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  • 05. September 2023
    Inflation der Demokratie

    Lauter aufrechte Demokraten: die Band Madsen Foto Madsen/Dennis Dirksen

    Dieser Artikel in der FAZ

    Im Kampf gegen den Populismus gerät einiges durcheinander

    Kennen Sie Madsen? Kannte ich bislang auch nicht. Das sind drei etwas in die Jahre gekommene Brüder, die seit zwanzig Jahren eine offenbar sehr erfolgreiche Indi-Rock-Band betreiben und sich jetzt verschuldet haben, um endlich ihre eigene Plattenfirma zu gründen. Aus Anlass eines neuen Albums haben sie darüber kürzlich im ARD-Fernsehen berichtet. »Seid ihr eigentlich demokratisch organisiert oder gibt es einen, der entscheidet?«, wollte der Moderator wissen. Sie seien schon sehr demokratisch verfasst, bekannte Sebastian, einer der Madsen-Brüder.

    Die Antwort klingt merkwürdig. Ich dachte immer, Demokratie heißt, dass eine oder einer entscheidet, weil die Mehrheit ihr (oder ihm) dazu die Macht für eine Zeitlang verliehen hat. Also wäre die Frage des Moderators sinnlos und die Antwort von Sebastian würde auf einem Missverständnis beruhen. Offenbar haben die Madsen-Brüder sich gerade nicht demokratisch auf einen Sprecher aus ihrer Mitte geeinigt. Womöglich diskutieren sie alles stundenlang aus, womöglich fallen Entscheidungen zufällig. Man könnte das dann Anarchie nennen, vielleicht auch herrschaftsfreie Kommunikation oder Diktatur des Sitzfleisches. Nur eines ist sicher: Mit Demokratie hat es ziemlich wenig zu tun.

    Der Demokratiebegriff muss heutzutage für vieles herhalten. Es geht um das Gute, Wahre und Schöne. Und gegen die Feinde der Demokratie, das sind natürlich die anderen, vulgo die Populisten. Gegen die müssen sich alle aufrechten Demokraten zusammenschließen, um eben diese Demokratie zu retten. Und wenn die guten Bürger das nicht von alleine hinkriegen, dann müssen sie moralisch aufgerüstet werden durch »Staatsbürgerkunde, Erinnerungsorte der Demokratie und Steinmeier-Reden, also durch eine zivilreligiöse Fundierung per präsidialer Selbstergriffenheit.« Derart hübsch hat es der Politikwissenschaftler Philip Manow jüngst in einem Aufsatz der Zeitschrift »Merkur« formuliert. Kein Wunder, dass allerorten, üppig finanziert von Staat und Stiftungen, Initiativen zur Stärkung der Demokratie erblühen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt zusammenkitten.

    Der Gegensatz zu Demokratie ist Anarchie oder Aristokratie

    Mir sind Populisten auch nicht besonders sympathisch. Man kann ihnen sicher vieles vorwerfen. Aber eines gewiss nicht: dass sie nicht demokratisch seien. Viktor Orban in Ungarn oder Benjamin Netanjahu in Israel sind auf demokratische Weise an die Macht gekommen. Auch der AfD-Bürgermeister in Moxa (Thüringen) oder der AfD-Landrat in Sonneberg wurden, nach allem, was bekannt ist, mit den Stimmen der Mehrheit der Bürger gewählt. Sie sind weder Putschisten noch Anarchisten. Sondern Demokraten. Als CDU-Chef Friedrich Merz diese Selbstverständlichkeit in einem Interview ausgesprochen hat und hinzufügte, solche demokratischen Wahlentscheidungen seien von Demokraten zu respektieren, wollte der Zeitgeist ihn in flagranti des Rechtsextremismus überführen.

