Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 02. August 2024
    Computer sagt Nein

    Wer hat die Macht über uns? Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Fitness-Apps, Abseits im Fußball und die deutsche Schuldenbremse

    Was haben mein Lieblingslokal, meine Hausärztin, mein Friseur und mein Ferienhotel gemein? Sie verfolgen mich digital. Sobald ich einen Platz zum Mittagessen reserviere, kommt eine Bestätigungsmail. Freundlich ermahnt sie mich, spätestens einen Tag vor dem Termin zu stornieren, sollte ich verhindert sein. Weil man mir das nicht wirklich zutraut, meldet sich das System am Vortag abermals und zwingt mich zu bestätigen, dass ich tatsächlich zur Stelle sein würde. Kaum sitze ich im Gasthause, will man von mir wissen, ob alles okay sei und versucht mich zu Bewertungen auf einer Skala von Eins bis Fünf zu zwingen. Mein Urteil soll ich abgeben, noch bevor ich einen Blick in die Speisekarte werfen konnte.

    Dito verläuft es bei Hausärztin, Hotel und anderen online buchbaren Terminen. Das ist mega- nervig und außerdem paternalistisch. Können die mich nicht mal in Ruhe lassen. Wir können froh sein, dass unsere Freunde bei Privateinladungen sich solcher Buchungs-, Bestätigungs- und Bewertungssysteme noch nicht bedienen.

    Zuweilen kommt es zur offenen Drohung: »Wenn Sie nicht 23 Stunden vor dem Termin absagen, belasten wir automatisch Ihre Kreditkarte mit einem Betrag von 50 Euro!« Gewiss, die Transparenz des Internets hat der Menschheit mehr Konsumentensouveränität beschert. Ich bin nicht auf die Gurus der Gastrokritik angewiesen, sondern erfahre auf der Webseite, ob es normalen Gästen geschmeckt hat. Meine Stimme als Kunde, Gast, Patient zählt. Der Markt ist für die Konsumenten da.

    Doch nichts ist wahr ohne sein Gegenteil. Am schlimmsten an den automatisierten Systemen ist die eingebaute Verantwortungsdispens. Es wäre albern, mich bei der Hausärztin über die nervigen Erinnerungsmails zu beschweren. Mit ziemlicher Sicherheit weiß sie gar nicht, dass ihre Praxis ein solches System nutzt.

    Verloren in der Anonymität

    Jüngst hat mir meine Trainerin im Fitness-Studio ein neues Übungsprogramm fürs Krafttraining eingerichtet. Die Übungen nebst Angaben der Gewichte und der Anzahl der Sätze hat sie in die App des Studios eingetragen. Dummerweise kann ich die App nicht öffnen. Meine Trainerin kann mir auch nicht helfen, dafür sei eine »Fremdfirma« zuständig, deren Support solle ich kontaktieren. Der meldet sich mit Ideen, auf die ich längst auch schon gekommen war: App neu laden, Passwort ändern, eine andere Email eingeben. Der Support ist eben auch nur eine Maschine. Früher hätte man gesagt: Auch nur ein Mensch. Böse sein kann ich keinem Menschen. Meine Ansprechpartnerin im Studio ist genauso hilflos wie ich. Verdammt noch mal, wer hat denn hier die Verantwortung!

    Die Entmenschlichung führt geradewegs in das Nichts der Nichtverantwortlichkeit. Der britische Journalist Dan Davies spricht vom »Verantwortungs-Ausguss« (accountability sink). Wir spülen die Haftung einfach hinunter. Das entlastet. Wer will schon Verantwortung für Fehler oder Versagen übernehmen. In meiner Jugend hatten wir gesagt, das »System« (wahlweise des Kapitalismus, Imperialismus oder sonst ein Ismus) sei schuld. Heute delegieren wir die Verantwortung, ein Handspiel oder Abseits beim Fußball festzustellen, an den Video Assistant Referee (VAR): Automatisierte Regelkonformität gilt als Fortschritt an Gerechtigkeit. Der »echte« Schiedsrichter wird von der Maschine entmachtet und im Gegenzug von der Angst vor einem Fehlurteil befreit.

    Dan Davies hat in seinem Buch »The Unaccountability Maschine« ein besonders gruseliges Beispiel, was regelkonforme Verantwortungsabstinenz anrichtet. Die Geschichte spielt im Jahr 1999 und handelt von 440 lebenden Eichhörnchen. Die waren ohne Papiere auf einem KLM-Flug von Peking nach Athen auf dem Flughafen Schiphol in Holland gestrandet. Dort wusste man mit den niedlichen Tierchen nichts anzufangen: Weder dürfen lebende Tiere eingeführt werden, noch war es erlaubt, sie nach Athen weiterzuschicken. Also kamen sie in einen Shredder, mit dem normalerweise Küken in Hühnerfarmen getötet werden. Die Eichhörnchen zu schlachten sei »die menschlichste Art« der Lösung, gab die Airline zu Protokoll, nachdem es zu Protesten von Tierschützern gekommen war. Vorschrift ist Vorschrift.

