Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
04. Dezember 2024Ein Hoch auf Pharma
04. Dezember 2024Mit Unsicherheit leben
15. November 2024Zwangsarbeit
05. November 2024Totaler Irrsinn
18. Oktober 2024Arme Männer
14. Oktober 2024Christlicher Patriotismus
08. Oktober 2024Im Paradies der Damen
28. September 2024Von der Freiheit träumen
28. September 2024Reagan hätte nie für Trump gestimmt
10. September 2024Das Ende der Ampel
27. Februar 2024
Freie Seeufer für alleWenn Gemeinwohlinteresse auf Privateigentum trifft
Ich war ein paar Tage in Zürich. Dort tobt ein Streit über den Zugang zum See. Eine Volksinitiative verlangt, bis zum Jahr 2050 müsse ein durchgehender Spazierweg am Zürichsee gebaut werden, möglichst nahe am Ufer. Am 3. März wird darüber abgestimmt.
Da kommt Freude auf. Denn am See wohnen ja schon Menschen, es sind nicht die Ärmsten. Und die finden es überhaupt nicht lustig, sollten künftig wildfremde Menschen über ihr Grundstück spazieren. Es stört die Ruhe und mindert den Wert ihres Eigentums. Und natürlich war der exklusive Seezugang beim Kauf des Grundstücks eingepreist. Die im vergangenen Jahr verstorbene Sängerin Tina Turner soll für ihr Anwesen in der Zürichsee-Gemeinde Stäfa 70 Millionen Franken gezahlt haben. Auch der Tennisstar Roger Federer, in der Schweiz eine Art nationale Ikone, soll schon nervös geworden sein, so ist zu lesen: Der nämlich will bei Rapperswil-Jona ein Anwesen auf 16 000 Quadratmetern mit sechs Gebäuden, Pool und Tennisplätzen bauen – ein kleines Dorf, genannt »Federer City«. Auch ein Bootshaus samt Steg und Flachwasserzone gehört dazu. Einen Kaufpreis von 40 bis 60 Millionen Franken taxieren die Fachleute für das Filetstück.
Schon rechnen die Anwälte der Eigentümer den möglichen Wertverlust ihrer Seegrundstücke in Entschädigungsansprüche um für den Fall, die Initiative hat Erfolg, die sie selbstredend einer liberalen Rechtsordnung unwürdig ansehen und die sie deshalb auch prinzipiell mit allen juristischen Mitteln bekämpfen werden. Eine halbe Milliarde Franken Entschädigungskosten befürchtet die Zürcher Regierung, während die Seeweg-Initiative Kosten von lediglich 38 Millionen Franken veranschlagt. Denn das Seeufer gehöre immer schon der Allgemeinheit, die sich jetzt ihr Eigentum zurückhole.
Der Fall interessiert mich deshalb, weil er eine psychologische, eine juristische und eine ökonomische Komponente hat. Der psychologische Aspekt ist am einfachsten zu sehen. Die Emotionen sagen: Wo kommen wir hin, wenn sich die Reichen und Schönen mit ihrem vielen Geld auch noch die schönsten Plätze dieser Erde exklusiv sichern dürfen. Daran, dass die Seen nördlich und südlich der Alpen zu den schönsten Plätzen der Welt gehören, kann es keinen Zweifel geben. In der Initiative schwingt also einerseits viel Neid mit, zugleich kann man eine Gleichheits- und Gerechtigkeitsdebatte vernehmen. Denn natürlich wohnen an der Zürcher Goldküste nicht nur Menschen, die wie Tina Turner und Roger Federer ihr Vermögen mit künstlerischer und sportlicher Leistung erarbeitet haben, sondern auch Banker, Spekulanten und gerüchteweise sogar Oligarchen, bei denen das Volksempfinden noch ungnädiger zu werden pflegt als bei normalen Multimillionären.
Das Privateigentum ist heilig
Zugleich – das ist der ökonomische und juristische Aspekt – beruht die Marktwirtschaft auf einer Rechtsordnung, die das Privateigentum vorbehaltlos schützt. Für den Philosophen John Locke (16032 bis 1704) vereinigen sich die Menschen nur deshalb zu einem Staat, um einander ihr Leben, ihre Freiheit und ihre Güter zu sichern: »Life, Liberty and Property« heißt die liberale Trinität, deren letztes Glied die amerikanische Verfassung durch »pursuit of happyness« ersetzt hat, das Recht, sein Glück zu verfolgen, also gerne auch an seinem Privatsee.
Bei den Seen hat die Freiheit allerdings seine Grenzen. Jedenfalls in der Schweiz, wie mir Andreas Glaser, ein Professor für Staatsrecht an der Universität Zürich, klarmacht. Wasserflächen sind dort grundsätzlich Eigentum der öffentlichen Hand. Und am Zürichsee sei sogar das Ufer lediglich als Konzession an Private vergeben worden, die das bloß vergessen hätten. »Aus meiner Sicht sind Uferwege grundsätzliche verfassungsrechtlich zulässig«, sagt Glaser; bloß eine geringe Entschädigung müsse gezahlt werden.
