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  • 20. Juli 2023
    Die Caritas-Legende

    Subsidiarität konkret Foto St. Antonius Reichshof

    Dieser Artikel in der FAZ

    Schwächen schwache Kirchen den Sozialstaat?

    Die beiden großen Kirchen verlieren Mitglieder. Das vergangene Jahr war aus kirchlicher Sicht besonders schlimm: Eine halbe Million Gläubige haben die katholische Kirche verlassen; auf 380.000 addiert sich der Aderlass in der evangelischen Kirche. Insgesamt bekennen sich heute noch 47,5 Prozent der Deutschen zu einer der beiden großen Konfessionen – und zahlen dort Mitgliedsbeiträge, genannt Kirchensteuer. Dass die Kirchen solch tektonischen Verschiebungen scheinbar gelassen hinnehmen, liegt nicht nur an ihrer offenkundigen Hilflosigkeit, sondern auch an der Tatsache, dass das Kirchensteueraufkommen – bedingt durch den robusten Arbeitsmarkt und gute Lohnerhöhungen– weiter steigt: auf den Rekordwert von 13 Milliarden Euro im Jahr 2022.

    Ein Vergleich mit dem Jahr 1950 macht den Bruch deutlich. Damals waren 51,1 Prozent der Deutschen evangelisch und 45,8 Prozent katholisch. Die frühe Bundesrepublik war einmal eine christliche Gesellschaft. Das heißt natürlich nicht, dass die Deutschen besonders fromm oder besonders moralisch gewesen wären. Die Religionssoziologen bieten die hilfreiche Unterscheidung von »belonging« und »believing«: Mitglied zu sein in einer Religionsgemeinschaft gibt wenig Aufschluss darüber, was einer glaubt. Man kann der katholischen Kirche angehören und Agnostiker sein.

    Was mich interessiert, sind die Folgen des Schwunds, nicht seine Ursachen. Was bedeutet es für die Gesellschaft, dass die Christen in der Minderheit sind? Das ist noch nicht annähernd zu Bewusstsein gekommen. Man kann es staatskirchenrechtlich, fiskal- und sozialpolitische durchdenken. Staatskirchenrechtlich wird man fragen müssen, warum sich der Staat zum Steuereintreiber für die Religionsgemeinschaften machen lässt. Das mag in einer christlichen Gesellschaft gerechtfertigt sein. Doch jetzt lässt sich der Staat für eine Minderheit in Dienst nehmen. Die Kirchen verweisen gerne darauf, dass sie die staatlichen Finanzbeamten für ihre Dienste entlohnen. Doch das entkräftet nicht das Argument fehlender Legitimation. Anachronistisch mutet auch an, dass der Staat an vielen Universitäten theologische Fakultäten finanziert, deren Berufungspolitik (inklusive der Beurteilung der »Rechtgläubigkeit« der Lehrenden) von den Kirchen überwacht wird. Mit Wissenschaft hat das vielerorts nur noch wenig zu tun. Die theologischen Fakultäten wurden trotzt schrumpfender Kirchen kaum geschrumpft, obwohl die Studenten (erst recht die, die Priester werden wollen) seit Jahren ausbleiben.

    Nachdenken könnte man auch über den Religionsunterricht, dessen Legitimation ebenfalls bröckelt, wenn er sich nur an eine Minderheit richtet. Kurios ist, dass der deutsche Staat den Kirchen Jahr für Jahr eine Entschädigung von 600 Millionen Euro zahlt als Ausgleich für die Enteignung des rechtsrheinischen Kirchenvermögens durch Napoleon im Jahr 1803.

    Leidet die Barmherzigkeit?

