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  • 07. Dezember 2020
    Ab ins Schlaraffenland

    There is no free lunch? Foto Klaus Hausmann/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Gibt es die Corona-Milliarden für umsonst?

    Milton Friedman (1912 bis 2006) war einer der großen Ökonomen des 20. Jahrhunderts. Sein vermutlich berühmtester Satz lautet: »There ain’t no such thing as a free lunch.«. Feinschmecker benutzen dafür gerne das Akronym »TANSTAAFL«. Friedman hat das Diktum nicht erfunden, aber nachhaltig popularisiert: Demnach gibt es nichts umsonst auf dieser Welt, irgendeiner muss die Zeche am Ende zahlen.
    Das Diktum Friedmans versteht sich als Kritik an Regierungen, die ihren Bürgern vorgaukeln, sie mit Wohltaten zu beglücken, ohne dass es etwas kostet. Die Umsonst-Verheißung lautet: Wir besteuern lediglich die großen Konzerne oder wir lassen die Notenbanken das Geld drucken. Friedman zertrümmert beides. Wenn der Staat Steuern von den Unternehmen nimmt, kommt dieses Geld in Wirklichkeit von realen Menschen: entweder von den Kunden oder den Mitarbeitern oder den Aktionären dieser Firma. Und wenn die Notenbank mehr Geld druckt, konsumieren die Leute mehr, die Unternehmen erhöhen die Preise – und am Ende gibt es Inflation, nichts anderes als eine Art von Steuer, die alle Bürger entrichten müssen.

    Friedmans Lehre galt lange Jahre als Dogma. Auch Staatschulden gibt es nicht umsonst, die Rechnung kommt nur später getreu der Devise: Die Schulden von heute sind die Steuern von morgen. Staatsschulden wären demnach ein besonders perfider und ungerechter Anwendungsfall von TANSTAAFL: Das Geld beglückt die Bürger von heute und bringt den aktuellen Regierungen zum Dank dafür Wählerstimmen. Die Kosten übernehmen die Kinder und Enkelkinder, die gar nichts bestellt hatten.

    Nimmt man Friedman beim Wort, muss man sich über die Ausgaben-Orgien in Zeiten der Pandemie Sorgen machen, selbst wenn man der Meinung wäre, zu den »größten Rettungspaketen der Geschichte« gäbe es keine Alternative. Die deutschen Staatschulden liegen mit über zwei Billionen Euro so hoch wie noch nie. Im kommenden Jahr will der Finanzminister noch einmal 180 Milliarden Euro am Kapitalmarkt aufnehmen. Die Schuldenbremse des Grundgesetzes, nach der der Bund konjunkturbereinigt einen ausgeglichenen Haushalt ausweisen sollte, ist angesichts unserer »außergewöhnlichen Notsituation« außer Kraft gesetzt. Ende des Jahres wird die Verschuldung des Staates in Relation zum Bruttoinlandsprodukt von unter 60 auf 75 Prozent anwachsen – und das ist erst der Anfang. Zum Vergleich: 1950, am Beginn des deutschen Wirtschaftswunders, lag die Schuldenquote noch unter 20 Prozent.

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    Indessen ist eine wachsende Zahl heutiger Ökonomen der Meinung, Friedman sei überholt. Sie berufen sich dabei schlicht auf Arithmetik. Die Realzinsen vieler Länder sind schon seit geraumer Zeit leicht negativ, mithin so niedrig wie noch nie. Demgegenüber ist das Wachstum entwickelter Volkswirtschaften moderat positiv, sieht man einmal von dem Corona-Jahr 2020 ab. Sofern der Zins, den die Staaten für ihre Schulden zahlen müssen, auch auf längere Sicht niedriger bleibt als das jährliche Wachstum, verschwinden die Staatschulden mit der Zeit wie durch Zauberhand, ohne dass dafür die Steuern erhöht, die Ausgaben gekürzt und Kinder oder Enkel zur Kasse gebeten werden müssten. Denn der Schuldenstand im Zähler wächst langsamer als das BIP im Nenner. Bei Negativzinsen macht der Staat dabei sogar noch ein Geschäft: Mit 180 Milliarden Euro Neuverschuldung »erwirtschaftet« er etwa eine zusätzliche Milliarde an Einnahmen.

