Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
04. Dezember 2024Ein Hoch auf Pharma
04. Dezember 2024Mit Unsicherheit leben
15. November 2024Zwangsarbeit
05. November 2024Totaler Irrsinn
18. Oktober 2024Arme Männer
14. Oktober 2024Christlicher Patriotismus
08. Oktober 2024Im Paradies der Damen
28. September 2024Von der Freiheit träumen
28. September 2024Reagan hätte nie für Trump gestimmt
10. September 2024Das Ende der Ampel
18. Februar 2024
Sind Frauen friedliebender?Womöglich tut sich da ein neues Gender Gap auf
An vielen Orten dieser Welt herrscht Krieg. Wie kann diese Welt friedlich werden? Ein Leitartikel im »Spiegel« hat eine Antwort parat: Mehr Frauen an die Macht. Der Bundespräsident, der Papst oder der englische König, sie alle hätte das Jahr 2024 mit einer Friedensbotschaft eröffnet, so der Kommentar – und das Wichtigste vergessen: Lasst die Frauen ran! Denn »ohne Frauen kein Frieden« (Annalena Baerbock).
Die These ist steil. Sie passt in den modischen Gender-Diskurs: Die Frauen sind das bessere Geschlecht, in jeder Hinsicht. Aber stimmt das auch? Mir fiel eine Geschichte ein, die ein Bekannter jüngst erzählt hat. Er ist Lehrer an einer Schule mit sehr vielen muslimischen Schülern. Der Lehrer ließ die Schüler pro und contra Wiedereinführung der Wehrpflicht diskutieren und ob auch Frauen zum Militär sollten. Die Jungs waren strikt dagegen – »Mädchen sind emotional«, fanden sie, taugen also nicht für die Bundeswehr. Die jungen Frauen in der Klasse, zumeist mit Kopftuch, rebellierten. Von wegen emotional! Sie verlangten Gleichberechtigung, sahen keinen Grund, warum man ihnen eine Waffe verwehren sollte. Soll man daraus schließen, dass Frauen genauso militant sind wie Männer? Kann man. Man kann aber auch sagen, es sei ihnen vor allem um Gleichberechtigung gegangen, nicht um Bellizismus.
Ein kurzer Blick in die Mythologie bringt ebenfalls keinen eindeutigen Befund. Ganz dem Klischee entsprechend verhält sich zum Beispiel Penelope, die Frau des Odysseus. Während der Held in den Trojanischen Krieg zieht, mannhaft ein Abenteuer nach dem anderen besteht und nach zwanzig Jahren siegreich zurückkehrt, hütet seine Frau brav, treuliebend und friedlich das Haus; allen Freiern zeigt sie die kalte Schulter. Wie es sich gehört: Frauen sind friedlich und fügen sich ihren Männern. Weshalb die kanadische Autorin Margaret Atwood vor Jahren schon den Versuch gemacht hat, die wahre Geschichte der Penelope zu erzählen: Sie berichtet von der gnadenlosen Konkurrenz mit der hübschen Cousine Helena und von der Zwangsverheiratung mit Odysseus, einem Mann, der den Ruf hat, ein Aufschneider zu sein. Am Ende bleibt Penelope zwar auch bei Atwood ein friedliebender Mensch, dafür wird aber Odysseus als militanter Hochstapler enttarnt. Wie auch immer: Penelope taugt nicht zum Beleg der These, wonach es ohne Frauen keinen Frieden in der Welt gibt.
Wie war das nochmal bei Lady Macbeth?
So geht es weiter. Statt zu Mäßigung tragen Frauen nicht selten zur Eskalation bei. Besonders erfolgreich in dieser bellizistischen Disziplin war Lady Macbeth. Jedenfalls wenn man sich an Shakespeare hält (klar, der männliche Blick!). Als Vertraute und Verschworene ihres Mannes stellt Shakespeare die Lady als blutrünstige, skrupellose Verführerin dar, eine wichtige Antriebsfigur für den Protagonisten, dessen Potential zum Bösen sie aktiviert und ihn anstachelt, den König zu ermorden, um selbst an die Macht zu kommen. Während Macbeth anfangs bei der Planung des Königsmordes eher zaghaft und schwach wirkt, kommt Lady Macbeth als dominierende, überlegene und härtere Gestalt auf die Bühne; einem scheinbar »weibischen« Mann steht eine scheinbar mannhafte Frau gegenüber. Die Frau als Kriegstreiberin?
Als hart und kriegerisch, wir springen weiter in der Geschichte, lernen wir auch Margret Thatcher kennen, »die eiserne Lady«, britische Premierministerin von 1979 bis 1990. Den einzigen Krieg der Briten in der Nachkriegszeit hat sie gewonnen. Okay, es ging nicht um die Rückeroberung des Empires, sondern lediglich um die Falklandinseln, Argentinien vorgelagert im Atlantik. Aber für die Frage, ob Frauen pazifistischer sind als Männer, ist die Größenordnung des von ihnen geführten Krieges unerheblich. Gut, den deutschen Kriegsministerinnen Ursula von der Leyen und Christine Lambrecht hätte niemand unterstellt, sie könnten mit der Bundeswehr in einen Krieg um Helgoland ziehen. Aber das nun gerade war keine Tugend, sondern ihr Problem, wie man heute weiß.