»Eigentum verpflichtet«, heißt es auch im deutschen Grundgesetz. Das ist eine Art milder Sozialismus, woraus gemeinhin das Recht abgeleitet wird, Privateigentum zu konfiszieren und zu vergesellschaften. Das führt in Berlin zum Beispiel nun schon seit Jahren zu einem erbitterten Streit darüber, ob das Land berechtigt ist, private Wohnungsunternehmen zu kassieren als Mittel gegen galoppierende Mietpreise. In der Bayerischen Verfassung wird den Bürgern (Artikel 141, Absatz 3) »das Recht auf freien Zugang zu den Naturschönheiten Bayerns« garantiert, wozu nicht nur die Freiheit, auf Berge zu klettern oder in Flüssen zu schwimmen zählt, sondern eben auch der Zugang zu den schönen Seen des Freistaats. Das heißt freilich nicht, dass die Seen an jeder beliebigen Stelle frei zugänglich sein müssen. Am Starnberger See, sozusagen das Pendant des Zürichsees für die Bewohner Münchens, gehören lediglich 24 von 50 Kilometern Ufer der Öffentlichkeit.Während, wie gesagt, in der »liberalen« Schweiz Seen prinzipiell dem Volk gehören, also nicht privatisierbar sind, sind die Gewässer hierzulande genauso eigentumsfähig wie der feste Boden. Das sorgt vor allem in den »neuen« Bundesländern immer wieder für erbitterten Streit, wo etwa in Brandenburg die Treuhand-Nachfolgeunternehmen, um an Geld zu kommen, das DDR-Volkseigentum an den Seen meistbietend an Private (also zum Beispiel Düsseldorfer Millionäre) auf den Markt gebracht haben. Die neuen Eigner waren dann der Meinung, sie könnten Geld von Badeanstalten oder Golfplätzen verlangen, deren Grundstück direkt an »ihren« See grenzt, sofern deren Gäste oder Mitglieder dort zu schwimmen oder Tretbootfahren beabsichtigen.
Der Konflikt zwischen dem Anspruch auf freiem Zugang zu den Highlights von Gottes Schöpfung (vulgo: den Binnengseen) und der marktwirtschaftlichen Garantie des Privateigentums ist wohl nur pragmatisch zu lösen. Wir machen Halbe-Halbe, wie am Starnberger See, hat freilich den Nebeneffekt, dass dies das privatisierbare Ufer ebenfalls halbiert und die Preise hochtreibt. Auch am Zürichsee sind jetzt schon nur 12,6 von insgesamt 50 Kilometer Seeufer in privater Hand. Vom Bellevue in Zürich kann jedermann frei in Richtung Küsnacht joggen oder walken.
Der im vergangenen Jahr verstorbene Schriftsteller Martin Walser verbrachte den größten Teil seines Lebens in einem wunderschönen Haus mit Seezugang am Bodensee. Dort, so erzählte er uns anlässlich eines Interviews, gab es in den wilden siebziger Jahren einmal eine Enteignungsinitiative für einen öffentlichen Seeuferweg. Damals war Walser ein strammer Kommunist und also gegen jegliches Privateigentum. Als Anwohner am See fand er die Initiative dagegen ziemlich doof, die dann aber zu seiner privaten, gewiss nicht ideologischen Zufriedenheit letztendlich keine Mehrheit fand. »Nichts ist wahr ohne sein Gegenteil«, pflegte Walser zu sagen.
Rainer Hank
27. Februar 2024
Ein Lob der WitweGeld, Macht und die Karriere der Frauen
Würde man nach der am meisten unterschätzten Stadt Deutschlands fragen, Augsburg wäre eine Kandidatin. Würde man nach den am meisten unterschätzten Unternehmern fragen, die Witwen wäre gute Kandidatinnen. Beides hängt miteinander zusammen.
Die Vermutung über Augsburg und die Witwen verdanke ich Jochen Sander. Der Mann ist stellvertretender Direktor des Frankfurter Städel-Museums. Derzeit ist dort von ihm kuratiert eine grandiose Ausstellung zu sehen über Augsburg, die Fugger und die Künstler dieser Stadt, allen voran Jakob Holbein der Ältere. Die Ausstellung gibt es dort noch bis zum 18. Februar. Vom 19. März an ist sie dann im Kunsthistorischen Museum in Wien zu sehen. Es lohnt sich.
Im 14. und 15. Jahrhundert ist Europa im Umbruch. Die Städte Oberitaliens – Padua, Bologna, Venedig und Florenz – entwickeln sich zu Zentren des frühen Kapitalismus. Familien gründen Banken – die Medici zum Beispiel – stellen für Fürsten und Unternehmer Kredite zur Verfügung. Und setzen sich weitsichtig über das biblische Verbot hinweg, Zins für geliehenes Geld zu verlangen. Die zu Reichtum gekommenen Fürstenhäuser schmücken sich mit zeitgenössischen Künstlern.