    Was hat das mit unserem Thema zu tun? Viel. Das Ende der Geschichte ist grausam, so viel ist sicher. Unsicher ist, wer eigentlich für den Mord an den Tieren verantwortlich ist. Niemand? Das System? Niemand wagte, eine Ausnahme zuzulassen und die Tiere in einen lokalen Tierhandel zu bringen. Er hätte ja Verantwortung übernehmen müssen. Und für seine Entscheidung grade stehen.

    Ja sagen kann helfen

    »Es sind nie die Menschen, es sind immer die Verhältnisse«, spottete der antike Philosoph Seneca. Er sei nicht schuld daran, dass nicht mehr Geld im Haushalt zur Verfügung stehe, sagt Finanzminister Christian Lindner: Es sei die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse, die eine höhere Kreditaufnahme verhindere. Es ist der Bankcomputer, der mir einen privaten Kredit verweigert. Tut mir leid, sagt der Kreditexperte der Bank oder der Risikoexperte der Versicherung: »Computer says no«, heißt ein in England verbreitetes Schlagwort.

    Verantwortung zu übernehmen würde bedeuten, von der Regel abweichende Entscheidungen zu treffen und ein Risiko einzugehen. Da ist es allemal bequemer, sich auf die Compliance-Regeln des Hauses zu berufen. »Da kann man nichts machen«. Computer sagt Nein und Künstliche Intelligenz weiß es viel besser als ein einfacher Mensch mit seiner Vergesslichkeit, seinen beschränkten Informationen und seinen Vorlieben oder persönlichen Abneigungen. So hören und lesen wir es doch ständig. Das ist sehr verführerisch.

    Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: In einer komplexer werdenden Welt entlasten uns Computer, wenn sie ihre Entscheidungen nach Regeln transparent und ohne Ansehen der Person treffen. Alles selbst und immer im Einzelfall entscheiden zu müssen, hätte den Geruch von Willkür, würde uns heillos überfordern und auf keinen grünen Zweig bringen. Andererseits führt die Delegation aller Entscheidungen an regelgesteuerte Maschinen zur Abschaffung von Haftung und Verantwortung.

    Individuelle Haftung ist das Grundprinzip der sozialen Marktwirtschaft: Wer den Nutzen hat, muss auch für den Schaden gradestehen. Wird dieses Prinzip suspendiert, sind Krisen und Zusammenbrüche nicht weit. Die Finanzkrise des Jahres 2008 war eine typische Krise der Verantwortungslosigkeit. Keiner wollte es am Ende gewesen sein. Gekniffen waren die Sparer weltweit. »Der Markt wird es richten«, ist eine gefährliche Anonymisierung: Es sind immer Menschen aus Fleisch und Blut, die miteinander Verträge eingehen.
    Alles dem Computer zu überlassen nervt, führt in die Unmündigkeit und mündet in die kollektive Verantwortungslosigkeit. Daraus folgt: Zuweilen Ja sagen, obwohl der Computer Nein sagt. Dazu braucht es Mut.

    Rainer Hank

  • 25. Juli 2024
    De-Radikalisierung

    Wo ist der beste Standort? Foto Frank Bandle/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Was europäische Parteienlandschaft mit zwei Eisverkäufern zu tun hat.

    Beginnen wir mit einem sommerlichen Experiment. Ein Strand von 10 Meter Breite und 100 Meter Länge sei im Osten und Westen durch Felsen begrenzt, im Norden durch das Meer und im Süden durch eine Uferpromenade. An diesem Strand gibt es genau zwei Eisverkäufer mit je einem mobilen Eisverkaufsstand, der aber nur längs der Uferpromenade bewegt werden kann, nicht im Sand. Der Strand ist gleichmäßig mit Badegästen gefüllt. Beide Eisverkäufer bieten ihr Eis zu vergleichbarer Qualität und zu vergleichbaren Preisen an. Gesucht ist die optimale Position beider Eisverkäufer.

    Die beiden Eisverkäufer wären optimal positioniert, wenn sie gleich große Einzugsgebiete hätten und so möglichst jeden Kunden versorgen könnten. So bediente einer die linke, der andere die rechte Seite des Strands jeweils in der Mitte seiner Strandhälfte. Dann haben die Badegäste, faul wie sie sind, jeweils den kürzesten Weg zu einem der beiden.

    Da die beiden Eisverkäufer Kapitalisten und pfiffige Konkurrenten sind, passiert nun aber Folgendes. Der rechte Eisverkäufer denkt sich: »Wenn ich mich ein bisschen mehr in Richtung meines Konkurrenten bewege, dann wird mein Einzugsgebiet größer. Denn dann ist der Weg zu mir für mehr Strandgäste kürzer als vorher und ich verkaufe mehr Eis.« Das entgeht dem Kollegen, der den linken Strandabschnitt bedient, natürlich nicht. Er tut es seinem Wettbewerber gleich und bewegt sich seinerseits nach rechts. Am Ende treffen sich die beiden in der Mitte – was den offenkundigen Nachteil hat, dass die Badegäste, die nah den Felsen recht oder links lagern, jetzt deutlich längere Wege in Kauf nehmen müssen, um an eine Kugel Eis zu kommen.

