Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
04. Dezember 2024Ein Hoch auf Pharma
04. Dezember 2024Mit Unsicherheit leben
15. November 2024Zwangsarbeit
05. November 2024Totaler Irrsinn
18. Oktober 2024Arme Männer
14. Oktober 2024Christlicher Patriotismus
08. Oktober 2024Im Paradies der Damen
28. September 2024Von der Freiheit träumen
28. September 2024Reagan hätte nie für Trump gestimmt
10. September 2024Das Ende der Ampel
11. Juni 2024
'tschuldigen Sie!Wie verlogen ist unsere politische Fehlerkultur?
Robert Habeck gilt als »Pionier der politischen Fehlerkultur«. Kürzlich hat er eine Entschuldigung für das von der Ampel völlig vergeigte Heizungsgesetz vorgetragen: »Die Debatte um das Gebäudeenergiegesetz, also wie heizen wir in Zukunft, war ja auch ehrlicherweise ein Test, wie weit die Gesellschaft bereit ist, Klimaschutz – wenn er konkret wird – zu tragen. Und da bin ich zu weit gegangen.«
In den Kommentaren dazu kam Habeck meist gut weg. Der Minister zeige sich »reumütig«, war zu lesen. Er verfüge über die Größe, Fehler einzugestehen. Einige haben Habeck zum Helden eines neuen Politikstils ausgerufen, mit der die Spaltung der Gesellschaft überwunden werden könne: Die Entschuldigung als Angebot zur Versöhnung.
Das Drehbuch für Habecks Entschuldigung klingt, als sei es von einer PR-Agentur geschrieben, die sich auf Krisen- und Reputationskommunikation spezialisiert hat. In deren Handbüchern liest man, der Entschuldigende müsse sich »verletzlich zeigen«, er müsse »die Opfer im Blick« haben, »aufrichtig wirken« und versprechen, »sein Verhalten in der Zukunft zu ändern«. Wie schrieb schon der Philosoph Theodor W. Adorno: »Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.«Habeck, der studierte Philosoph, erweist sich als Schüler Adornos, zeigt Schwäche und versteht zu verhindern, dass seine Gegner gestärkt werden. Die paternalistische Arroganz fällt erst auf den zweiten Blick auf. Habeck sagt, seine Partei wisse, was klimapolitisch zu tun sei, habe die Bürger »getestet«, ob sie da mitmachen und »ehrlicherweise« feststellen müssen, dass sie kleinen Kindern gleich dazu nicht willens oder nicht bereit seien. Habeck redet wie ein Vater, der erkennen muss, dass sein Söhnchen noch nicht alleine laufen kann und einsehen muss, zu weit gegangen zu sein, als er ihm die stützende Hand entzog. Das ist dann weniger Adorno als Plato, der antike Philosoph, der meinte, am besten werde der Staat von Experten regiert, die dem dummen Volk sagen, wohin es die Wärmepumpe zu hängen habe. »Niederträchtig« hat der Kolumnist Harald Martenstein, auch eine Art Philosoph, den Politiker-Satz »Wir müssen unsere Politik den Menschen nur besser erklären« genannt. Habeck sagt, er sei zu weit gegangen, nachdem sich durch einen von der Exekutive veranstalteten Volks-Test herausgesellt habe, dass die Menschen noch nicht reif seien für grüne Umerziehungspolitik.
Die Entschuldigung als Waffe
Die Entschuldigung wird zur Waffe im Kampf um Selbstbehauptung; sie setzt den anderen Schachmatt: »Was willst Du denn, ich habe mich entschuldigt.« Wer nach einer Entschuldigung argumentativ nachtritt, outet sich als Rechthaber, setzt sich selbst ins Unrecht und muss am Ende fürchten, dass nun von ihm eine Entschuldigung verlangt wird fürs nicht Annehmen einer Entschuldigung. Eine Entschuldigung hat man zu akzeptieren ohne Wenn und Aber. Notorischen Haarspaltern fällt ein, dass einem der Lehrer damals beigebracht hat, man könne sich gar nicht selbst entschuldigen, sondern lediglich den, den man verletzt hat, um Entschuldigung bitten. Das hilft aber auch nicht heraus aus der Schachmattfalle: »Wir bitten unseren Sohn wegen starker Kopfschmerzen und Übelkeit zu entschuldigen«, hatten die Eltern auf den Zettel geschrieben, den man »Entschuldigung« nannte.