Auch nördlich der Alpen gab es die Idee der Renaissance. Augsburg wird zur Stadt der Macht, des Geldes und der Künste. Die Städel-Ausstellung bezeichnet Augsburg als Zentrum der »Renaissance im Norden« und des großen Geldes – eine Art Wallstreet der frühen Neuzeit. Im Vergleich mit Augsburg in der damaligen Zeit muss München eine provinzielle Residenzstadt gewesen sein. Denn die Stadt am Lech war vor allem Sitz eines global agierenden Familienunternehmens – der Fugger. Der notorisch hoch verschuldete Kaiser Maximilian I (1459 bis 1519) ist häufig in der Stadt: Man muss sich mit seinen Bankern gut stellen.
Die Dynastie der Fugger
Die Fugger waren nicht von Anfang eine Dynastie der Bankiers. Noch auf dem Höhepunkt ihres Reichtums und Ansehens machten sie kein Hehl daraus, dass sie von einem Weber abstammten, der 1367 nach Augsburg gekommen war. Dieser Hans Fugger (circa 1350 bis 1408), der Stammvater, war kein armer Mann: Seine erste Zahlung, die das Augsburger Steuerbuch verzeichnet, lässt auf ein ordentliches Startkapital schließen, und durch zwei vorteilhafte Ehen konnte er dieses Vermögen mehren. So lese ich es bei Mark Häberlein, einem Geschichtsprofessor in Bamberg, der ein Standardwerk über die Fugger verfasst hat. Bald verfügten Hans Fuggers Söhne Andreas und Jakob über das fünftgrößte Vermögen der Reichsstadt. Jakob Fugger »der Ältere« begründete eine eigene Handelsgesellschaft, aus der sich in großer Geschwindigkeit ein Rohstoff- und Finanzkonzern entwickeln sollte: Kupferhandel und Kredite an das Haus Habsburg waren die beiden Säulen des Unternehmens.
Womit wir bei den Witwen angekommen wären. Denn Jakob Fugger verstirbt bereits 1469. Seine Witwe Barbara, geborene Bäsinger, überlebt ihn um 28 Jahren – und in diesen Jahren führt sie sozusagen als Vorstandsvorsitzende den Fugger-Konzern in alleiniger Regie. Sie behält auch noch die Kontrolle über das Familienvermögen, als ihre Söhne längst erwachsen waren. Und sie war außerordentlich erfolgreich: Den Besitz der Familie hat sie nicht nur »wol beyeinander gehalten«, wie es in einer zeitgenössischen Quelle heißt, sondern ihn beträchtlich gemehrt: Lag das Vermögen der Firma beim Tod des Mannes bei 15.000 Gulden, so konnte sie nach 1497, ihrem Todesjahr, 23.292 Gulden den Erben hinterlassen.
Wer war diese Barbara Bäsinger? Quellenmäßig ist die Frau schwer zu fassen. Ihr geschäftlicher Erfolg bildet sich fast ausschließlich in steigenden Vermögenssteuerzahlungen in den Augsburger Steuerbüchern ab; andere Quellen sind rar. Da ihr Sohn Jakob Fugger »der Reiche« bestrebt war, Frauen aus der Handelsgesellschaft auszuschließen, hatte er auch kein Interesse daran, das Gedächtnis einer tüchtigen Geschäftsfrau in der Familie zu bewahren. Ab dem 16. Jahrhundert wurden Frauen aus der Leitung der Handelsgesellschaft kategorisch ausgeschlossen. Die – männliche – Fugger-Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhundert tat ein Übriges, die Unternehmerinnen im Hause der Fuggerfamilie zu ignorieren.
Die geschäftstüchmtige Barbara Bäsinger
Einiges immerhin ist über Barbara Bäsinger bekannt. Ihr Leben wurde von der Historikerin Martha Schad (»Die Frauen des Hauses Fugger«) erforscht. Barbara Bäsinger war die Tochter des einflussreichen Goldschmieds und Münzmeisters Franz Bäsinger. »Ganz Tochter ihres geschäftstüchtigen Vaters« handelte sie mit Wolle, Baumwolle, Seide und Südfürchten. Sie mehrte ihren Grundbesitz und schützte das Vermögen gegen Erbaufteilung. Ihr gesellschaftliches Ansehen zeigt sich daran, dass sie einen Kirchenstuhl erwerben durfte. Sie ist ein Beispiel für den sozialen Aufstieg einer Webersfrau zur Kaufmannsfrau, einer selbständigen Geschäftsfrau in der Reichsstadt Augsburg.
Bäsinger war nicht die einzige tüchtige Witwe der Fugger. Frauen traten damals aus der Vormundschaft ihrer Männer heraus und verdienten sich ihr Leben in der Stadt in vielen Berufen. Sie hatten selbstverständlich einen Platz in den Zünften. Sie konnten finanzielle Verpflichtungen eingehen und gerichtlich Zeugnis ablegen. Abschlüsse von Kauffrauen waren unbeschränkt verbindlich, die Frauen waren schuldens- und konkursfähig. Wittfrauen, scheibt Martha Schad, waren »freier als jede andere Frau der mittelalterlichen Gesellschaft und hatten ihre volle Eigenverantwortlichkeit«. Einen speziellen Witwenstand, der wie noch im Mittelalter Keuschheit vorschrieb, gab es im 15. Jahrhundert nicht mehr. Der »Lohn der Witwe« sei höher als der einer Ehefrau, heißt es in einer Quelle, »wo doch der Witwenstand soviel besser und bequemer erscheint als das Leben einer Verheiraten«.