    Ein Gedankenexperiment

    Das Gedankenexperiment ist berühmt. Es stammt von dem Ökonomen und Mathematiker Harold Hotelling (1895 bis 1973), der es 1929 veröffentlichte. Damals lehrte er an der Stanford Universität in Kalifornien. Später wechselte er an die Columbia Universität nach New York. Hotelling ist heute als Wissenschaftler nicht mehr sehr bekannt. Zu seinen Schüler gehören indessen berühmte Ökonomen, unter ihnen Milton Friedman und Kenneth Arrow.

    In der Wirtschaftstheorie taugen Hotellings Eisverkäufer als Beleg dafür, warum rational handelnde Produzente ihre Produkte so ähnlich wie möglich im Vergleich zu ihren Wettbewerbern gestalten. Das interessiert mich hier nicht. Die Theorie bietet sich aber auch an zur Erklärung des politischen Wettbewerbs zwischen Parteien. Schaut man sich in Europa in diesen unruhigen Zeiten um, wäre es einen Versuch wert, mit Hotelling die De-Radikalisierung ehemals extremer Parteien zu beschreiben.

    Beginnen wir mit Giorgia Meloni in Italien. Sie ist mein Paradebeispiel einer rationalen Eisverkäuferin. Angefangen hat sie als extreme Postfaschistin. Inzwischen hat sie sich in ihren politischen Ansichten derart gemäßigt, dass sie von konservativen Politikerinnen in der ganzen EU hofiert wird, nicht zuletzt von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Meloni verurteilt den Krieg Putins mindestens so vehement wie der SPD-Kanzler Olaf Scholz (wenn nicht noch stärker) und spricht mit Abscheu über das terroristische Gemetzel der Hamas in Israel. Hätte man gedacht, sie würde die Grenzen nach Lampedusa schließen und Flüchtlinge im großen Stil abschieben, so sieht man sich auch hier getäuscht: Seit sie im Oktober 2022 die Macht übernommen hat, ist die illegale Migration nach Italien nicht etwa zurückgegangen. Zurückgegangen ist dagegen in der italienischen Öffentlichkeit die Angst vor den Migranten, wie der in Oxford forschende bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev in einem Paper nachweist: Die Menschen fühlen sich ernst genommen.

    Melonisierung?

    »Melonisierung«, so lautet der Begriff für den Weg, den die Eisverkäuferin Meloni zurückgelegt hat vom faschistischen Extrem in die Mitte der Gesellschaft. Dass und wie Marine LePen quasi avant la lettre es ihr gleichgetan hat, konnte man in dieser Woche vielfach sehen und lesen. Der Erfolg gibt beiden Politikerinnen recht.

    Blicken wir nach links und also nach Großbritannien, so haben sich auch hier die Eisverkäufer der Labour-Partei in Bewegung gesetzt. Jeremy Corbyn war ein strammer Sozialist. Er stand für klaren Antikapitalismus, für Verstaatlichung wichtiger Industrien, für die Erhöhung der Steuern und für mehr staatliche Ausgaben. Das gefiel den marxistischen Nostalgikern, aber leider nicht den Wählern. Sein Nachfolger Keir Starmer, zusammen mit seiner Chefökonomin Rachel Reeves, hat sich von solchen Träumereien verabschiedet, setzt auf Wachstum und Marktwirtschaft und eine Disziplinierung der Staatsfinanzen. Das ist sein Rezept, um die Linke erstmals seit vierzehn Jahren in Großbritannien wieder an die Macht zu bringen.

    An die Seite stellen ließe sich Starmer, cum grano salis, die deutsche Sarah Wagenknecht. Sie begann als Edelmarxistin und Wiedergeburt Rosa Luxemburgs, bekehrte sich dann, zumindest rhetorisch, zur Freiburger Schule der sozialen Marktwirtschaft und hat seit der Gründung von BSW, dem Bündnis Sarah Wagenknecht, eine ordentliche Portion wohlfahrtsstaatlich großzügigem Nationalismus mit im Angebot für den Wähler. In Thüringen wird sie, nach allem, was uns die Wahlumfragen sagen, ihre Erfolgssträhne fortspinnen.

    Schaut man sich an Europas politischen Stränden um, so ist der Zug von den Rändern in Richtung Mitte nicht zu übersehen. Das widerspricht der gängigen These von der Radikalisierungsspirale und ist so gesehen eine tröstliche Nachricht. Denn es beweist auch: Politiker verhalten sich (mehr oder weniger) rational, wenn sie Wahlen gewinnen wollen. Offenbar funktioniert auch die Demokratie einigermaßen rational. Nun kann man natürlich immer sagen, das seien lauter Wölfinnen im Schafspelz: Irgendwann werde Meloni ihr schwarzes Mussolini-Gewand anziehen und LePen sich als Hardcore-Rechte outen, sobald sie an der Macht ist. Doch bislang gibt es keine Indizien dafür.
    Unübersehbar ist dagegen, dass es in der Mitte eng wird – vor allem für die »Altparteien«, die das Problem haben, dass sie das falsche Eis im Angebot habe – oder anders gesagt keine Antworten auf die Sorgen der Menschen (Migration ist nur eines dieser Themen).