Nun aber empirisch. In den Sozialwissenschaften hält sich, kein Witz, seit geraumer Zeit die sogenannte »Woman and Peace Hypothesis« (WPH). Sie besagt, dass Frauen weniger militaristisch sind und deutlich friedliebender als Männer. Demnach sei es wahrscheinlicher, dass sie den Gebrauch militärischer Gewalt ablehnen und friedliche anstelle von kriegerischen Konfliktlösungen bevorzugen. Joan Baez lässt grüßen: We shall overcome! Endlich einmal ein Gender-Gap, das positiv ist, so jubeln die Feministinnen und mäkeln noch nicht einmal daran herum, dass es ein Produkt rollenkonformer Erziehung sein könnte, wenn Frauen sich in der Geschichte zu Friedenstauben entwickelt haben: empathisch, deeskalierend, mitleidend mit den potentiellen Opfern eines Krieges. Die Frauenfriedenshypothese hat sogar Eingang in eine UN-Resolution (Nr. 1325 vom Oktober 2000) gefunden: Da wird die »maßgebliche Rolle« der Frauen bei der Vermeidung und friedlichen Lösung von Konflikten quasi amtlich durch die Staatengemeinschaft festgestellt: Frauen seien friedensschaffend und friedenwahrend. Anders als die notorisch kriegstreibenden Männer.
Die Woman and Peace Hypothesis
WPH hat bloß einen Nachteil. Sie stimmt nicht. Die Hypothese wurde in den USA »erfunden«, einem Land, dass sich – grosso modo – seit dem Ende des Vietnamkriegs nicht mehr in einem großen Krieg befindet, der die gesamte Bevölkerung spaltet. In Israel dagegen, wo Konflikte und Krieg seit Staatsgründung zum Alltag gehören, ist das anders. Versuche, WPH dort zu verifizieren, scheitern. Eine neue Studie vom April 2023 – nicht die einzige – basiert auf detaillierten Umfrageergebnissen im langfristigen Monatsrhythmus. Es zeigt sich: in den dreißig Jahren, die auf die konfliktlösenden Oslo-Abkommen von 1993 und 1995 folgen, gab es keinen nennenswerten Unterschied in den Einstellungen zu Frieden und einer Zweistaatenlösung zwischen israelischen Männern und Frauen. Die Haltung der Frauen ist nicht pazifistischer. Viel stärker als ein mutmaßliches Gender-Gap sind politisch-ideologische und religiöse Unterschiede der Menschen. Lediglich bei neuer Eskalation der Gewalt – etwa nach der zweiten Intifada 2000 – blieben Frauen gelassener, während die Zustimmung der israelischen Männer zu Oslo nachließ. Immerhin hier, so die Forscher, lassen sich Spuren größerer Resilienz bei Frauen vermuten.
»Barbie, bitte übernehmen!«, so titelt der Frauenfriedenskommentar des »Spiegel«. Wenn nur die Kens dieser Welt alle sanft würden und Barbie machen ließen, wäre der Frieden da, soll das heißen. Dass der Feminismus einmal das Heil der Welt von einem Geschlechterklischees bedienenden pinken Püppchen erhofft, haben weder die Frauen noch die Männer verdient. Und den Krieger*innen dieser Welt ist das alles ohnehin schnuppe.
Rainer Hank
18. Februar 2024
Lob des KonfliktsRalf Dahrendorf grüßt die Stuttgarter Dreikönige
Die liberale Demokratie ist in Gefahr. Das hat sich herumgesprochen. Liberale Demokratien, grob skizziert, zeichnen sich aus durch ein Bekenntnis zur Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit. Sowie durch die Anerkennung von Meinungsfreiheit und den Schutz von Minderheiten. Und schließlich durch den Glauben, dass Kapitalismus und Marktwirtschaft die besten und freiesten Arrangements sind, den Wohlstand der Menschen zu mehren, zumal dann, wenn darin das Bekenntnis zur grenzüberschreitenden Freizügigkeit für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Menschen impliziert ist.
Lange sind die Menschen mit diesen Überzeugungen gut gefahren. Inzwischen ändert sich das. An die Stelle der Anerkennung von wechselseitig akzeptierten Regeln tritt das Pochen auf die Gesetze der Macht, verbunden mit der Androhung von Krieg und Gewalt. Anstelle des Glaubens an den Wohlstand generierenden Freihandel tritt der Rückzug auf eine National-Ökonomie, die meint, sich selbst zu genügen und Autarkie beschwört. Dabei wird das Vertrauen in Risiko und Selbstverantwortung für Unternehmer wie Arbeitnehmer zunehmend ersetzt durch einen Wettlauf um Subventionen und Sozialleistungen. Schließlich wird auch der liberale Wettbewerb um das beste Argument ersetzt durch protektionistische Diskursregeln darüber, wer überhaupt berechtigt ist, sich zu äußern und wozu. Widerspruch gilt als unfein, es könnte sich ja jemand traumatisiert fühlen.
