Rainer Hank als Illustration

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  • 22. Juni 2020
    Ein Nachruf auf das Büro

    Cubed: Das Büro als Fließband der kleinen Zellen Foto unsplash

    Dieser Artikel in der FAZ

    Zuhause zoomen ist auf Dauer auch keine Lösung

    In der ersten Folge der amerikanischen Fernsehserie »The Office« droht der Filiale der Papiergroßhandelsfirma Dunder Mifflin Inc. in Scranton, Pennsylvania, die Schließung und den dortigen Angestellten die Entlassung. Jim, ein Vertriebsmitarbeiter – notorisch gelangweilt und wenig motiviert – bekommt die Krise: »Wenn ich jetzt entlassen werde«, sinniert er, »wo soll ich dann den ganzen Quatsch in meinem Kopf lassen: Den Tonnen-Preis von Manila-Ordnern und dass Pamela am liebsten Waldfrüchte-Joghurt mag«. Der Ausspruch bringt eine ganze Büro-Existenz auf den Punkt: Der Angestellte muss sich Sachen merken, die niemand sonst braucht: Wer weiß schon, was Manila-Ordner sind? Das Wissen über den Lieblingsjoghurt der attraktiven Pam ist auch nur deshalb nützlich, weil Jim seit langem hinter der Kollegin her ist. Kurzum: Das Büro ist viel mehr bloß als ein Ort zum Geldverdienen. Es ist ein Mikrokosmos menschlichen Wissens und menschlicher Gefühle.

    Wenn der Eindruck nicht täuscht, dann geht es mit dem Büro jetzt zu Ende. Corona gab ihm den Rest. Ein Nachruf ist überfällig.

    Ob ein Abgesang nicht verfrüht sei, fragt mein Bekannter, der Soziologe. Totgesagte leben bekanntlich besonders lang. Sicher fühlte ich mich erst, als ich las, dass allein der persönliche Aktienanteil des Zoom-Gründers – Eric Yuan heißt der Mann – an seinem Unternehmen Anfang Juni auf über zehn Milliarden Dollar gestiegen ist. Yuan hat das Unternehmen vor neun Jahren gegründet, bis vor vier Monaten hatte ich noch nie von Zoom gehört und plötzlich zoomt die ganze Welt. Täglich dreihundert Millionen Teilnehmer bei virtuellen Meetings gab es im April. Zoom ist das Symbol dafür, dass die Symbiose des Angestellten mit seinem Büro vorbei ist.

    Controller in den Firmen und Urbanisten an den Universitäten sind sich plötzlich einig, dass das Büro teuer ist, sein Nutzen aber zweifelhaft. Es verschlingt hohe Quadratmeter-Kosten in bester City-Lage und steht häufig leer, während die Angestellten auf Dienstreisen oder beim Kunden sind. Einen Schreibtisch kann jeder zuhause aufstellen, notfalls tut es auch der Küchentisch. Wenn die Kinder in Nach-Corona-Zeiten wieder in Schule sein werden, wird es in den Reihenhäusern der Vorstädte ruhig und konzentrierte Arbeit möglich. Der Harvard-Ökonom Ed Glaeser, einer der führenden Urbanisten, kann zeigen, dass Hauspreise und Pendlerkosten stets im Gleichgewicht sind. Das bedeutet, vereinfacht gesagt: Häuser und Gärten werden größer und billiger, je weiter sie vom Arbeitsplatz entfernt sind. Dafür muss der Angestellte dann aber lange Wege in überfüllten U- oder Autobahnen (und die entsprechenden Fahrtkosten) in Kauf nehmen. Kaum etwas macht Menschen so unzufrieden wie die Pendelei zum und vom Arbeitsplatz.

    Partner findet man jetzt bei Tinder

    Kurzum: Wenn der Controller in der Firma Geld und der Angestellte zuhause Zeit spart, dann könnte eine Interessengleichheit vorliegen, die am Ende dem Büro den Garaus macht. Solche Umschichtungen sind nichts Ungewöhnliches: Computerisierung und Digitalisierung führen längst dazu, dass viele Bürotätigkeiten (der Bote oder die Sekretärin) überflüssig wurden. Zumal, denken wir an Pamela und den Waldfrüchtejoghurt, das Büro seine traditionelle Funktion als Partnerschaftsanbahnungs- und -vermittlungsagentur längst an Tinder & Co. abgegeben hat. Jede vierte Angestellte hat in den guten alten Zeiten einen Kollegen aus der Firma geheiratet. Das lässt sich jetzt marktwirtschaftlich gesehen zielgenauer und vermeintlich risikoverminderter über eine Dating-Plattform matchen.