    Noch einmal: Demokratie nennen wir das Verfahren der zeitlich begrenzten Legitimation politischer Macht durch Mehrheitsentscheidung der Bürger. Der Gegensatz zur Demokratie ist die Anarchie oder die Aristokratie oder die Monarchie. Aber eben gerade nicht der Populismus. Konsequenterweise kann man dann auch nicht den Populismus mit präsidialen Initiativen zur Stärkung der Demokratie bekämpfen. Denn auch die Populisten nehmen ja gerade für sich in Anspruch, sie wollten sich »die Demokratie zurückholen« (Hubert Aiwanger). Allenfalls könnte man sich aus der Affäre ziehen und zwischen »guten« Demokraten (links, grün, liberal) und »bösen« Demokraten (rechts, rechtsextrem) unterscheiden und letzteren unterstellen, sie wollten, einmal an der Macht, die Demokratie abschaffen.

    Die klügere Antwort auf die Bedrohung der Politik durch den Populismus heißt denn auch: Nicht Stärkung, sondern (Selbst)begrenzung der Demokratie schützt vor Extremismus. Allein die Tatsache, dass sie durch Wahlen an die Macht gekommen sind, berechtigt Politiker nicht dazu, nach Belieben zu schalten und zu walten. Eine geschriebene Verfassung, unabhängige Gerichte, unabhängige Zentralbanken, eine Freie Presse, autonome Behörden zur Durchsetzung von wirtschaftlichem Wettbewerb – all solche Institutionen begrenzen die Macht der Demokraten. Die Berufung der Populisten auf die Legitimation der Macht durch Mehrheit läuft dann ins Leere. Es geht darum, das Recht der Minderheit gegen demokratische Mehrheit zu schützen. Und es geht darum, dem Einzelnen gegen Mehrheitsentscheidungen zu seinem Recht zu verhelfen. So gesehen wäre es der Rechtsstaat, der sich als Gegengewicht gegen die Mehrheitsdemokratie (und sie anführende Populisten) in Stellung zu bringen hätte: als liberales und humanes Korrektiv. Demokratieskepsis, nicht Demokratiepathos, wäre die Aufgabe der politischen Bildung.

    Da hilft nur der politische Wettbewerb

    Indessen, und auch diesen Hinweis verdanke ich Philip Manow, berufen sich stets gerade jene Bürger auf rechtsstaatliche Institutionen, denen die ganze Richtung der aktuellen Politik nicht passt. Als die AfD in ihrer Frühzeit den Euro bekämpfte, kam der Partei das deutsche Verfassungsgericht als Bundesgenosse gegen Parlament und Regierung gerade recht. Die israelische Arbeiterpartei (Mapei) und ihre überwiegend säkulare, dem Establishment zugehörige Wählerschaft lehnte jahrzehntelange richterliche Kompetenz zur Normenkontrolle der Regierung ab. Sie setzt sich erst von da an für mehr richterliche Unabhängigkeit ein, seit sich die politischen Mehrheitsverhätnisse zu ihren Ungunsten entwickeln. Wenn es dann auch noch gelingt, den politischen Machtkampf rhetorisch als Schlacht der Demokraten gegen die Feinde der Demokratie auszugeben – umso besser.

    Es ist vertrackt. Nicht nur die Demokratie, sondern auch der Rechtsstaat und seine vor der demokratischen Mehrheit geschützten Institutionen sind nicht davor gewappnet, von politischen Interessen gekapert zu werden. Auch der Liberalismus schützt nicht per se vor Populismus, wiewohl viele Populisten heutzutage den Liberalismus als ihren Lieblingsfeind erachten.

    Was hilft dann? Es hilft die strikte zeitliche Begrenzung der Macht, mithin das Grundgesetz des politischen Wettbewerbs in der Demokratie mit seinem Imperativ: Beim nächsten Mal könnten die anderen an die Macht kommen. Wenn Netanjahus rechtsreligiöse Regierung wirklich so schlimm ist, wie ihre Gegner behaupten, dann muss diese Regierung von der Mehrheit abgewählt werden. Wenn die AfD wirklich so gefährlich ist, wie viele behaupten, dann sollen die anderen halt dafür kämpfen, dass bei der nächsten Wahl ihre Stimmen mehr so viele sind wie bei den derzeitigen Umfragen. Das ist Demokratie. Und nicht das ganze Wertegesäusel des Guten, Wahren und Schönen.

    Rainer Hank