Merkwürdig finde ich, wie eigentümlich defensiv liberale Denker auf diese Bedrohung ihrer Grundüberzeugungen reagieren. Anstatt offensiv die Gegner einer liberalen Demokratie zu attackieren, üben sie sich in schuldbewusster Selbstkritik. Prominent steht dafür Francis Fukuyama, von dem nach dem Fall des Kommunismus die These stammt, illiberale Systeme seien endgültig zum Scheitern verurteilt, weil sie der liberalen Grundidee (Schutzrechte des Bürgers gegen den Staat, Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft) widersprechen. Dass es anders gekommen ist, lastet er weniger den Feinden des Liberalismus an, sondern vielmehr den Liberalen selbst: Die Rechtsliberalen hätten es mit dem Turbokapitalismus übertrieben und den Liberalismus zum Neoliberalismus verunstaltet, während die Linksliberalen sich in ein wokes Schneckenhaus verkrochen und dabei den liberalen Universalismus verraten hätten. So gesehen wären es nicht die Populisten, die den modischen Illiberalismus zu verantworten hätten, sondern die Liberalen selbst.
»Gesellschaft und Demokratie in Deutschland«
Aus Anlass des traditionellen Dreikönigstreffens der deutschen Freien Demokraten habe ich mich auf die Suche gemacht nach einer offensiven Verteidigung der liberalen Demokratie. Und bin fündig geworden bei Ralf Dahrendorf und seiner Schrift »Gesellschaft und Demokratie in Deutschland« aus dem Jahr 1965, also vor knapp sechzig Jahren erschienen. Dahrendorf war damals gerade 36 Jahre alt und galt als akademisches Wunderkind. Studiert hatte er Philosophie, klassische Philologie, später dann Soziologie in Deutschland und an der London School of Economics. Als »Gesellschaft und Demokratie« erschien, war er schon seit sieben Jahren Professor, zunächst in Hamburg, aktuell in Tübingen. 1966 wechselte er an die neugegründete Universität Konstanz, die man damals eine Reformuniversität nannte. Zugleich engagierte er sich als FDP-Mitglied im baden-württembergischen Landtag, wurde später Staatsminister im Auswärtigen Amt unter Walter Scheel und EU-Kommissar in Brüssel. Leicht haben sich Dahrendorf und die FDP nie miteinander getan; Intellektuelle in der Politik sind notorische Störenfriede.
Dahrendorfs biographischem Weg zwischen Wissenschaft und Politik spiegelt sich auch in der Anlage von »Gesellschaft und Demokratie«: Das Buch vereint historische Erklärung, soziologische Analyse und engagierte politische Theorie, aus heutiger Sicht eine Ausnahmeschrift, für den liberalen Lernprozess der Bundesrepublik deutlich wirkungsvoller als etwa die negative Hermetik der Frankfurter Schule. Das Buch erreichte ein ungewöhnlich großes Publikum und wurde rasche ein wissenschaftlicher Bestsellers.
Doch was steht drin? Ich konzentriere mich auf drei für eine liberale Demokratie zentrale Begriffe: Gleichheit, Konflikt und Freiheit.
Dass ein Liberaler mit dem Lob der Gleichheit beginnt, ist nur auf den ersten Blick überraschend. Denn es geht ihm um gleiche Bürgerrechte für alle – nicht um gleichen sozialen Status oder egalisierende Umverteilung. Dialektisch formuliert Dahrendorf, man könnte den Sinn der Gleichheitsrechte geradezu darin sehen, dass sie Ungleichheit ermöglicht, sofern diese nicht an die Lebensgrundlagen des Einzelnen greift.Konflikt ist Freiheit
Aktueller noch ist die Anerkennung des Konflikts als konstituierendes Prinzip einer liberalen Gesellschaft. Konflikte sind gerade keine Störfälle einer demokratischen Gesellschaft. Sondern umgekehrt wäre Harmonie Ausdruck einer gefährlichen Sehnsucht nach Konformität und Synthese, die Andersartiges und Sperriges nicht dulden will. Der Konflikt ist somit nicht nur produktiver Treiber im politischen Wettbewerb der Parteien und Motivator im wirtschaftlichen Wettbewerb der Unternehmen, sondern auch Legitimation einer wechselseitigen Anerkennung unterschiedlicher Lebensformen, vornehm Ambiguitätstoleranz genannt. Dass der Andere anderer Meinung ist, ist nicht Ärgernis, sondern Herausforderung. These und Antithese brauchen keine Synthese, auch wenn die Deutschen das gerne glauben. Konflikte in Regierungskoalitionen – abschätzig als »Streit« denunziert – wären dann dringende erforderlich; sie können verhindern, dass Regierungsgewalt missbraucht wird.
Dahrendorfs Lob des Konflikts mündet schließlich in eine Theorie der Freiheit: »Konflikt ist Freiheit, weil durch ihn allein die Vielfalt und Unvereinbarkeit menschlicher Interessen und Wünsche in einer Welt notorischer Ungewissheit angemessenen Ausdruck finden kann.« Nicht Wahrheitsstreben, sondern der liberal verstandene Wettbewerb der Meinungen bewirke Fortschritt und biete ebenso Schutz vor der »Dogmatisierung des Irrtums«.