Ob Barbara Bäsinger solch eine lustige Witwe war, wissen wir nicht. Doch wir wissen, dass sie nie wieder geheiratet hat. An potenziellen neuen Lebenspartnern habe es nicht gefehlt, heißt es. Doch schon allein aus Geschäftsinteresse habe sie wohl eine weitere Ehe abgelehnt. So konnte sie ihr Vermögen für ihre Kinder erhalten und ihnen durch eine geschickte Heiratspolitik zu weiterem Aufstieg verhelfen.
Merke: Erfolgreiche Karrieren von Frauen gibt es nicht erst seit dem emanzipierten 20. Jahrhundert. Dass wir so wenig über sie wissen, haben die Männer zu verantworten; sie haben diese Erfolgsgeschichten unterdrückt.
Barbara Bäsinger gebührt ein Ehrenplatz in der Reihe der erfolgreich wirtschaftenden Witwen, in deren weiteren Verlauf wir etwa im 19. Jahrhundert auf die Witwe Barbe-Nicole Ponsardin (»Veuve Cliquot«), die Erfinderin des Champagners, treffen. Heute fallen einem die beiden Verlegerwitwen Friede Springer und Liz Mohn (»Bertelsmann«) ein. Oder Maria-Elisabeth Schaeffler, Chefin des gleichnamigen Automobilzulieferers.
Rainer Hank
21. Februar 2024
Die Hamas-MillionäreEs wäre besser, Hochhäuser statt Tunnel zu bauen
Jüngst gab es wieder eine dieser Diskussionen im Freundeskreis über die Frage, ob die Reaktion Israels auf das Massaker vom 7. Oktober »verhältnismäßig« sei. Wobei alle Anwesenden das Gefühl teilten, dass es sich im Frankfurter Nordend einigermaßen komfortabel debattieren lässt über die Verhältnismäßigkeitskriterien in einem Krieg.
Ein Argument in der Debatte klang eher pragmatisch-utilitaristisch und weniger humanitär-moralisch. Ein derart massiver Schlag Israels, der Zehntausenden Menschen in Gaza das Leben koste, stärke langfristig die Hamas, die dies als Legitimation künftiger Terrorangriffe gegen Israel benutzen werden. Mäßigung wäre insofern nicht nur ein Gebot des Kriegs- und Völkerrechts, sondern auch der Klugheit.Das Argument der Mäßigungsklugheit unterstellt eine Art historischer Zwangsläufigkeit. So als ob der Hamas gar keine andere Wahl bleibe, als abermals mit einem »Rachefeldzug« zu reagieren. Das Argument unterschlägt, dass historische Prozesse nicht alternativlos sind und so tut, als gäbe es einen Determinismus. Im Nachhinein mag das so aussehen, weil es in der Geschichte fürs Kontrafaktische keine Kontrollgruppen gibt.
Machen wir es konkret. Die Hamas ist eine reiche Organisation. Sie braucht viel Geld zur Finanzierung ihres Terrorsystems. Woher kommt das Geld? Der Eindruck, es handele sich vor allem um milde Gaben aus Katar, dieser Eindruck ist falsch oder zumindest grob unvollständig. Die Hamas hat selbst seit Jahren ein riesiges und weit verzweigtes Finanzimperium aufgebaut. Und zwar völlig legal. Anders als man es bei Terroristen vermuten könnte, spielen illegale Geschäfte wie Geldwäsche oder Drogenhandel keine oder eher marginale Rollen. Das ist wenig bekannt. Eine große Geschichte in der New York Times vom Ende Dezember hat mir die Augen geöffnet. Danach ist die Hamas im Besitz einer Art von Staatsfonds, der Hunderte Millionen Dollar weltweit profitabel und ganz legal anlegt. Auf ähnliche Weise finanzieren sich auch die Golfstaaten, Singapur oder Norwegen. Die Firmen der Hamas kontrollieren Bergwerke, Geflügelfarmen und Straßenbaufirmen in Sudan. Sie finanzieren Bürohochhäuser in den Vereinigten Emiraten, engagieren sich bei Projektentwicklern in Algerien und verfügen über nennenswerte Aktienpakete eines börsennotierten Immobilienkonzerns in der Türkei.
Profitable Invevstments einer Terroristentruppe
Noch einmal: das sind alles legale und offenbar auch sehr profitable Investments einer mörderischen Terroristentruppe. Die Existenz dieses Finanzimperiums soll auch schon seit 2018 bekannt sein, schreibt die New York Times – nicht nur dem israelischen Geheimdienst, sondern auch den entsprechenden Diensten der USA. Aber anders als etwa gegen Iran oder Russland gab es keinen Boykott oder wenn doch, dann wurde er weniger als halbherzig verfolgt. Es ist in der Tat leichter, Gas- oder Ölexporte eines Landes zu boykottieren im Vergleich zu Dividendenerträgen oder Kursgewinnen aus der Beteiligung an einem börsennotierten Konglomerat.