    Gewiss, es gibt es auch Signale, die Hotelling widersprechen. Die polnische PIS-Partei war ursprünglich moderat, Victor Orbans Fidesz kommt aus einer liberalen Tradition. Und auch die deutsche AfD hat sich kontinuierlich radikalisiert, so lange bis die Eisverkäufer mit ihrem Kopf gegen die Felswand stießen. Und dann gibt es noch den ziemlich durchgeknallten Donald Trump in den USA. Aber das ist eine andere Geschichte.

    Schon klar: Wenn sich die Extremen in die Mitte bewegen, gibt es an den Rändern wieder Platz für radikale Wettbewerber.

    Rainer Hank

  • 25. Juli 2024
    Königsmord

    Der »Marktgraf« Otto Graf Lambsdorff (1926 bis 2009) Foto wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Lambsdorffs Putsch – und was das für heute bedeutet.

    Nachdem die Koalitionsparteien im Laufe des Jahres 2024 auch noch mehrere Landtagswahlen verloren haben, war der Zerfall der Regierung nicht mehr aufzuhalten. Die Differenzen zwischen den Parteien traten immer schärfer hervor. Die Orientierung der FDP an einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik und die Ausrichtung der SPD auf staatliche Investitionslenkung und Wirtschaftskontrolle waren miteinander nicht vereinbar.

    Der Rest war politisches Showgeschäft. Während Lindner mit der Union über einen Koalitionswechsel verhandelte, bezichtigte Scholz die FDP wirkungsvoll des »Verrats« und nahm bei seinem Abgang bereits jene Rolle des parteiübergreifend agierenden Staatsmanns ein, die er in den darauffolgenden Jahren spielen würde. Am 1. Oktober 2024 wurde Friedrich Merz (CDU) durch ein konstruktives Misstrauensvotum zum Bundeskanzler gewählt.
    So könnte es kommen. Und so war es: Ersetzt man das Jahr 2024 durch 1982 und die Namen Lindner, Scholz und Merz durch Lambsdorff (FDP), Schmidt (SPD) und Kohl (CDU), so stammt alles wörtlich aus der »Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert« des Historikers Ulrich Herbert. Einzig die Behauptung, dass Ex-Kanzler Scholz nach seinem Sturz weiterhin als Besserwisser vom Dienst noch wahrgenimmen würde, wäre zu überprüfen.

    Zur »Wende« geführt hatte ein Papier, in welchem der liberale Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff auf Bitten von Kanzler Helmut Schmidt seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen zusammenfasste, die sogleich öffentlich wurden. Lambsdorffs Analyse sah zwar auch internationale Ursachen für die langanhaltende Konjunkturschwäche, benannte aber vor allem den Rückgang der Investitionen und den Anstieg der Staatsquote als zentrale binnenwirtschaftliche Verursacher der Krise. Nicht zuletzt die Ausweitung des Sozialstaates seit Mitte der siebziger Jahre erkannte Lambsdorff als Bürde. Seine Folgerungen: Konsolidierung des Haushalts, eine stärker marktwirtschaftlich ausgerichtete staatliche Politik, Umstrukturierung der öffentlichen Ausgaben von konsumtiver (Sozialetat) zu investiver (Infrastruktur) Verwendung und eine »Anpassung der sozialen Sicherungssysteme an die veränderten Wachstumsbedingungen«. Nötig sei eine strenge Haushaltdisziplin. Womöglich erhoffte Helmut Schmidt von Lambsdorff Schützenhilfe gegen die eigene Partei. Faktisch wurde Lambsdorff mit dem Papier zum »Königsmörder«.

    Die Rolle von Hans Tietmeyer und Otto Schlecht

    Dass es Lambsdorffs »Manifest der Marktwirtschaft« nur partiell gelang, eine marktwirtschaftliche Erneuerung der Bundesrepublik voranzutreiben, wie der Freiburger Ökonom (und Berater von Finanzminister Christian Lindner) Lars Feld konstatiert, steht auf einem anderen Blatt. Das größte Versagen der Regierung Kohl lag in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, die vom Koalitionspartner FDP nicht verhindert, noch nicht einmal gebremst wurde.

    Wie hat Lambsdorff sein »Manifest der Sezession« (Gerhard Baum) in derartiger Windeseile zu Papier bringen können? Die kurze Antwort heißt: Er hat es gar nicht selbst geschrieben. Es lag längst in seiner Schublade. Die Ehre der Urheberschaft gebührt zwei Ministerialen, die gar nicht der FDP angehörten. Sie heißen Otto Schlecht (parteilos, aber CDU-nah,1925 bis 2003) und Hans Tietmeyer (CDU, 1933 bis 2016). Von Otto Schlecht stammen Idee und Auftrag; Hans Tietmeyer ist der Autor des Textes.
    Die drei Männer waren nicht nur politisch sehr unterschiedlich. Während Lambsdorff aus altem baltischem und hardcore-protestantischem Adel stammt, kommen Schlecht und Tietmeyer aus eher »kleinen« Verhältnissen. Otto Schlecht wuchs in einer Metzgerei im schwäbischen Biberach auf. Hans Tietmeyer kommt aus dem katholischen Münsterland; sein Vater verwaltete als »Rentmeister« die Gemeindekasse von Metelen an der Vechte.