Dahrendorf – wie gesagt Soziologe, FDP-Mitglied und vor allem frech – bot seine Konflikttheorie an als Medizin gegen die »Entmündigung des Einzelnen« durch den Staat wie auch gegen die »verstaubte Liberalität« seiner Gegenwart. Wer ahnen möchte, wo Dahrendorf den Staub wahrgenommen haben könnte, der mag sich im Internet Archiv-Berichte über das Dreikönigstreffen der FDP im Januar 1964 ansehen. Motto: »Bewährtes erhalten – Zukunft gestalten.« Alles ziemlich verschnarcht. Dahrendorf und eine Reihe politischer Mitstreiter haben dagegen in den späten sechziger Jahren nicht nur dem politischen Liberalismus zu einem Aufbruch verholfen, sondern auch zu einer Liberalisierung der deutschen Gesellschaft beigetragen.
Rainer Hank
15. Februar 2024
Ein Ständchen für die BoomerDer geburtenstärkste Jahrgang wird jetzt 60
Irgendwann haben die Boomer ihr Baby verloren. Sie heißen jetzt nicht mehr Babyboomer, sondern nur noch Boomer. Das ist ihnen nicht gut bekommen. Boomer sind, seit sie keine Babyboomer mehr sind, vor allem alt: Als Alte haben sie Ansprüche, wollen ihre Rentnerleben auf Kosten der sie finanzierenden Nachkommen in vollen Zügen genießen, und kümmern sich wenig darum, welchen Planeten sie ihren Nachkommen hinterlassen, wenn sie sich dereinst mit 95 Jahren hienieden verabschieden. Solche Sachen müssen sie sich jetzt anhören.
Boomer sind immer viele, die allein ob ihrer zahlenmäßigen Masse den Diskurs bestimmen. Dass sie viele sind, merkten sie bereits in den überfüllten Schulklassen, später in den überfüllten Hörsälen und danach in den überfüllten Arbeitsmärkten.
Als viele bleiben sie immer stark. Auch, wenn sie demnächst nach und nach die Chefposten der deutschen Wirtschaft verlassen haben werden. Man ist in bester großer Gesellschaft, das lindert den Schmerz des Bedeutungsverlusts. In den überfüllten Pflegeheimen werden sie dereinst einander weiter Vorträge halten. Auch in der Demokratie bleiben sie stark. Jeder von ihnen hat bei Wahlen zwar nur eine Stimme. Aber zusammen haben sie viele Stimmen. So viele, dass Jüngere diskutieren, ihnen von einem bestimmten Alter an das Wahlrecht zu entziehen, um die ihnen unterstellte »Nach-mir-der-Klimawandel«-Wurstigkeit abzuschwächen. Besonders demokratisch ist diese Idee nun auch wieder nicht. Wo kommen wir hin, wenn das Stimmrecht künftig an den gesellschaftlich-ökonomisch-ökologischen Nutzen gebunden würde, den der Wahlbürger dem Land mutmaßlich bringt.
Das neue Jahr wird uns einen Boomer-Boom bescheren, zumindest publizistisch. Denn das Jahr 1964 war der Höhepunkt des Babybooms. Damals kamen hierzulande 1,36 Millionen Kinder auf die Welt, so viele wie später nie wieder. Zum Vergleich: 2022 gab es in Deutschland 730.000 Geburten, also lediglich gut halb so viele.
Ich habe mich im Jahr 1964 ein wenig umgesehen. Der erste Eindruck: Lang her und weit weg. Der Bundeskanzler hieß Ludwig Erhard. Bei dem hat man heute fast vergessen, dass er auch einmal Kanzler war, erinnert ihn gerade noch als Wirtschaftsminister. Bundespräsident war Heinrich Lübke, den die Deutschen immer ein bisschen abfällig behandelten.Pillen-Paul und Pillen-Knick
Der Papst hieß Paul VI. Der wurde Pillen-Paul genannt, weil er den Katholiken die Empfängnisverhütung verbieten wollte, weil Sex und Zeugung stets zusammengehören müssten. Ironischerweise wurde dann der »Pillenknick« dafür verantwortlich, dass nie mehr so viele Kinder geboren wurden wie im Jahr 1964. Sage niemand, die katholische Kirche habe ihr Macht über die Menschen erst heute verloren.
1964 gründete der Unternehmer Otto Beisheim die ersten Cash-und-Carry-Märkte namens Metro. Wer eine Metro-Karte ergattern konnte, hat dieses Privileg jeden wissen lassen, der es hören wollte. In der Metro bekam man den Schweinerücken günstiger als beim Metzger um die Ecke, musste freilich gleich zwei Kilo davon kaufen. Zum Glück waren die 60er Jahre auch die Jahre, in denen die riesigen Tiefkühltruhen vorortsiedlungsweit ihren Siegeszug antraten. Die kluge Frau fror ein. Nur noch der Vollständigkeit halber: Unser Eislaufpaar Bäumler/Kilius gewinnt am 26. Februar 1964 die Weltmeisterschaft und am 7. Juni tritt unser Bundestrainer Sepp Herberger zurück.