Einiges spricht dafür, dass es hierzulande nicht an einer Kultur, Fehler einzugestehen, gebricht, sondern vielmehr längst eine grassierende Entschuldigungskultur um sich gegriffen hat. Ein kurzer Blick ins FAZ-Archiv liefert mengenweise Beispiele. Während Corona berühmt wurde der Satz des damaligen Gesundheitsministers Jens Spahn (CDU), der aus den Deutschen eine einzige Entschuldigungsgesellschaft machen wollte: »Wir werden einander viel verzeihen müssen.« Als dann das Kabinett Merkel ausgerechnet über Oster einen Lockdown beschlossen und kurz darauf wieder zurückgenommen hatte, bekannte die Kanzlerin, der Entschluss sei »einzig und allein« ihr Fehler, für den sie die Bürger um Verzeihung bitte.
Dieses alle Schuld auf sich nehmende Bekenntnis kennt man als »mea culpa« aus dem Stufengebet der Messe in der katholischen Kirche. Was geradewegs zur protestantischen Bischöfin Margot Käßmann führt, die, nachdem sie alkoholisiert eine rote Ampel überfahren und des Fehltritts überführt worden war, bekannte, sie habe einen schweren Fehler gemacht, den sie zutiefst bedauere, um sich selbst im gleichen Zug Trost zuzusprechen mit dem Satz: »Du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand.« Der Wirtschaftsminister Karl Theodor zu Guttenberg (CSU), des Plagiats in seiner Doktorarbeit bezichtigt, entschuldigte sich bei allen, »die ich aufgrund meiner Fehler und Versäumnisse verletzt habe«.
Ein Plagiat ist eine Lüge. Eine Entschuldigung ist dagegen immer eine Entschuldigung; es lässt sich schwer nachweisen, dass sie nicht aufrichtig ist. Sie kommt als Schwächebekenntnis daher, hat aber die strategische Absicht, Stärke zurückzugewinnen. Im abendländisch.-christlichen Höflichkeitsdiskurs dient sie dazu, Boden zu gewinnen. Wer sich selbst erniedrigt, will erhöht werden, so die Bibel leicht abwandelnd Friedrich Nietzsche (»Menschliches, Allzumenschliches«).»Sorry« kompensiert fehlende Triggerwarnung
Womöglich ist die Inflation der Entschuldigungen auch eine Reaktion auf die Inflation wehleidiger Verletzlichkeit. Wer vergaß, rechtzeitig eine Triggerwarnung auszusprechen, dem bleibt nur, sich schleunigst zu entschuldigen. So die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die beim deutschen Kanzler »geradezu autistische Züge« wahrgenommen haben will – um wenig später alle Autisten kollektiv um Entschuldigung zu bitten, nicht aber Olaf Scholz.
Entschuldigung – so viel Proseminar-Linguistik muss sein – ist ein performativer Akt. Wer sich entschuldigt, benennt nicht nur etwas, teilt nicht nur etwas mit, sondern macht etwas mit Worten: Ich entledige mich meiner Schuld, indem ich »Entschuldigung« sage. Der kulturelle Kontext erfordert, diesen Akt als Reinigungsritual zu akzeptieren. Man kann einer Entschuldigung schlecht widersprechen, siehe oben. Gut, es gibt Ausnahmen. Armin Laschet (CDU) hat sich für seinen Lacher im überschwemmten Ahrtal entschuldigt, was ihm die Wähler bei der Bundestagswahl nicht als mildernde Umstände haben durchgehen lassen. Ähnlich geht es gerade den Nazi-Grölern auf Sylt, deren Entschuldigung nicht dazu geholfen hat, dass sie vom Pranger losgebunden wurde. Wenn der Konformitätsdruck der Umwelt emotional besonders heiß kocht und/oder der, der seine Schuld bekennt, besonders hassbedacht wird, dann nützt ihm weder Selbstkritik noch Schuldbekenntnis. Womöglich ahnte der Alt-Kanzler Gerhard Schröder dies, als er bockig eine Entschuldigung für seine Putin-Freundschaft verweigerte: »Mea culpa ist nicht mein Ding«.
Rainer Hank
11. Juni 2024
Demokratie verteidigen: Wie geht das?Über allerlei Scheinheiligkeiten
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sein Thema gefunden: Er kämpft für die Demokratie. Und er ermuntert uns, mit ihm für die Demokratie zu kämpfen: »Schützen werden die Demokratie nicht andere. Schützen müssen wir sie selbst. Auf uns und jeden von uns kommt es an!«
Was sollen wir kämpfenden Demokraten nun aber konkret machen außer Lichterketten und Demos im Spätfrühling? Das sagt der Bundespräsident nicht. Ich vermute, er meint, wir sollten auf keinen Fall die AfD wählen. Aber das darf er natürlich nicht sagen. Das wäre undemokratisch, oder?