    Otto Schlecht arbeitete sein ganzes Berufsleben, 38 Jahre lang, im Bonner Wirtschaftsministerium und diente Ministern aus allen drei Parteien. Die »Welt« nannte ihn eine »Inkarnation der beweglichen Grundsätze«. Im Vergleich zu ihm war Tietmeyer ein prinzipienfester westfälischer Dickschädel – später wurde er der letzte Präsident der Bundesbank vor Errichtung der Europäischen Zentralbank.

    1982 war Otto Schlecht, der Ältere, Staatssekretär. Hans Tietmeyer leitete unter ihm die Grundsatzabteilung des Hauses. In einem Interview aus dem Jahr 2000 schildert Schlecht die Genese des »Lambsdorff-Papiers«: Schon Anfang 1982 habe der parlamentarische Staatssekretär Martin Krüner (FDP) ihm gegenüber geklagt: »Wir in der FDP wissen nicht mehr, wo es lang geht, wo man mit den Sozialdemokraten noch Kompromisse machen kann und wo man hart bleiben muss.« Krüner habe Schlecht gebeten aufzuschreiben, »wie die Sache jetzt eigentlich sein müsste, damit wir Orientierungsmaßstäbe für unsere praktische Politik haben«. Schlecht gab den Auftrag an Tietmeyer weiter: »Er hat einen sehr guten Entwurf gemacht, den wir dann durchgesprochen und redigiert haben.«

    Als sich die Krise in der Koalition zuspitzte, habe Kanzler Schmidt, so Schlecht, Lambsdorff angeherrscht: »Ich weiß überhaupt nicht mehr, was Sie wollen. Schreiben Sie mir doch einfach mal auf, was Sie wollen.« Lambsdorff, der den Tietmeyer-Text kannte und billigte, antwortete: »Das können Sie postwendend haben« – und schickt das lediglich minimal redigierte Tietmeyer-Papier an den Kanzler.

    Die Pointe des Umsturzes von 1982 ist dreifach: Die Grundgedanken einer marktwirtschaftlich ausgerichteten Politik, die ein FDP-Minister präsentierte, stammen nicht von liberalen Parteipolitikern, sondern von einem CDU-Beamten: entworfen aus dem Geist der katholischen Soziallehre (Subsidiarität und Eigenverantwortung), der Freiburger Schule (Walter Eucken, Wilhelm Röpke) und seiner sozialen Weiterentwicklung durch Ludwig Erhard, Alfred Müller-Armack und Joseph Höffner.

    Die zweite Pointe ist nicht weniger stark: Ein Papier mit streng ordnungspolitischen Maximen führte in eine Koalition, die sich um Ordnungspolitik wenig scherte (Kanzler Kohl: »Ich will Wahlen und nicht den Ludwig-Erhard-Preis gewinnen«) und statt einer geforderten Angebotspolitik den Sozialstaat weiter aufblähte (Norbert Blüm und die Einführung der Pflegeversicherung).
    Schließlich gibt es noch eine dritte Pointe: Erst unter der rot-grünen Regierung Gerhard Schröders (SPD) setzte sich unter dem Namen »Agenda 2010« eine marktwirtschaftliche Wende durch – mit Erfolgen am Arbeitsmarkt bis heute. Am Ende hat, leicht überspitzt, der Sozialdemokrat Gerhard Schröder das von einem CDU-Mann verfasste und von FDP-Mann Lambsdorff in die Welt gesetzte Wende-Papier umgesetzt, das der sozialdemokratische Kanzler und »Weltökonom« Helmut Schmidt 1982 als »Verrat« der Koalition interpretierte.

    Rainer Hank

  • 01. Juli 2024
    Lob der Kleinstaaterei

    Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger hat wenig zu sagen Foto: BMBW

    Dieser Artikel in der FAZ

    Föderalismus in der Bildung hat einen schlechten Ruf. Zu Unrecht.

    Eine Freundin ist vor ein paar Jahren aus beruflichen Gründen mit ihrer Familie von Hamburg nach München gezogen. Unter dem Schulwechsel, den der Umzug zur Folge hatte, leiden die Kinder bis heute. In Hamburg waren die Schulnoten stets bestens. In Bayern, so erzählt die Mutter, sind die Anforderungen nicht etwa strenger. Doch in Mathe, nur als Beispiel, wurde die Kenntnis »negativer Zahlen« vorausgesetzt. Die wären in Hamburg erst später drangekommen. Die Noten der Kinder sackten in den Keller. Der Schock des Ortswechsels wurde zum Familiendrama.