Schaut man sich dieses Jahr 1964 von Ferne an, dann kommt es einem verglichen mit der heutigen Zeitenwende einigermaßen geruhsam vor. Gewiss, es gab den Kalten Krieg und man war nie sicher, was der Russe im Schilde führte. Und es gab die Angst vor der Atombombe. Aber dafür hatten wir ja gerade das Gleichgewicht des Schreckens mit seinem Grundsatz »Wer als erster schießt, stirbt als zweiter«. Gar nicht so blöd, muss man im Nachhinein sagen.
Der perfekte 1964er ist für mich übrigens der Fernsehmann Jörg Schönenborn, geboren am 5. September 1964. Stets korrekt gescheitelt, nie aus der Rolle fallend, die relevanten Zahlen korrekt im Kopf repräsentiert Schönenborn jene sozialdemokratische Mitte der Gesellschaft, die für diese Generation so typisch ist.
Alles in allem, können die Boomer sich nicht beschweren. Tun sie auch nicht. Ihre Eltern, Kinder des Kriegs, fanden, sie sollten es einmal besser haben. Fast ein Drittel von ihnen hat ein Studium abgeschlossen. Den Hauptgewinn halten die Frauen, die sich besser qualifizieren konnten und höhere Bildungsabschlüsse erwarben als ihre Mütter. Deren Beruf gaben viele noch mit »Hausfrau« an, Schicksal oder Wahl, die die wenigsten von ihnen kopieren wollten. 1964 lag die Frauenerwerbstätigkeit bei gut 47 Prozent. Heute sind es 75 Prozent.»Abschied von den Boomern« (Heinz Bude)
Interessant: 14 Prozent der Kohorte sind durch Nachlernen, Dazulernen und Weiterlernen zu einem akademischen Abschluss gekommen. So lese ich es in einem schönen Bändchen zum »Abschied von den Boomern« des Soziologen Heinz Bude, das Ende Januar in die Buchhandlungen kommt. Hinreichend Leistungsethos bringen sie mit, verbunden mit der Überzeugung, dass zwar nicht jeder seines Glückes Schmid ist, es sich aber irgendwie schon auszahlen wird, wenn man sich anstrengt. Es hat sich auch für den Wohlstand der Gesellschaft insgesamt ausgezahlt: 1964 betrug das Bruttoinlandsprodukt hierzulande 214 Milliarden Euro. Heute sind des 3.800 Milliarden. Siebzehn Mal so viel. Dafür sind die Boomer auch viel gesünder, langlebiger und zufriedener als frühere Kohorten. Keine schlechte Generationenbilanz, finde ich.
Interessant ebenfalls, dass die biodeutschen Babyboomer bei ihren Bildungsanstrengungen weitgehend unter sich geblieben sind, nur acht Prozent von ihnen haben eine Zuwanderungsgeschichte. Multikulturell war diese Generation nicht. Auslandserfahrungen haben sie, verglichen mit den Heutigen, deutlich weniger. Das sozialdemografische Profil der heute Sechzigjährigen belegt, wie sich die Boomer in der Mitte der bundesrepublikanischen Gesellschaft eingerichtet haben, die zugleich von ihnen getragen wird.
Kommt es mir nur so vor oder hat sich der Generationenkonflikt inzwischen etwas entspannt, sieht man einmal von der aggressiven Last Generation ab? Viele Boomer wollen freiwillig gerne länger arbeiten, weltreisen kann man ja auch noch mit 80. Sie verlassen sich nicht auf die staatliche Rente, haben finanziell vorgesorgt, werden den Nachkommen ein ordentliches Erbe hinterlassen. Sollte das sogenannte Renteneintrittsalter weiter steigen und die Alten nicht mehr darauf pochen, die Produktivitätsentwicklung zu Hundertprozent für sich zu übertragen zu bekommen, brauchen die Jüngeren nicht befürchten, sie könnten die Last der Alten finanziell auf Dauer nicht mehr schultern. Könnte eigentlich ein schöner 60. Geburtstag werden: Herzlichen Glückwunsch Boomer!Rainer Hank
15. Februar 2024
Geld und MoralKönnen Kapitalisten gute Menschen sein?
Zwischen 1476 und 1478 schuf der flämische Maler Hugo van der Goes ein dreiteiliges Altarbild, dessen Zentrum die Anbetung des Jesuskindes durch die Hirten Bethlehems darstellt. Das Gemälde wurde bekannt unter dem Namen »Portinari Triptychon« und ist heute in den Uffizien in Florenz zu besichtigen.
Ursprünglich war das Bild vorgesehen für die Grabkapelle der Familie Portinari in einer Kirche in Brügge. Tommaso Portinari, der Auftraggeber des Werkes, war damals Statthalter der Medici-Bank in Brügge. Die Kosten des Bildes werden auf etwa 8.000 flämische Silbermünzen geschätzt, was in etwa dem Jahresgehalt eines zeitgenössischen Steinmetzes entspricht, also auch für einen Bankier mehr als Peanuts gewesen sein müssen.
