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  • 28. Januar 2020
    »Ein ganzes Volk bockt«

    Franz Böhm (1895 bis 1977) Foto: Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt am Main

    Dieser Artikel in der FAZ

    Franz Böhm und der Antisemitismus der Deutschen

    Unter der Überschrift »Der Antisemitismus und die Deutschen« erschien im September 1950 in der von Dolf Sternberger herausgegebenen Zeitschrift »Die Gegenwart« ein Essay des Frankfurter Rechtsprofessors Franz Böhm. Nach Ablauf einer Schrecksekunde seien in Deutschland die Antisemiten längst wieder aus ihren Mauselöchern hervorgekrochen, diagnostiziert der Autor. Dass es sich bei den antisemitischen Exzessen, etwa den Schändungen von Gräbern auf jüdischen Friedhöfen, bloß um individuelle Hass- und Racheakte handle, bestreitet Böhm: allemal zeichne den Judenhass in Deutschland eine »eine terroristische, kollektivistische Note« aus.

    Zu Böhms Essay gab es zahlreichen Zuschriften, die alle das gleiche Schema aufwiesen: »Ich bin ein friedfertiger Mensch und habe nichts gegen Juden, aber…« Unter »aber« wird aufgezählt, wie viele Juden Ärzte oder Rechtsanwälte seien und dass sie sich jetzt mehr von ihren »arisierten« Gütern zurücknähmen als ihnen zustünde. Kurzum: Das »aber« der Zuschriften ist das Dementi der zuvor gemachten Behauptung und das Eingeständnis von blankem Antisemitismus. »Wie unvorsichtig von dem Mann, sich so zu zeigen«, beschreibt Franz Böhm seine Reaktion beim Anblick eines galizischen Juden in Kaftan und mit Schläfenlocken an der Frankfurter Konstablerwache. Und er kommentiert die ihn selbst erschreckende Reaktion: »So weit sind wir gekommen.«

    Der Antisemitismus war nie weg

    Vor 75 Jahren, am 27. Januar 1945, wurde das KZ Auschwitz von der Roten Armee befreit. Gelegentlich heißt es heute, der Antisemitismus nehme im Maß des zeitlichen Abstands vom Holocaust wieder zu, weil die Verbrechen der Nazis in Vergessenheit geraten seien. Liest man Franz Böhms Essay aus dem Jahr 1950, so wird man feststellen: Der Antisemitismus war nie weg, noch nicht einmal in den Jahren unmittelbar nach dem Ende der Naziherrschaft.

    Wer war Franz Böhm? Im Gedächtnis ist er heute, wenn überhaupt, als einer der Väter der »Freiburger Schule«, der wir die »soziale Marktwirtschaft« verdanken. Geboren 1895, studiert Böhm Jura in Freiburg und arbeitet zunächst als Staatsanwalt. Wichtig wird der Kontakt mit der Dichterin Ricarda Huch, deren Tochter er 1923 auf Schloss Elmau (eine Art Partnerschaftsplattform des Bildungsbürgertums) kennenlernt und 1926 heiratet. Mit einem Aufsatz über »Das Problem der privaten Macht« (1928), in dem es um die schädliche Wirkung der damals beliebten Kartelle ging, macht der junge Gelehrte von sich reden. Für Böhm folgt daraus: Der Staat muss für Wettbewerb sorgen, um die Vermachtung der Wirtschaft zu verhindern. Es sollte sein Lebensthema werden und zugleich der Grundgedanke des von den Freiburger Autoren selbst »Neoliberalismus« genannten Konzepts der Marktwirtschaft, das so gar nichts mit dem heute kursierenden Zerrbild des Turbokapitalismus gemein hat. In den fünfziger Jahren wird Böhm – jetzt als Juraprofessor an der Universität Frankfurt und zugleich Bundestagsabgeordneter für die CDU – maßgeblich beteiligt sein an der Erarbeitung des Kartellgesetzes der Bundesrepublik.