    Es sind solche Geschichten, die erklären, warum der Bildungsföderalismus in Deutschland einen miserablen Ruf hat. Um die 70 Prozent der Befragten plädieren in Umfragen regelmäßig für mehr Zentralismus der Standards durch das Bundesbildungsministerium. Bildungsdurcheinander als Mobilitätshemmer beruflicher Veränderung – wenn dies der Effekt des Föderalismus sei, sollte man ihn lieber abschaffen, so heißt es. Einen guten Stand hat der Föderalismus eigentlich nur noch in Sonntagreden. Ansonsten wird er als Flickenteppich und Kleinstaaterei geschmäht. Einzig in Bayern schneidet das regional differenzierte Bildungssystem im Ansehen besser ab. Jedenfalls bei denen, die ihre ganze Bildung dort absolvieren. Kein Wunder: Im Leistungsvergleich liegt der Freistaat zumeist an der Spitze. Eltern haben den Eindruck, ihre Kinder würden dort am besten auf ein erfolgreiches und einkommensstarkes Leben vorbereitet. Und ja, natürlich verteidigen die Kultusminister der Länder den Föderalismus. Kein Wunder, sie würden andernfalls ihren Job verlieren.

    Dass Bildung Ländersache ist, war einmal der konfessionellen Friedenssicherung geschuldet, belehren mich Jörg Scheller und Michael Geiss, zwei Schweizer Autoren, in einem FAZ-Essay: Katholische Eltern sollten nicht genötigt werden, ihre Kinder in eine unchristliche oder, schlimmer noch, in eine protestantische Schule zu schicken. Durch die Regionalisierung der Kompetenzen ließ sich dieser Konflikt entschärfen. Heute hat sich dieses Problem angesichts flächendeckender Säkularisierung erledigt.

    Yardstick Competition

    Hat denn niemand ein paar gute Argumente für den Bildungsföderalismus? Zumindest unter Ökonomen, von Berufs wegen Freunde der Konkurrenz, finden sich noch ein paar Befürworter. So etwa beim Wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministers. Das Argument der Wissenschaftler geht so: Das Wahlvolk könne im Zentralismus wegen mangelnder Vergleichsmöglichkeit die Qualität der von ihm gewählten Politikerinnen und Politiker nicht wirksam überwachen. Im Föderalismus haben die Wähler aber die Chance, aus dem Vergleich mit den Politikergebnissen benachbarter Länder Rückschlüsse auf die Leistungen der Politik ziehen, so dass in der Politik ein Wettbewerb anhand von Vergleichsmaßstäben entsteht. Der Fachbegriff dafür heißt »Yardstick Competition«: Institutioneller Wettbewerb zwischen Bundesländern könne somit die Effizienz der Bildung verbessern. Klingt ein bisschen geschwollen, ich weiß. Einfacher gesagt: Föderalismus hat den Vorteil, dass sich Fehler an der Spitze nicht gleich auf das ganze Land auswirken. Das übersehen die Anhänger der zentralen Bildungsplanwirtschaft, wenn sie blind auf die Weisheit von Frau Stark-Watzinger vertrauen. Das Argument, Bürger könnten in einem Föderalismus dorthin umziehen, wo ihnen die Schulpolitik besser gefällt, ist natürlich blauäugig. Doch wenn »Yardstick Competition« die Bürger über die bessere Qualität der Bildung in anderen Bundesländern informiert, können die Wähler ihr Missfallen über die Politik im eigenen Bundesland an der Wahlurne zum Ausdruck bringen.

    Geht das auch ein bisschen konkreter? Ja. Vor ein paar Wochen hat Ludger Wößmann vom Münchner Ifo-Institut, für mich der anregendste Bildungsökonom hierzulande, eine Studie über die Chancengleichheit in den Bundesländern vorgelegt. Dort geht es um den Skandal, dass deutschlandweit nur wenige Kinder aus Nichtakademikerfamilien das Gymnasium besuchen, währen die meisten Akademikereltern von ihren Sprösslingen erwarten, dass sie auf die höhere Schule gehen. Das heißt nicht, dass das Abitur des Menschen Glück bedeutet. Doch die Chancen sollten gleich verteilt sein, sofern es mit gerechten Dingen zugeht.

    Das Ergebnis der Ifo-Studie förderte deutliche regionale Unterschiede zutage. Ausgerechnet in Berlin und Brandenburg sind die Chancen des Bildungsaufstiegs für Unterschichtskinder relativ besser, besser auch als ausgerechnet in Bayern und Sachsen. Wößmann und seine Koautoren haben die Vermutung, dass diese Gerechtigkeitsdifferenz auch damit zu tun haben könnte, dass die Kinder in Berlin und Brandenburg erst nach der sechsten Klasse in die weiterführende Schule wechseln – also zwei Jahre länger zusammen beschult werden.

    Die Staatskanzlei jault

    Der Aufschrei aus Bayern folgte auf dem Fuß: »Skandall!« brüllte Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger. »Einseitig, fragwürdig und methodisch verfehlt«, so echote es beleidigt aus der Münchner Staatskanzlei. Dass könnte daran liegen, dass die Bayern nicht verstanden haben, dass die Studie die Chancengleichheit misst, aber nicht das Leistungsniveau der Schüler. Leistungsmäßig deuten in der Tat die meisten Ländervergleiche darauf hin (zuletzt der aktuelle Bundesbildungsbericht), dass das Leistungsniveau in Deutschland zwar insgesamt stark gefallen ist, dass Bayerische Schüler indessen immer noch relativ mit besten Leistungen auf das Leben vorbereitet werden. Schlusslichter des Leistungsrankings dagegen sind Berlin, Brandenburg und Bremen – ausgerechnet jene Bundesländer, in denen Chancengleichheit deutlich besser realisiert wird als in Bayern und Sachsen.

