom Gastland gewährt werden, für ererbte Ansprüche muss das Heimatland aufkommen. Der Vorschlag hat einen doppelten Vorteil: Die Freizügigkeit, auswandern zu dürfen, wird nicht eingeschränkt; ob innerhalb der EU oder von außen spielt dabei eine eher nebensächliche Rolle. Aber auch der Sozialstaat wird durch Migration nicht gesprengt. Warum bloß machen sie die demokratischen Parteien diesen Vorschlag nicht zu eigen?

    Rainer Hank