    »Wir sind heute ziemlich nah an einem Free Lunch«: Mit diesem Satz attackiert Moritz Schularick das Friedman-Dogma. Schularick, ein in Bonn und New York lehrender Ökonom der jüngeren Generation, hat Ende November in einem aufregenden Vortrag am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung vorgeschlagen, das Refinanzierungsrisiko des Staates durch lange Laufzeiten der Anleihen zu entschärfen. Dann erledigt sich die Tilgung quasi von alleine: »Je länger die Laufzeiten, umso mehr Lunch kriegen wir.«

    Neben der Arithmetik hat das neue Free-Lunch-Theorem die Wirtschaftsgeschichte der vergangenen zehn Jahre auf seiner Seite. Tatsächlich lag die Staatschuldenquote nach der großen Finanzkrise des Jahres 2008 hierzulande schon einmal bei 82,4 Prozent (2010). Ganz ohne Austeritätsprogramme und ohne Steuererhöhungen ging die Quote bis 2019, also vor Corona, auf knapp 60 Prozent zurück: Deutschland konnte plötzlich die Maastricht-Kriterien erfüllen, und niemandem wurden Opfer abverlangt.

    Eine Welt ohne Knappheit

    So wird es auch weitergehen, glaubt man Moritz Schularick. Das wäre dann eine frohe Botschaft für die fiskalpolitische Unbedenklichkeit der Corona-Milliarden. Bund und Länder könnten sich ihren aktuellen Streit über die Aufteilung der Kosten sparen. Mehr noch: Der free lunch eröffnete langfristig Spielraum für gesellschaftspolitisch wünschenswertes Staatshandeln – gegen den Klimawandel, für die Bildung, für die Digitalisierung und/oder für mehr Waffen und Soldaten. Schularick gibt zu, dass es eine »Herausforderung« für die politischen Akteure ist, »verantwortlich« den Free Lunch zu verteilen. Er kann sich »Positivlisten« prioritärer Ziele vorstellen oder mit Experten besetzte »Fiskalräte«, die quasi die Essensausgabe überwachen. Und übrigens: Während Schularick bei der Fiskalpolitik Freibier spendiert, bleibt er gegenüber der expansiven Geldpolitik der EZB Friedman-Anhänger. Dass die Notenbanken ihre Bilanzen mit Staatsanleihen aufblähen wie sonst nur zu Kriegszeiten, um die Wirtschaft zu stabilisieren, könnte paradoxerweise langfristig zu einer gefährlichen Destabilisierung der Märkte führen.

    Kommt jetzt das Schlaraffenland? Alles hängt an den Annahmen. Bleiben die Zinsen wirklich niedrig? Wer wie der Ökonom Carl Christian von Weizsäcker auf das viele Geld der Sparer blickt, das noch lange in Staatsanleihen fließt, wird die Niedrigzinsen für einen langfristig wirksamen Trend halten. Ein großes Geldangebot drückt den Zins, den Preis für das Geld. Die Schuldenbremse braucht dann keiner mehr oder erst wieder, wenn die Zinsen anziehen.

    Schaut man auf die Geschichte, ist Skepsis angebracht. Ludger Schuknecht, ehemals Chefökonom unter Wolfgang Schäuble im Berliner Finanzministerium, hat gerade bei der Cambridge University Press eine Geschichte der Staatschulden veröffentlicht. Er warnt eindrücklich: Überhöhte Staatsschulden haben sich häufig als Auslöser von Krisen und Pleiten erwiesen. Die Parameter können sich unvorhergesehen ändern. Zinsen steigen, wenn die Inflation anzieht oder das Risikoverhalten der Unternehmen zunimmt. Ob das Wachstum wirklich auf Jahre positiv bleibt – wer weiß das schon? Joachim Scheide, langjähriger Konjunkturchef am Kieler Institut für Weltwirtschaft, ist der Meinung, eine Welt des Free Lunch, in der die Knappheit abgeschafft und alle Wünsche erfüllbar würden, habe mit Marktwirtschaft nichts mehr zu tun, treibe den Staat in den Taumel sinnloser Ausgaben und sei deshalb nicht wünschenswert: »Alles umsonst. Geld drucken reicht. In so einem Paradies möchte ich nicht leben«, lässt Scheide den Freunden des Freelunch ausrichten.

    Wie es kommen wird, wir wissen es nicht. Ich weiß nur, dass man vorsichtig bleiben sollte, wenn Ökonomen zu viel über die Zukunft zu wissen vorgeben. Das ist schon ein paar Mal schief gegangen.

    Rainer Hank