Es deutet sich ein Widerspruch an, um den es in meiner heutigen Kolumne gehen soll: Muss man die Demokratie schützen, indem man die Demokratie einschränkt? Dass so etwas geplant ist, geben derzeit viele Politiker (implizit) zu. Nur ein Beispiel: Die Ampelkoalition erwägt, Regelungen zu Wahl und zur Amtszeit von Verfassungsrichtern nicht nur in einem einfachen Gesetz, sondern im Grundgesetz festzuschreiben. Diese könnten dann nicht mehr mit einfacher Mehrheit, sondern nur mit Zweidrittelmehrheit geändert werden. Das würde verhindern, dass bei einem Regierungswechsel Richter vergleichsweise einfach aus dem Amt entfernt würden oder die Rolle des Verfassungsgerichts verändert werden könnte. In Ungarn oder Israel zeigt sich, dass die Ängste nicht unbegründet sind. Die Union hat signalisiert, sie werde eine dafür nötige Verfassungsänderung nicht boykottieren.
Demokratiestärkung durch Demokratieschwächung. Das ist ein Paradox, bei dem man sich fragen darf, ob die ganze derzeitige Wir-stärken-die-Demokratie-Rhetorik nicht in Wirklichkeit Ausdruck eines Schwäche-Diskurses ist. Denn gewiss ist: Eine Verfahrensänderung von einfachen auf Zweidrittelmehrheiten bergrenzt demokratische Souveränität. Im Vorfeld der Thüringenwahl haben Juristen einen Katalog von Empfehlungen vorgelegt, wie sich »rechtsstaatliche Resilienz« stärken lasse (nachzulesen auf »verfassungsblog.de«): Der öffentlich-rechtliche Rundfunk, die Landeszentrale für politische Bildung, der Verfassungsgerichtshof, der Verfassungsschutz und die Polizei sollen gegenüber Eingriffen durch Parlament und Regierung immunisiert werden. »Konsultative Volksbefragungen« (klingt für mich nach Demokratie) sollen als »Kampagneninstrumente der Regierung« (Regierung klingt eigentlich auch nach Demokratie) verboten werden. Demokratie müsse eingehegt werden, um autoritär-populistische Versuchungen unschädlich zu machen.
Liberaler Keuschheitsgürtel
Damit ist die Katze aus dem Sack. Die politische Ökonomie der sogenannten Public-Choice-Schule war da immer schon ehrlicher, wenn sie darauf insistierte: Nicht die Demokratie, sondern der Rechtsstaat ist in Gefahr. Der liberale Ökonom und Philosoph Anthony de Jasay (1925 bis 2019) hat die Verfassung einer Demokratie mit einem Keuschheitsgürtel verglichen. Das politische wenig korrekte Bild will sagen: Eine demokratische Verfassung muss demokratische Freiheiten einschränken und bedient sich insofern undemokratischer Instrumente. Es zeichnet den Rechtsstaat aus, dass er die Bürger einschließlich seiner Regierungen Gesetzen unterwirft, dass die Gewalten geteilt sind und jede Gewalt die anderen Gewalten überwachen kann und dass es Institutionen gibt (das Verfassungsgericht, die unabhängige Notenbank, der »staatsferne« Rundfunk, die Richter und Gerichte), die keinen parlamentarischen oder regierungsamtlichen Weisungen unterliegen. Würde da, wo es um die Bewahrung des Rechtsstaats geht, nicht immer gedankenlos von der Bewahrung der Demokratie geredet, wäre viel für die Verwirklichung dieser Ziele erreicht, meinte kürzlich der Ökonom Hartmut Kliemt auf dem Blog »wirtschaftlichefreiheit.de«.