Und die Erträge aus diesen Finanzaktivitäten sind mehr als Peanuts. Fachleute schätzen, dass die Hamas jährlich zehn bis fünfzehn Millionen Dollar an den Weltfinanzmärkten erwirtschaften. Geraume Zeit vor dem Massaker haben sie durch den Verkauf von Unternehmensbeteiligungen 75 Millionen Dollar erlöst. Mit diesem Geld waren sie in der Lage, militärisch aufzurüsten, das verzweigte und sehr ambitionierte Tunnelsystem weiter auszubauen: Geschätzt handelt es sich um 500 Kilometer unterirdischer Gänge in bis zu 20 Metern Tiefe, betongesichert und gut belüftet. Ein Kilometer Tunnel, das sagen Schätzungen, kostet mindestens 500.000 Dollar. Und vor allem versetzt ihr »Staatsfonds« – oder soll man lieber sagen »Terrorfonds« – sie in die Lage, nach dem Krieg die zerstörten militärischen Anlagen wieder aufzubauen und an ihrem Ziel, der vollkommenen Auslöschung Israels, weiterzuarbeiten.
Wäre es so, liefe das Argument ins Leere, Israel provoziere durch den Krieg einen Rachefeldzug der Hamas. Die Schatzmeister der Terrororganisation haben längst schon die langfristige Finanzierung ihres Staatskonzerns zur Vernichtung der Juden gesichert. Um die Finanzierung eines Minimal-Sozialstaats (Schulen, Krankenhäuser) für die arme Bevölkerung in Gaza brauchen sie sich nicht zu kümmern. Diese Aufgaben wurden perfide an die UN delegiert – das Flüchtlingshilfswerk UNRWA; Deutschland trugt allein 2023 daran einen Anteil von 200 Millionen Euro. Die Hamas kann sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren, den Terror.
Halten wir fest: Die Hamas hat offenkundig kein Interesse, mit den Erträgen ihrer Beteiligungen den Wohlstand des Landes und seiner Bevölkerung zu mehren. Es verwendet das Geld stattdessen zur Destruktion (verbunden mit den paradiesischen Versprechungen künftiger Belohnung der »Märtyrer«). Die Menschen in Gaza sind, so gesehen, in erster Linie Opfer der Hamas, nicht Opfer einer Unterdrückung oder gar Kolonisierung durch den Zionismus und den postkolonialen Imperialismus des Westens. Und das UNRWA hält den Menschen in Gaza die Illusion einer Rückkehr nach »Palästina« aufrecht.
Dubai hat die friedliche Alternative gewählt
Das führt zurück zu unserer Debatte im Frankfurter Nordend. Dass die Hamas jetzt schon im Besitz finanzieller Ressourcen für den militärischen Wiederaufbau ihres Landes und den Kauf weiterer Waffen ist, sieht eben nur auf den ersten Blick aus wie eine Bestätigung der These von einer Spirale von Gewalt und Vergeltung. Kein historisches Gesetz nötigt die Hamas zu dieser Logik. Dafür ist ein Blick nach Dubai hilfreich. Dort ist es in nur wenigen Jahrzehnten gelungen, aus einem armen Wüstenstaat ein reiches Land zu machen. Das Rezept dafür ist nicht besonders originell. Man kennt es auch aus Singapur oder Hongkong. Es entstammt dem Lehrbuch der liberalen Ökonomie: Offene Handelsgrenzen, Marktwirtschaft, ein mehr oder weniger stabiles Rechtssystem und eine Diversifizierung der Wirtschaftstätigkeit als Vehikel zur Reduzierung der Abhängigkeit vom Öl. Dubai hatte keine besseren wirtschaftlichen Bedingungen als Gaza, womöglich sogar schlechtere – denn Gaza hat einen Zugang zum Mittelmeer. Die Zahlen sprechen für sich. Das Prokopfeinkommen in Dubai liegt bei 45.000 Dollar, das palästinensische Einkommen beträgt nicht einmal 4.000 Dollar pro Kopf.
Hamas hat sich entschieden, nicht dem Vorbild Dubais zu folgen. Lieber wiederholen sie den Weg des Vietkongs im Jahr 1968, wie der Publizist Thomas L. Friedman kürzlich bemerkt hat: Ein auf 200 Kilometern verzweigtes Tunnelsystem diente im Vietnamkrieg als militärische Basis eines mörderischen Krieges. Tunnel statt Hochhäuser? Terror statt Wohlstand? Es ist eine Frage der Wahl, nicht des Schicksals.
Rainer Hank
21. Februar 2024
Eure Tage sind gezählt!Warum Apokalypse gut ankommt, aber nichts hilft
Was sollen wir tun, um den Klimawandel zu bremsen? »Fridays for Future«, »Extinction Rebellion« und die »Last Generation« malen den Weltuntergang an die Wand. Wenn die Menschen nicht schleunigst ihr klimaschädliches Verhalten beenden, so die Botschaft, dann ist der Planet verloren – den es bekanntlich nur einmal gibt. Dass die Warnungen vorwiegend von einer jungen Generation kommen, verschafft ihnen Glaubwürdigkeit und den Älteren ein schlechtes Gewissen: Wer nach dem Motto »Nach mir die Sintflut« lebt, ist moralisch ein Schwein.