    Doch was ist mit der kirchlichen Wohltätigkeit? Tun die Kirchen nicht seit Alters her viel Gutes, Werke der Barmherzigkeit, die wegfielen, wenn es irgendwann keine Kirchen mehr gibt oder ihnen zumindest das Geld dafür fehlt? So groß die Empörung über den Missbrauch und seine skandalöse Nicht-Aufarbeitung ist, so unangemessen sei die (Schaden)freude mit Blick auf den Sozialstaat, ist zu hören. Systematisch würden beide Kirchen an vielen Orten Kindertagesstätten an die Kommunen zurückgeben müssen, ebenso Schulen und Pflegeeinrichtungen, klagt der Münsteraner katholische Kirchenrechtler Thomas Schüller. Dann müsse der Staat diese selbst betreiben, was zu Steuer- und Gebührenerhöhungen führen werde. »Der Glaube, man könne sich darüber freuen, dass die Kirchen zu Minderheitskirchen werden, hat den bitteren Nachgeschmack, dass das für die gesamte Bevölkerung teuer wird«, sagt Schüller.

    Hier irrt der Theologe. Was viele nicht wissen: Die kirchliche Nächstenliebe speist sich nicht mit kirchlichem Geld, sondern zum weitaus größten Teil aus Zuwendungen des Staats (Subsidiaritätsprinzip), Gebühren der Kunden (Eltern, Pflegebedürftige, Kranke) und Spenden (Erbschaften). Ein katholischer Kindergarten erhält Mittel vom Staat und nimmt Preise von den Eltern. Das Gehalt der Kindergärtnerinnen wird zwar formal von der Kirche bezahlt, die sich dies aber beim Staat zurückholt. Dominik Enste, Leiter des Clusters Verhaltensökonomik und Wirtschaftsethik am Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, schätzt, dass maximal zehn Prozent der Finanzen der kirchlich getragenen Sozialindustrie von den Kirchen aufgebracht wird. Diakonie und Caritas managen ein Umsatzvolumen von rund 50 Milliarden Euro, wovon zwischen zwei und sechs Prozent von den Kirchen kommen. Carsten Frerk, Lobbyist der humanistischen Giordano-Bruno-Gesellschaft, spricht von der »Caritas-Legende«: Am Türschild steht »Kita St. Josef«. Aber außer der Trägerschaft ist da nicht mehr viel Katholisches drin. Geschickt verstehen es die Kirchen, Kosten an den Staat zu externalisieren, Personalhoheit und weltanschauliche Hoheit aber zu verteidigen. Immerhin haben die Katholiken inzwischen ihr Arbeitsrecht liberalisiert.

    Kurzum: Der Sozialstaat geht nicht unter, sollten die Kirchen untergehen. Er hat auch kein Finanzierungsproblem. Das fehlende Geld könnte er sich zurückholen, wenn er beispielsweise den Kirchen einen Teil ihrer Privilegien streicht (so zahlt die Kirche zum Beispiel keine Kapitalertragssteuer auf ihre Vermögensgewinne). Und es ergäben sich Marktchancen für neue Anbieter, wenn das kirchliche Sozialkartell erodiert.

    Weniger Burnout bei den Freikirchlern

    Aber womöglich sinkt die Qualität des Sozialen? Man könnte ja vermuten, dass man im evangelischen Altersheim aufopferungsvoller gepflegt und im katholischen Krankenhaus liebevoller versorgt wird. Gute Daten gibt es nicht. Gerhard Wegner, langjähriger Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche, erzählt mir von einer Untersuchung zur Frage, ob es in evangelischen Einrichtungen weniger Burnout und Stressunverträglichkeiten gibt als in staatlichen. Die Studie haben keine Unterschiede gefunden – mit einer Ausnahme: Mitarbeiter streng evangelikaler Freikirchen, die an einen engen Zusammenhang von irdischer Leistung und himmlischem Lohn glauben, wurden weniger von Burnout heimgesucht und zeigten sich religiös resilienter als branchenüblich.

    Es mag gute Gründe geben, religiös zu sein. Aber es gibt – frei nach Niklas Luhmann  – heute anders als früher keinen außerreligiösen Grund, religiös zu sein. Anders gesagt: Man mag es bedauern, dass die Kirchen in einer ihrer größten Krise stecken. Die Angst vor dem Untergang des Sozialstaats muss darob niemand befallen.

    Rainer Hank