Warum gibt ein Banker eine solch große Summe Geld für ein Kunstwerk aus? Gewiss will er sich ein Denkmal setzen, das auch über seinen Tod hinaus Kunde von ihm gibt und seine Bedeutung die Nachgeborenen sichtbar macht. Ein Kunstwerk im fünfzehnten Jahrhundert ist, anders als heute, kein Werk für den Kunstmarkt oder für Museen, sondern hat neben seinem ideell-religiösen und realen auch einen sozialen Wert: Portinari demonstriert seinen eigenen Wert in der Oberschicht der Gesellschaft von Brügge, in der er als bestens vernetzt gilt.
Doch das ist längst nicht alles. Tommaso Portinari hat nämlich selbst einen Auftritt auf dem linken Seitenflügel des Altars, wo er sich zusammen mit seinem Sohn Antonio und den beiden Namenspatronen in die Gruppe der das Christuskind anbetenden Hirten einreiht. Der Vertreter einer der wichtigsten europäischen Banken macht sich gemein mit einfachen Leuten, den Hirten auf dem Felde, denen als erstes die große Freude der Menschwerdung Gottes verkündet wird. Demut und Hochmut sind sich nah: Die Erniedrigung des reichen Mannes im Bild ist zugleich die Bedingung seine Erhöhung. Er und sein Sohn werden zu frühen Zeugen der Heilsgeschichte.
Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr
Um das zu verstehen, muss man sich ein wenig in einen reichen Bankier der Renaissance einfühlen. Der Mann lebt mit Gewissenskonflikten, die seinen heutigen Nachfolgern bei der Deutschen Bank oder Goldman Sachs in aller Regel erspart bleiben. Zwar ist er stolz auf seinen wirtschaftlichen Erfolg, womöglich auch überzeugt, dass er den Wohlstand seiner Kunden mehrt, denen er mit Eigenkapital, Kredit und Wechsel ermöglich, ihre Geschäfte zu machen. Zugleich weiß er aber als ein frommer Mann, dass sein Glaube das Geld- und Gewinnstreben unter die Strafe der ewigen Verdammnis stellt. Die Raffgier des christlichen Kaufmanns und Geldleihers verstößt gegen die christliche Moral. Bekanntlich geht eher ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein reicher Mann in den Himmel kommt. Dem Wucherer – und als solcher gilt jedermann, der Geld gegen Zinsen verleiht – droht die Hölle. Habsucht und Gier sind eine Todsünde.
Der Aufstieg des merkantilen Kapitalismus seit dem Jahr 1200 ist die Quelle unseres heutigen Reichtums. Insofern können wir froh sein, dass sich die Kaufleute und Bankiers des 13. Jahrhunderts und späterer Zeiten nicht der harten Auslegung des Glaubens durch die amtliche Kirche unterworfen und ihre Geschäfte aufgegeben haben. Nicht zuletzt die Erfindung eines komplexen Bank- und Versicherungswesens sind die Voraussetzung des kapitalistischen Wohlstands. Zugleich müssen die Männer innere Gewissensqualen erlitten haben, um das paradox klingende Ziel zu erreichen, gleichzeitig ein frommer und ein wirtschaftlich erfolgreicher Mensch zu sein. Eine aktuelle Ausstellung der Morgan Library in New York mit dem hübsch alliterierenden Titel »Medieval Money, Merchants and Moral« (mittelalterliches Geld, Kaufleute und Moral) legt davon außerordentlich beredtes Zeugnis ab. Wer gerade nicht in Manhattan ist und keine Zeit findet, die Ausstellung zu besuchen, kann sich von dem großartig bebilderten Katalog und den sehr instruktiven Essays der Kuratorin Diane Wolfthal bestens aufklären lassen.
Kehren wir noch einmal zurück zu Tommaso Portinari. Dass als Bankier seiner Seele ewige Verdammnis bevorsteht, bezweifelt der fromme Mann nicht. Doch die Kirche, schlau wie sie immer schon war, bietet einen Ausweg an: Geld muss nicht unbedingt in die Hölle führen. Geld kann eine fromme Seele auch retten. Dann nämlich, wenn damit Gutes geschieht. Als gute Tat und barmherzige Pflicht tätiger Nächstenliebe galt in den Augen der Kirche, den Armen zu helfen und ihnen Geld zu schenken. Zudem sah man es als gottwohlgefällig an, auch für die vielfältigen Aufgaben der Kirche Geld zu spenden. Schließlich konnte mit Geldgeschenken an die Kirche ein Gnadenakt (»Ablass«) erwirkt werden, durch den zeitliche Sündenstrafen für einen selbst oder für andere im Fegefeuer erlassen würden (was Luther im 16. Jahrhundert bekanntlich schwer gegeißelt hat).