Die Propheten des Weltuntergangs bedienen sich der Bilderwelt der Apokalypse. Fühlen sich Gesellschaften existentiell bedroht, greifen sie bei der Deutung der Bedrohung immer schon auf Schreckensbilder zurück: Das Ende ist nahe. Wer den Untergang abwenden möchte, muss sofort handeln. Um die Menschen in ihrer Selbstzufriedenheit aufzurütteln, muss Panik geschürt werden. »I want you to panic«, so lautet der berühmt gewordene Schocker der Aktivistin Greta Thunberg. Seit alters her gehört die Übertreibung zur apokalyptischen Rhetorik. Denn nur so werde es zu Verhaltensänderungen kommen, glauben die Apokalyptiker. Zum Beweis, dass das Ende nahe ist, gibt es Zeichen. »Mene, mene tekel«, schreibt die Flammenschrift an die Wand in Babylons Königspalast. Der Prophet Daniel deutet darin das Schicksal des neuen Königs Belsazar: »Deine Tage sind gezählt.« Vom frühen Christentum bis in die Neuzeit war die Androhung des Weltuntergangs ambivalent. Wer gottwohlgefällig lebt, dem steht der Himmel offen, wo sich eine bessere Welt auftut als im irdischen Jammertal. Die Sünder hingegen landen im Inferno. In unsren säkularen Tagen ist die Hoffnung auf das Jenseits geschwunden. Hinter der »Last Generation« lauert das Nichts.
Das »Team Apokalypse« hat viele Mitglieder. Jetzt hat eine junge britische Wissenschaftlerin ihren Austritt aus dem Untergangsclub öffentlich gemacht. Nennen wir ihre Alternative »Team Fortschrittsoptimismus«. »Not the end of the world«, heißt ihr kürzlich erschienenes Buch mit dem Untertitel: »Wie wir die erste Generation werden können, die einen nachhaltigen Planeten geschaffen hat«. Hannah Ritchie, die Autorin, hat hohe Glaubwürdigkeit: Die Schottin ist gerade einmal 31 Jahre alt und hat Umweltwissenschaften an der Universität Edinburgh studiert. Ihren akademischen Weg, wie gesagt, hat sie im »Team Apokalypse« begonnen. »Damals nahm ich einfach an, dass die Welt immer schlimmer werde.«
Doch dann löste sie sich von den Apokalyptikern. Ihre Konversion geht auf zwei ältere Männer zurück. Der eine, Hans Rosling, ein schwedischer Statistiker, überzeugte die Umweltwissenschaftlerin mit soliden Fakten davon, dass viele unserer Vorstellungen falsch sind. Vieles auf der Welt ist nicht schlechter, sondern besser geworden. Roslings Buch »Factfullness«, Summe eines langen Forscherlebens, gibt es auch auf Deutsch, ein Longseller auf dem Büchermarkt. Der andere Mann ist Max Roser, der in Oxford die Plattform »Our world in Data« gegründet hat. Dort zeigt er mit vielen Kurven, wie sehr sich die Welt seit dem frühen 19. Jahrhundert verbessert hat, ausgelöst durch technischen Fortschritt und viel Kapitalismus. Hannah Ritchie arbeitet heute als »Head of Research« in Rosers Faktenfabrik.
Dauernde Übertreibung stumpft ab
Ritchie bezweifelt, dass die Apokalyptiker die Menschheit zu einem Sinneswandel bewegen könnten. Im Gegenteil: Sie richten mehr Unheil an als sie Gutes tun. Denn die Übertreibung wird von den Menschen durchschaut. Irgendein Weltuntergang ist immer; Apokalypse stumpft ab. Ihre Prophezeiungen sind noch selten eingetreten. Tatsächlich haben Apokalyptiker seit jeher das Problem zu erklären, warum die Welt doch nicht untergeht. Das delegitimiert ihre Experten und gibt den Verdrängern, in unserem Fall den Klimaleugnern, Auftrieb. Mit »Degrowth«- und »Depopulations,-Strategien«, also dem Aufruf, keine Kinder in die Welt zu setzen und das Wirtschaftswachstum zu drosseln, ist niemand geholfen und vielen geschadet, vor allem den Armen.
Hannah Richie ist keine Klimaleugnerin. Sie plädiert auch nicht für blinden Optimismus, hält es freilich für zielführender, die bereits erreichten Erfolge der Transformation zu betonen. Vieles davon ist nicht Common Sense. Zum Beispiel die überraschende Tatsache, dass im Jahr 2012 die Energie in Großbritannien zu 40 Prozent von der Kohle abhing; fünf Jahre später waren es nur noch sieben Prozent. Weltweit ist es gelungen, Wachstum und CO2–Ausstoß voneinander zu entkoppeln. Moralisierung hilft nicht weiter, findet Richie. Verzicht predigen auch nicht. Zur Rettung des Klimas müssen wir keinen Verzicht üben. Stattdessen dürfen wir auf den technischen Fortschritt setzen: die Ingenieure werden am Ende schneller sein als die steigenden Temperaturen. Besser als das apokalyptische Menetekel funktioniert der Preismechanismus, der dem Emissionshandel zugrunde liegt. Sobald E-Autos billiger werden als Verbrenner, sie noch dazu – siehe Tesla – als »cool« gelten und allmählich eine Ladeinfrastruktur sich bildet, kann man den Fortschritt sehen. »Ich bin zurückhaltend darin, den Menschen zu predigen, was sie tun sollen«, sagt Richie.