    Beide Aussagen passen gut zusammen, oder? Zwar steht Deutschland insgesamt im internationalen Vergleich schlecht da (Pisa, TIMSS, Bundesbildungsbericht). Auf diesem bescheidenen Niveau befinden sich aber offenbar zwei Modelle im Wettbewerb: Ein egalitäres System (Berlin, Brandenburg) führt zu mehr Chancengleichheit, ein elitäres Modell (Bayern, Sachsen) bietet dagegen ein höheres Leistungsniveau, lässt dafür aber Unterschichtskinder eher links liegen.

    In einer idealen Bildungswelt müssten hohes Leistungsniveau und Chancengleichheit kein Widerspruch sein. Anschauungsbeispiele, wie das geht, kann man sich in Schweden holen. Doch man stelle sich für einen Augenblick vor, ein zentralistisches Bildungssystem müsste sich zwischen elitär und egalitär entscheiden. Sechs Jahre Grundschule in ganz Deutschland? Der Aufschrei wäre mindestens so laut, als hätte man früher alle protestantischen Schüler in katholische Ordensschulen gezwungen.

    Vielleicht könnten ja beide Modelle innerhalb eines Bundeslandes angeboten werden? Eltern könnten sich dann am Ort zwischen egalitär und elitär entscheiden. G8 und G9 gab es auch eine Zeitlang parallel. Oder ist das jetzt schon wieder blauäugig?

    Fazit: Bildungsföderalismus bietet mehr Vielfalt, leider aber kein Optimum.

    Rainer Hank

  • 19. Juni 2024
    Die Boomer sind geizig

    Die Boomer geben das Geld mit vollen Händen aus? Denkste! Foto Reisereporter

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum mangelt es den Alten an Lebensfreude?

    Wir Boomer sind die reichste Generation, die es in der Geschichte je gegeben hat. Wir hatten im Leben ziemlich viel Glück. Bildungsaufsteiger, die wir sind, haben wir die Chance genutzt, – mit BAföG und Stipendien – zu studieren. Der Lohn der Mühe war nicht nur lebenslag ein guter Beruf, eine ordentliche Karriere und ein gutes Einkommen, sondern auch ein Gewinn an Freude und Freiheit, um vorgegebene Bahnen des Lebens zu verlassen. Wir Boomer sind seit langem die erste Generation, die ohne die persönliche Erfahrung von Krieg, Vertreibung und Hunger alt werden darf. Mein Großvater kam als Krüppel aus dem ersten Weltkrieg zurück; mein Vater kam mit schweren Blessuren aus russischer Gefangenschaft nachhause.

    Es gibt keine amtliche Definition, wer sich Boomer nennen darf. Weltweit sollen es 270 Millionen sein. Wir kamen nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Welt. Wir sind so lange immer mehr geworden, bis sich nach dem Pillenknick der Trend umkehrte. Das war 1964. Seither gehen die Geburtenraten in allen Industrieländern zurück, je länger, je dramatischer. Es fehlen Ideen, wie sich das ändern ließe. Aber das ist ein anderes Thema.

    Heute frage ich mich, warum wir unseres Glücks nicht richtig froh werden. Und warum wir unseren Erfolg nicht angemessen genießen. Sollte man nicht annehmen, dass die Boomer jetzt damit beginnen, ihr Vermögen zu verzehren, das sie durch Arbeit und Leistung – also verdient – aufgehäuft haben? In den USA, so lese ich im »Economist«, machen die Boomer 20 Prozent der Bevölkerung aus, vereinen aber 52 Prozent des Vermögens auf sich, ein Reichtum, der sich auf 76 Billionen Dollar summiert. Doch was sagen uns die Zahlen? Wir sind eine Kohorte der Geizhälse; knausrig halten wir unser Geld zurück. Wiewohl statistisch absehbar ist, dass unsere Restlaufzeit mehr oder weniger kurz ist, um es salopp zu formulieren.