Wie aus Schuldgefühlen Kunst wird
Der reiche Medici-Bankier Tommaso Portinari lindert für sich selbst die Bürde der Schuld, indem er sich als armer Hirte darstellen lässt und zugleich mit dem von ihm in Auftrag gegebenen Werk zum prächtigen Schmuck der Jakobs-Kirche in Brügge beiträgt. Sein Schuldgefühl gibt den Anstoß zu einem Kunstwerk, das sich seinem Reichtum verdankt. Selbst der große Cosimo de Medici, Staatsmann und Bankier in Florenz, lebte in der ständigen Furcht vor Strafe für seinen Reichtum. Papst Eugenius IV. wies einen Ausweg: Spende 10.000 Florin für die Dominikanerbrüder von San Marco und Deine Strafe wird erleichtert!
Die Moral dieser Geschichte ist nicht ganz eindeutig. Und auch nicht wirklich stimmungsvoll weihnachtlich. Hätte sich die christliche Lehre damals durchgesetzt, wären wir heute immer noch bettelarm. Doch die Kirchenmänner waren keine schlichten Gemüter und keine radikalen Ideologen. In großartiger Dialektik, man könnte auch von eigennütziger Rabulistik sprechen, boten sie einen Ausweg an, der den Reichtum zwar weiterhin verabscheute, zugleich aber dessen Folgen entdramatisierte, sofern die Kirche selbst und die Armen an den Früchten des Erfolgs partizipieren durften. Das kann man, muss es aber nicht als perfide schelten. Denn es ist ja per se ein humaner Gedanke, dass Reiche von ihrem Erfolg etwas abgeben für die, die vom Schicksal, den sozialen Umständen oder der familiären Genetik weniger privilegiert wurden. Und wenn als Folge des Reichtums religiöse Kunst entstand, das »Portinari Triptychon« zum Beispiel, dann können wir uns heute noch daran sinnlich freuen und intellektuell davon ansprechen lassen, auch wenn uns der Glaube abhandengekommen sein sollte. Dass finanzieller Erfolg bis heute sich nicht nur vor den Gegnern der Marktwirtschaft, sondern nicht selten auch vor dem eigenen Gewissen rechtfertigen muss, bleibt indes aus meiner Sicht das anstößigste Erbe dieser Geschichte aus dem Herbst des Mittelalters.
Rainer Hank
16. Januar 2024
Aus Fehlern lernenLeichter gesagt als getan
Anfang dieser Woche war ich in einem neuen Hotel in Stuttgart untergebracht. Die Frühstücksräume solcher Hotels sind normalerweise standardisiert. Der Vorteil: Man kann sich im Halbschlaf am Buffet bedienen. Doch in Stuttgart war es irgendwie anders. Als ich mir ein frisches Croissant greifen wollte, stieß ich mit der Hand an eine Glasscheibe. Auch die Müsli-Gläser waren dahinter verschlossen. Ich muss verzweifelt ausgesehen haben, bis ein Kellner mir ziemlich von oben herab erklärte, diese Croissants gehörten gar nicht zum Frühstücksbuffet, sondern seien für den späteren Verkauf im Café vorgesehen.
Die Episode wäre nicht der Rede (oder Schreibe) wert. Macht man sich aber die zugehörigen Gefühle klar, wird es interessant. Ich scholt zunächst mich: schließlich hätte ich ja erkennen können, dass es sich hier um eine geschlossene Glasvitrine handelt, was seinen Grund haben müsste. Ein Blick nach vorne hätte mir auch gezeigt, dass die anderen Gäste sich woanders ihr Frühstück abgriffen. Zur Scham über meine Tollpatschigkeit, kam – ein noch stärkerer Affekt: Ärger, fast schon Wut auf das blöde Hotel, das Gäste am frühen Morgen nasführt.
Dazu passt ein Buch des Psychologen Dietrich Dörner mit dem Titel »Die Logik des Misslingens«. 1989 erschienen, ist es bis heute ein Bestseller. Dörner hätte mein morgendliches Scheitern vermutlich so interpretiert: Das Verhalten schlaftrunkener Männer am Frühstücksbuffet verläuft automatisiert. Ein nur leicht verändertes Framing kann bereits ein kleines Malheur auslösen. Daraus könnte man lernen: Schau erstmal genau hin, bevor Du den Autopiloten anstellst, was meine Frau mir seit langem schon vorhält. Doch auf diese Idee bin ich gar nicht gekommen. Stattdessen reagiere ich mit Scham (selbstbezogen), Ärger (der andere ist schuld) oder Verdrängung. Aus Fehlern wird man schlau? Pustekuchen.
Ein Lob des Scheiterns
Die amerikanische Organisationpsychologin Amy Edmondson hat gerade ein Lob des Scheiterns geschrieben. Edmondson lehrt an der Harvard Business School Leadership, Teambildung und forscht darüber, wie Organisationen lernen können. Sie zähle zu den 50 einflussreichsten Management-Denkern behauptet der Klappentext des Buches: offenbar eine Art Guru.
Tatsächlich wimmelt das Buch von Anekdoten, wie Menschen scheitern. Schlimm ist das nicht, im Gegenteil. Gut zu scheitern kann zu Innovation und Fortschritt führen. Menschen sind fehlbar; daraus lässt sich was machen. Manchmal reicht schon ein Zufall. Die berühmte Oyster-Sauce der asiatischen Küche ist das Produkt solch eines Scheiterns: 1888 kochte ein Restaurantbesitzer namens Lee Kum Sheung in Südchina einen Topf mit Austernsuppe und vergaß sie, bis alles zu einer Pampe eingedickt war. Der Mann probierte und fand, dass es köstlich schmeckte.