Die junge Wissenschaftlerin ist auf Gegenwind eingestellt. Besonders provokant ist ihre Behauptung, sich mit regionalen Produkten zu ernähren, bringe nichts für das Klima. Wer in Schottland eine heimische Lammkeule verzehrt, hinterlasse einen schlimmeren CO2–Fußabdruck, als wenn er sich mit Avocados aus Mittel- und Südamerika ernährt. Denn der Transport von Lebensmitteln in Schiffscontainern trägt lediglich 0,2 Prozent zu den globalen CO2–Emissionen bei. Im Übrigen wurde der Abholzungsprozess der Regenwälder in gestoppt, weil die Landwirtschaft ihre Flächen viel effizienter nutzt – nicht zuletzt dank des bei den Umweltaktivisten besonders verhassten Palmöls: eine super-effiziente Frucht. Nicht »Kauft heimische Produkte!« müsste der Klimaimperativ heißen. Sondern: »Kauft von dort, wo die Bedingungen optimal sind«: tropische Früchte aus tropischen Ländern und Fleisch aus Gegenden, wo das Weideland optimal genutzt wird. Effektiven Umwelt- und Klimaschutz nennt Ritchie dies.
Schlimmer noch als der Wind von den Gegnern ist das eigene schlechte Gewissen, mit welchem man im »Team Fortschritt« rechnen muss: Auf den technischen Fortschritt, den Preismechanismus und die globale Koordination der Staaten in einem Klimaclub zu vertrauen, werden die Apokalyptiker als Ablenkungsmanöver und Selbstbetrug von Leuten denunzieren, die am liebsten gar nichts ändern wollen. Während die Untergangspropheten sogar den Verzicht auf den Verzehr eines Hühnereis als klimafreundliche Großtat preisen. Die Fortschrittsoptimisten haben die bessere Theorie, die Apokalyptiker haben das bessere Gewissen.
Rainer Hank
19. Februar 2024
Ode an den TreckerDa staunt das Pferd, und der Bauer wundert sich
Die Kinder meiner Schwägerin, zwei Buben, kannten über Jahrzehnte nichts Schöneres als Ferien im Hunsrück. Dort sagen sich zwar Fuchs und Hase gute Nacht und die Bevölkerung denkt an Auswanderung – Edgar Reitz »Heimat« lässt grüßen. Die beiden Buben indes fieberten den Ferien entgegen, weil der Vater auf dem großen Grundstück zwei Oldtimer-Traktoren angeschafft hatte: auf diesen Riesenheuschrecken zu fahren war für sie das Höchste der Gefühle. Kein Porsche hätte da mithalten können.
Mir fielen die beiden Buben ein, als ich vergangene Woche eine Weile der Traktoren-Prozession zusah, die sich von der Frankfurter Adickesallee in Richtung Messe bewegte und scheinbar nicht enden wollte. Jämmerlich dagegen das Gehupe der Autos, SUVs, die sich wie Winzlinge ausnahmen gegenüber den grünen Hightech-Treckern mit den Godzilla-Reifen, auf denen stolz ihre Besitzer demonstrierten: »Mammuts von heute« mit 200 PS und schalldichter Kabine, wie der Historiker Ulrich Raulff die Riesendinger einmal nannte. Man kann mit ihnen auf dem Acker und auf der Autobahn fahren. Der Kenner riecht die Marke von weitem: Claas, Fendt oder John Deere.
»Den Schlepper selbständig zu fahren, ist für Jungen eine Selbstverständlichkeit, sobald ihre Körpergröße und Stärke das Niedertreten des Kupplungspedals ermöglicht.« So erzählte es der Historiker Ewald Frie vergangene Woche beim Neujahrsemfang des Frankfurter Literaturhauses. In seiner autobiographischen Erzählung »Ein Hof und elf Geschwister« über den stillen Abschied vom bäuerlichen Leben in der den sechziger und siebziger Jahren fügt Frie hinzu: »Auf unserem Hof wurden Holzklötze und Latten zurechtgesägt, damit auch noch Jüngere Bremse und Kupplung bedienen konnten.« So habe der Traktor auch die Produktivität der Kinder gesteigert.
Der Blick auf den Trecker ist ein schöner Nebeneffekt des aktuellen Bauernprotests. Jenseits seiner stakelig-spröden Ästhetik muss unbedingt auch an seine geschichtsphilosophische und wirtschaftshistorische Bedeutung erinnert werden. Als der deutsche Intellektuelle Arthur Koestler, ein Journalist, im Jahr 1932 in die KPD eintritt, teilt er als allererstes der Partei seinen Wunsch mit, als Traktorist in der Sowjetunion in Einsatz zu kommen. Es war die Zeit der Zwangskollektivierung, Stalins Regime brauchte dringend Arbeiter auf den Kolchosen, für die der Name »Traktorist« erfunden wurde, den es später auch im DDR-Deutsch gab. Der Traktorist war ganz vorne mit dabei, wenn es darum ging, den Kapitalismus mit sozialistischen Fünfjahrespläne abzulösen. Wie für die beiden Jungen meiner Verwandtschaft war »der Traktorist« für die Intellektuellen der dreißiger Jahre der Inbegriff der Verheißung einer revolutionären Heldenkarriere. Leider ging Koestlers Wunsch nicht in Erfüllung. Sein Verbindungsoffizier fand, nicht ganz zu Unrecht, es handele sich bei seinem Wunsch um ein »typisches Zeichen kleinbürgerlicher Romantik«. Koestler war schwer beleidigt.