    Viel weniger bekannt ist Böhms historische Leistung als Leiter der Regierungsdelegation, die 1952 im holländischen Wassenaar die Wiedergutmachungsverhandlungen mit Israel führte und mit Erfolg zu Ende brachte. Aus heutiger Sicht wird man den Begriff »Wiedergutmachung« als verharmlosend kritisieren und den damit verbundenen Versuch einer »Umwandlung von Schuld in Schulden« (so der Historiker Constantin Goschler) zur Wiederherstellung der internationalen »Kreditwürdigkeit« Deutschlands problematisieren müssen. Doch damals gab es aus ganz anderen Gründen massive Widerstände gegen die Wiedergutmachung, nicht nur in der deutschen Bevölkerung (»muss das sein?«), sondern auch von Teilen der Eliten, etwa dem CSU-Finanzminister Fritz Schäffer oder dem FDP-Justizminister Thomas Dehler, der die Wiedergutmachung als quasi jüdisch inspirierte Politik zur Vernichtung der deutschen wirtschaftlichen Leistungskraft verdächtigte. Auch Hermann Josef Abs, Chef der Deutschen Bank, der zeitgleich in London mit den Alliierten über den Nachlass der deutschen Auslandsschulden verhandelte, zählte zu den Gegnern der Wiedergutmachung. Abs, ganz Bankier, hatte sich auf den Standpunkt gestellt, man könne nicht mit den internationalen Gläubigern der Bundesrepublik über einen Schuldenerlass verhandeln und zugleich gegenüber Israel eine neue Schuld eingehen. Franz Böhms Coup bestand darin zu verhindern, dass es am Ende so aussah, als wolle Deutschland aus der Tasche der anderen Gläubigernationen die israelischen Forderungen befriedigen.

    Die Deutschen fühlten sich als Opfer

    Merkwürdig: Die Deutschen verstanden sich nach 1945 nicht als Täter, sondern als Opfer, die in Bombenkrieg, nach Flucht und Vertreibung und in den Entbehrungen der Nachkriegszeit viel zu leiden hatten. »Insgesamt dominierte in den frühen fünfziger Jahren eine negative Haltung gegenüber der Wiedergutmachung«, konstatiert der Historiker Constantin Goschler. In einer Umfrage sprachen sich 96 Prozent der Befragten für Hilfen für die Kriegswitwen aus, 93 Prozent wollten die Luftkriegsopfer entschädigen, aber lediglich 68 Prozent waren für Hilfsleistungen an Juden. Und selbst unter dieser Gruppe der Befürworter stimmten knapp 60 Prozent der These zu, die Juden seien »teilweise selbst dafür verantwortlich, was ihnen im Dritten Reich widerfahren sei«. Lakonisch kommentierte Franz Böhm: »Was soll man tun, wenn ein ganzes Volk bockt?« Und bitter ironisch fügt er hinzhu: »Schuldige an der Verfolgung hat es nicht gegeben, und wo steht geschrieben, dass Unschuldige eine Tat wiedergutmachen sollen?«

    Vor diesem Hintergrund erstrahlt Franz Böhm, der in der Nazizeit Berufsverbot hatte, umso mehr als Ausnahmegestalt. In einem auch heute noch lesenswerten Vortrag über »Die politische und soziale Bedeutung der Wiedergutmachung«, gehalten 1956 bei den Hessischen Hochschulwochen und abgedruckt im Sammelband »Entmachtung durch Wettbewerb« (Lit-Verlag 2007), insistiert Böhm darauf, dass Wiedergutmachung der Verbrechen an den Juden auch nach dem unter den Nazis geltenden Recht (BGB) zwingend geboten war, mithin nicht erst eine Art freiwilliger Gnade der Wiedergutmachungsgesetze sei. Im Unterschied dazu seien die Kriegsopfer oder Flüchtlinge nicht wie die Juden durch ein Verbrechen, sondern »durch das Schicksal« geschädigt worden. Das ist ein himmelweiter Unterschied und das Gegenteil der damals volkstümlichen Meinung, die dem Lastenausgleich für Bomben- und Währungsgeschädigte Vorrang gibt vor der »unvolkstümlichen« Wiedergutmachung für Israel und die Juden.

    Die kühle Conclusio des Wirtschaftsjuristen Franz Böhm lautet: »Wir haben uns wie ein unsauber handelnder Verein benommen, der in Konkurs gerät und zunächst einmal Geldanteile von dem Vermögen an seine eigenen Mitglieder ausschüttet, bevor er seine Gläubiger und vor allen Dingen Gläubiger aus Unrechtshandlungen befriedigt.« Die Deutschen haben – keine zehn Jahre nach dem Krieg – zuerst an sich als »Opfer« der Nazizeit gedacht, bevor sie an die Opfer ihrer Verbrechen denken wollten. »Unsauber« ist das mindestes, was man dazu sagen kann.

    Rainer Hank