    Kreuzfahrtaktien schwächeln

    Der Verdacht, dass die Alten irrational leben, kam mir beim Blick auf mein Aktiendepot. Weitsichtig kam ich mir vor, als ich mir schon während Corona ein paar Aktien von Kreuzfahrtschiffen zulegte. Meine Prognose: Wenn der Lockdown vorbei ist, werden die Senioren die Aidas dieser Welt besetzen, um von Costa Rica bis auf die Fidschi-Inseln ihr Erspartes zu verjubeln. Kreuzzufahren ist die ideale Konsumweise älterer Menschen. Das Geheimnis des Geschäftsmodells hat der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog einmal so beschrieben: Er besuche viele Länder und Städte, müsse seinen Koffer aber nur einmal auspacken, weil er sein komfortables Hotel die ganze Zeit bei sich habe. Doch was soll ich sagen: Zwar steigen die Passagierzahlen auf den Kreuzfahrtschiffen wieder deutlich. Doch meine beiden Aktienpäckchen – sie heißen Carnival- und Norwegian-Cruiseline – schwächeln, sind die Loser im Depot, weil den Investoren offenbar das Vertrauen in die Zukunft des Schiffsreisens fehlt. Wird schon noch werden, so meine Hoffnung. Doch nun muss ich dem schon erwähnten Economist-Artikel entnehmen, dass die gesamte Altersindustrie underperformt. Der »Ageing-society opportunities index« (was es nicht alles gibt!), er enthält neben der Kreuzfahrtbranche und dem Tourismus auch Aktien von Alters- und Pflegeeinrichtungen und zudem die ganze Anti-Aging-Kosmetik-Industrie, fällt ausgerechnet seit dem Ende von Corona gegenüber jene Indizes zurück, die breit in alle Branchen investieren.

    Das bringt die Makroökonomen in Erklärungsnot. Denn die arbeiten seit langem mit einer sogenannten Lebenszyklus-Hypothese: In der Jugend geben die Leute mehr aus als sie verdienen. Sie leisten sich eine akademische Ausbildung und bauen ein Haus auf Pump, weil das Einkommen noch gering ist. In der mittleren Lebensphase verdienen sie zwar mehr, müssen aber auch private Vorsorge für das Alter betreiben, weil man ihnen gesagt hat, die staatliche Rente werde nicht reichen. Erst in der dritten Lebensphase können die Menschen dann mehr Geld ausgeben als sie einnehmen: »Entsparen«, der Verzehr des finanziellen Erfolgs, wofür das Englische den schönen Ausdruck »eating into my wealth« hat. Doch das Gegenteil passiert: Die Sparquote der Alten steigt, anstatt dass sie sinkt.

    Für die Weltwirtschaft ist das gut, denn Entsparen in großem Stil würde rasch zu Inflation führen (große Konsumnachfrage, knappes Arbeitskräfteangebot). Doch für uns Boomer ist das eine einigermaßen traurige Botschaft. »Krampfhaftes Klammern kann zu weniger Lebensfreude führen«, hat der legendäre FAZ-Kolumnist Volker Looman immer wieder geschrieben. Er warnte, wir würden zu Sklaven unseres seines Vermögens, wenn wir nicht bereit wären loszulassen.

    Der letzte Rasierer hält lange

    Auf dem Markt sind eine ganze Reihe von Erklärungen für die merkwürdige Sparverhaltensänderung der Babyboomer. Die Angst, die Nachkommen könnten es einmal weniger guthaben als wir Glückskinder bringt die moralische Verpflichtung mit sich, ihnen ein üppiges Erbe zu hinterlassen. Hinzu kommt: Langlebigkeit kann dauern; da ist man gut beraten, nicht zu früh von der Substanz zu leben, zumal das Risiko besteht, die letzten Monate oder gar Jahre könnten mit aufwendiger Pflege und hochwertigen Medikamenten besonders teuer werden.

    Ganz subjektiv habe ich noch ein paar weitere Kandidaten altersbedingter Sparsamkeit. Womöglich ist es ein Wohlstandsphänomen, dass die Konsumwünsche im Alter zurückgehen. »Schenkt mir nichts, ich habe schon alles«, so lesen wir es regelmäßig auf den Geburtstagseinladungen. Ein Freund hat mir erzählt, kurz nach dem 60. Geburtstag habe er sich einen neuen Rasierapparat gekauft. Der vorige habe 25 Jahr lang gehalten. »Das wird dann also der Letzte gewesen sein«, so sein melancholischer Kommentar.
    Viele meiner Kollegen arbeiten nach dem Eintritt in das gesetzliche Rentenalter freiberuflich einfach weiter. Ich finde das ein schönes Hobby, das wenig kostet, aber verhindert, dass Zeit zum Geld ausgeben da ist. Auch von Managern der Finanzindustrie höre ich immer häufiger, sie hätten hier oder da noch Aufsichts- oder Beratermandate. »Man kommt zu nichts«, so jüngst ein rüstiger Achtzigjähriger.

    Es wird vermutlich noch ein paar weitere Konsumsperren geben. Wer wie ich im Schwäbischen aufgewachsen ist, hat mit der Muttermilch aufgenommen, dass Sparen eine Tugend sei und Geld ausgeben über den notwendigen Bedarf hinaus zwar keine Sünde, aber doch nahe dran. An die Substanz darf es nicht gehen, das weckt regelmäßig hartnäckig sitzende Verarmungsängste. Wer ein Leben lang zu Sparsamkeit angeleitet wurde, kann nicht einfach im Alter den Hebel umlegen, bloß weil die Ökonomen ihm sagen, jetzt sei die »Verzehrphase« angesagt. Sinnvoller wäre es, die Verhaltensökonomen würden damit beginnen, sich empirisch mit der neuen Alterssparsamkeit zu beschäftigten, sollte sie sich als säkularer Trend erweisen.

    Rainer Hank