    Ziellos mit der Kollegin im Türrahmen plaudern

    Ob das alles unterm Strich ein Fortschritt ist, werden wir sehen. Sicher aber ist: Das allmähliche Verschwinden des Büros wäre auf jeden Fall auch ein Verlust. Ich erinnere mich an meine ersten Schülerjobs im Büro einer Bank, wo die Männer in ihren blütenweißen Hemden, jeder mit Krawatte, lautlos ihre Papiere beschrieben, sie dann in braunen Umschlägen (»Manila-Ordner«, so heißen die offiziell wirklich) in eine Rohrpost-Büchse einrollten, die mit ordentlichem Krach irgendwo in den Tiefen der Wände verschwand. Bis heute habe ich nicht verstanden, wie diese Rohrpostbüchsen wissen konnten, in welchem Zimmer welchen Stockwerks sie wiederauftauchen mussten. Nachdem ich selbst fünfunddreißig Jahre lang als Büromensch gearbeitet habe, würde ich das informelle Gespräch im Türrahmen als die wichtigste Quelle der Kreativität werten: Eine Plauderei (kein Meeting!), die ziellos mit der Kollegin des Nachbarbüros begonnen, endet plötzlich mit einer gemeinsam gefundenen Lösung für ein Problem, das zu lösen gar nicht Ziel des Gespräch war. Die Soziologen haben für diese Erfahrung einen Begriff: Serendipity, definiert als eine zufällige Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als Entdeckung erweist. Der Entzug von Serendipity wäre vermutlich der größte menschliche und volkswirtschaftliche Schaden, den der Tod des Büros mit sich brächte. Beim einsamen Entladen der Spülmaschine zuhause kommen einem solche Einfälle eher selten.

    Doch das sind persönliche Eindrücke. Ein Nachruf muss auch die Geschichte des Verstorbenen erzählen. Der Beruf des Schreibers, den es seit der Antike gibt, ist ein früher Verwandter des Angestellten. Der Bankier in den Städten der italienischen Renaissance ist es ebenfalls. Im großen Stil wurden erstmals bei der East Indian Company, dem ersten Großunternehmen der Wirtschaftsgeschichte, im frühen 18. Jahrhundert über dreihundert Notare und Buchhalter beschäftigt. Während aber noch Mitte des 19. Jahrhunderts die Angestellten nicht besonders gut angesehen waren, weil sie – anders als Bauern, Fabrik- oder Bauarbeiter – nicht wirklich etwas herstellten, haben sich die Weißkittel im Lauf der immer arbeitsteiliger organisierten Welt mehr und mehr den Vorrang vor den Blauhemden gesichert. Der Mann der Verwaltung stand spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts über dem Mann der Fabrik und brachte mehr Geld nachhause. Das Großraumbüro, das es übrigens schon in Frank Lloyd Wrights berühmten »Larkin Building« von 1904 gibt, imitiert das Fließband der Fabrik, doch der »organisation man«, der loyal alle Werte seines Unternehmens absorbiert, sollte am Ende obsiegen (mehr zu Soziologie des Büros findet sich in dem faszinierenden Buch von Nikil Saval: Cubed. A Secret History of the Workplace).

    Auflösungserscheinungen waren lange vor der Corona-Krise schon zu beobachten: Der Ruf des Fließbandbüros verschlechterte sich. Seit den Tagen der New Economy mussten Yoga-Trainer und Feng-Shui-Konzepte her. Wer besonders kreativ sein wollte, ging nach dem Lunch zum Tischfußballkicker, um seine Aggression abarbeiten und anschließend frisch motiviert seinen Chef beeindrucken zu können. Weil das Büro – unter dem Namen Co-Working-Space – immer mehr einem privaten Café mit angeschlossenem Laptop ähnelte, verstand am Ende keiner mehr, warum es dazu noch eines teuren Glashauses in 1–A-Lage bedurfte. In den Corona-Zeiten haben wir nun gelernt, dass der Laden auch läuft, wenn nur der Top-Manager und der Hausmeister – eher aus Nostalgie – zuweilen im Office vorbeischauen, der Rest aber zuhause vor sich hinzoomt.

    Mit diesem traurigen Ende sollten wir uns dann doch nicht abfinden. Womöglich gründet sich bald eine Volksinitiative zur Rettung des Büros. Ich demonstriere mit!

    Rainer Hank