Der 13. Januar 1982 war ein bitterkalter Tag. Kurz nachdem die Air-Florida-90 den National Airport in Washington in Richtung Fort Lauderdale verlassen hatte, ereignete sich um 16 Uhr 01 Uhr Ortszeit ein schwerer Unfall. Die Boeing 737 stürzte auf eine Straßenbrücke über den Potomac River und danach in den vereisten Fluss. Die Rettungsmaßnahmen gestalteten sich wegen der widrigen Wetterbedingungen äußerst schwierig. Von den 79 Flugzeuginsassen überlebten nur fünf. Außerdem kamen vier Autofahrer auf der Brücke ums Leben, vier weitere wurden verletzt.
Wie konnte das passieren? Piloten und Crew müssen vor dem Start standardisierte Checklisten abarbeiten, die gewährleisten sollen, dass alle Sicherheitsbestimmungen eingehalten werden. Diese Dialoge werden aufgezeichnet. Hier lief es so: Der erste Offizier: Pilotrohr Heizung. Der Kapitän: An. Der erste Offizier: Flugzeugenteisung. Der Kapitän: Aus. Der erste Offizier: Hilfstriebwerk APU. Der Kapitän: Läuft. Der erste Offizier: Schubhebel. Der Kapitän: Im Leerlauf.
Man kann es überlesen. Und gewiss auch überhören, wenn es runtergeleiert wird. Doch der Fehler, der zur Katastrophe führte, ist offenkundig. Die Enteisungsanlage an einem eisigen Wintertag nicht anzumachen, war keine gute Idee. Die beiden erfahrenen Männer im Cockpit flogen normalerweise in warmem Klima. Nie ist die Enteisungsanlage an. Die Checkliste hätten sie im Schlaf abarbeiten können, sie wurde zu ihrer zweiten Natur – und eben zu ihrem Verhängnis.
Entroutinisierung wäre der Auftrag, der sich aus dem Unglück am Potomac ableiten ließe. Die Crew hätte erkennen müssen, dass der kalte Wintertag dazu nötigt, von der Routine abzuweichen. Sie scheiterten daran, weil sie ihre automatisierte Praxis nicht durchbrachen. Routine hat immer auch Entlastungsfunktion. Es ist der Kontext, der entscheidet, ob Routine eingehalten oder durchbrochen werden muss. Hinterher ist man klüger.
Deutschlands dümmste Bank
Einem vergleichbaren Muster – mit blamablem, aber nicht tödlichem Ausgang – fiel die deutsche KfW-Bank zum Opfer, als sie am Tag nach der Lehman-Pleite im Herbst 2008 der amerikanischen Bank »aus Versehen« 320 Millionen Euro überwiesen hatte. Das bescherte der Bank den Ehrentitel »Deutschlands dümmste Bank«. Ein »Versehen« war es gerade nicht. Jemand hätte die Routineüberweisung stoppen müssen, denn Lehman gab es nun ja nicht mehr. Allemal, wie bei meinen Croissants, sind es neue Kontexte, die ein anderes Verhalten hätten nach sich ziehen müssen. Hat es aber nicht.
Wie aus großem Scheitern große Erfindungen werden, dafür hat Amy Edmondson einen wunderschönen Belg: Die Witwe Clicquot. Sie ist die Heldin ihres Buches. Barbe-Nicole Ponsardin (1777 bis 1866) war mit siebenundzwanzig Jahren plötzlich Witwe geworden. Die unscheinbare Französin aus Reims, klein, rundlich, rübennasig und wenig charmant, sollte zu einer der erfolgreichsten und vermögendsten Unternehmerinnen des 19. Jahrhunderts werden. Sie erfand das Rütteln des Schaumweins, mithin die Geburt des Champagners, ließ sich nicht drausbringen durch schlechte Witterung oder die Napoleonischen Kriege, machte stattdessen Geschäfte mit dem russischen Zaren: 1811 schmuggelte sie über 10.000 Flaschen ihres besten Champagners nach St. Petersburg und stach ihre Konkurrenten aus. Klimatische oder geopolitische Bürden und Hürden, angesichts derer die stärksten Männer resigniert hätten, nahm Veuve Clicquot sportlich und mit Resilienz.
Die Lehre der Harvard-Forscherin: Erfolg in Organisationen braucht ein Klima der Angstfreiheit. Fehler dürften keine peinliche Störung sein, die man verschweigt, sondern müssten belohnt werden (»speaking up«). Es geht um die »richtige Art des nicht Richtigen« (»the right kind of wrong«), so der Buchtitel: um eine Wissenschaft des guten Scheiterns. Für mich klingt dieser beschwingte Optimismus ein bisschen zu amerikanisch. Lieber stelle ich schon mal eine Flasche Veuve Clicquot für die kommenden Feiertage kalt.
Rainer Hank