Von der personal- zur kapitalintensiven Landwirtschaft
Über Jahrhunderte hatten die Menschen sich der Pferde als Arbeitsmaschine auf dem Feld bedient, ein »kentaurischer Pakt« (Raulff), bei dem Mensch und Tier ein Arbeitsbündnis eingegangen waren. Das änderte sich um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Der Traktor wurde zum Vehikel der »Entpferdung« der Welt. Zählte man um 1900 in Deutschland noch vier Millionen Pferde in der Landwirtschaft, waren es um 1950 nur noch halb so viele; 1970 blieben gerade einmal 250.000 Pferde übrig. Seither nimmt die Zahl der Pferde wieder zu – nicht auf den Bauern-, sondern auf den Reiterhöfen, wo es die Mädchen hinzieht. Merke: Pferde sind für Mädchen, Traktoren für Jungs.
Diese vom Traktor betriebene Revolution kann man sich als Übergang von einer personal- zu einer kapitalintensiven Produktion nicht radikal genug vorstellen. Waren um 1900 noch mehr als ein Drittel aller Erwerbtätigen in der Landwirtschaft beschäftigt, womit sie gerade einmal fünfzehn Prozent des Wachstums erzeugten, so ackern dort heute gerade einmal zwei Prozent der arbeitenden Bevölkerung (verantwortlich für knapp ein Prozent des BIP). Etwas überspitzt hat man formuliert, das 20. Jahrhundert sei weniger durch den Aufstiegs des Proletariats als durch das Verschwinden des Bauerntums gekennzeichnet. Der Traktor gab den Bauern Hoffnung und machte ihnen Angst zugleich. Frühe Zeugnisse aus England sahen in ihm ein gefährliches Tier, das paffend und schnaubend über die Felder zog. Statt einem oder zwei PS vor dem Pflug, konnte die Stärke der Maschine rasch auf 15 bis 20 PS gesteigert werden. Mit dem Traktor ernährte eine gegebene Fläche eines Ackers viel mehr Menschen als früher. Auch umweltmäßig war das Fahrzeug ein Fortschritt: Kot und Urin der Rosse in den Dörfern waren schuld an den lausigen sanitären Bedingungen des ländlichen Raums. Der dieselbetriebene Traktor galt lange Zeit als umwelt- und menschenfreundliche Alternative: kann man sich heute nicht mehr vorstellen.
Gleichwohl ist es eines der bis heute letztlich nicht gelösten Geheimnisse der Wirtschaftsgeschichte, warum es bis Mitte des 20. Jahrhunderts dauerte, bis der Traktor sich flächendeckend in der Landwirtschaft durchgesetzt hatte. Das hing weniger mit Maschinenstürmerei und Technikaversion des traditionellen Bauerntums zusammen, als mit den gigantischen Umstellungsprozessen, die die Traktorisierung nach sich zog und die ihre Zeit brauchten. Das Personal musste geschult werden; ein Knecht, der vorher den Pflug führte und mit Pferden zurechtkam, konnte nicht einfach zum Traktoristen umgeschult werden. Zudem waren die Trecker zu Anfang ziemlich unbeholfen, blieben im Schlamm stecken und taugten bis zur Erfindung der Zapfwelle (ein Wort, das ich bei der Recherche für diese Kolumne gelernt habe) außer zum Pflügen zu nicht viel mehr. Schließlich ging die Mechanisierung einher mit einer Vergrößerung der Farmen, ein Vorgang der ebenfalls Zeit und Kapital brauchte. Der Traktor war wurde das Vehikel zur Durchsetzung großflächiger industrieller Landwirtschaft.
Und nun? Es könnte sein, dass der Traktor bald verschwindet. Daran ist dann nicht Landwirtschaftsminister Cem Özdemir und die sogenannte Sparpolitik der Regierung schuld, sondern abermals der technische Fortschritt. Schon bald, sagen Fachleute, würde nur noch ein Bruchteil der bisher eingesetzten Zugmaschinen in der Landwirtschaft nötig sein. Das Gros der Feldarbeit könnten dann kleine selbstfahrende Roboter übernehmen, satellitengesteuert und batteriebetrieben. Dafür braucht es dann noch weniger Landarbeiter als im Traktorzeitalter. So gesehen könnten die stolzen Trecker-Umzüge, die wir derzeit sehen, auch eine Art Beerdigungsprozession sein, der lautstarke Abschied vom bäuerlichen Leben. Bloß dass die Bauern das noch nicht wissen.
Rainer Hank