Ich werde den Eindruck nicht los, dass die Einhegung demokratischer Freiheiten durch selbstbindende Rechtsstaatlichkeit vielen heutigen Demokratie- und Resilienz-Kämpfern immer nur da recht ist, wo es ihnen passt. Geht es zum Beispiel um die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse, so drehen dieselben Leute den Spieß herum und betonen, wie »undemokratisch« es sei, der Fiskalhoheit als dem »Königsrecht« eines Parlaments derartige verfassungsrechtliche Fesseln aufzuerlegen. Denn das Schuldenverbot verhindere, dass die Demokraten Gutes tun könnten für Investitionen und Wirtschaftswachstum. Die Kritiker der Schuldenbremse merken nicht, dass sie ein klassisches populistisches Argument verwenden. Oder aber sie wollen die Bezeichnung »Populismus« für Rechtskonservative vorbehalten, was ziemlich willkürlich wäre.
Der Politikwissenschaftler Philip Manow hat in seinem neuen Buch, erschienen unter dem Titel »Unter Beobachtung. Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde« (suhrkamp), auf solche Scheinheiligkeiten hingewiesen. Zentral ist Manows Unterscheidung zwischen »liberaler« und »elektoraler« Demokratie. »Liberal« wäre eine Demokratie dann, wenn sie Mehrheitsentscheidungen durch Institutionen des Rechts begrenzt. Damit eignet der liberalen Demokratie ein paternalistisches Element. »Elektoral« wäre eine Demokratie dann, wenn sie das Mehrheitsprinzip möglichst uneingeschränkt walten lässt. Der Kampf für die Demokratie wird dann zu einem Kampf der liberalen Demokratie gegen die elektorale Demokratie, der nicht über den Weg zu trauen sei, weil sie zwingend zu einer elektoralen Autokratie mutieren werde. Anders als die Freunde der Rechtsbindung tun, existiere die liberale Demokratie nicht schon seit den Stadtstaaten Athens oder der französischen Revolution, sondern sei sie ein Kind der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts, behauptet Manow. Nicht zuletzt die Europäische Union, selbst alles andere als lupenrein demokratisch, unterwerfe die je nationale, »elektorale« Souveränität vielen Beschränkungen und lasse diese vom europäischen Gerichtshof exekutieren. So gesehen ist es kein Wunder, dass gerade postkommunistische Staaten Osteuropas (wozu auch die fünf neuen Bundesländer zählen) nach anfänglicher Begeisterung inzwischen mit der liberalen Demokratie fremdeln, die Mehrheitsentscheidungen juristisch kupiert. Das mag sich für den ein oder anderen Leser politikwissenschaftlich verknüselt anhören, hat aber, träfe es zu, erhebliche Konsequenzen. Die Krise der Demokratie, von der heute allenthalben die Rede ist wäre dann eine Krise der in den neunziger Jahren erst entstandenen und radikalisierten liberalen Demokratie. Diese jetzt durch noch strengere Selbstbindungen resilient machen zu wollen und die (elektoral) demokratischen Entscheidungen weiter einzuschränken, wäre so ziemlich das Verkehrteste, was man im Kampf gegen den Populismus tun könnte.
Was aber dann? Besser wäre es, die demokratischen Parteien würden eine bessere Politik machen. Und damit den extremen Parteien den Boden unter den Füßen wegziehen.
Rainer Hank
29. Mai 2024
Die AfD: It's not the EconomyWas aber sonst erklärt den Erfolg der Populisten?
Warum wählen Menschen dann die die AfD – sogar dann, wenn es ihnen (wirtschaftlich) gut geht? Es ist mir ein Rätsel.
Wir waren mit unserem Chor für ein paar Tage in Oberschwaben. Das ist, grob gesagt, das Land zwischen Ulm und dem Bodensee. In der warmen Frühlingssonne sieht es dort aus wie im Paradies (nur ohne Schlangen). Ausladendes Barock in jeder zweiten Dorf- oder Klosterkirche, Kühe auf der Weide, als posierten sie für die nächste Milka-Werbung. Und vor allem eine stabile Industriestruktur, die den Menschen auskömmliche Arbeits- und Lebenschancen bietet. Das sind die berühmten Hidden Champions, industrielle Weltmarktführer, zumeist im Familienbesitz, die außerhalb der Region kaum einer kennt. Aber natürlich auch Großkonzerne wie der Autozulieferer ZF in Friedrichshafen. Oder Liebherr: Die stellen riesige Baumaschinen her, verkaufen sie global und erwirtschaften mit 54.000 Beschäftigten einen Jahresumsatz von 14 Milliarden Euro (2023). Von einer »soliden Auftragslage« berichtet der kürzlich veröffentliche Geschäftsbericht dieses Journalisten gegenüber äußerst verschwiegenen Unternehmens. Eine Exportquote von über 50 Prozent zeigt die internationale Ausrichtung der Region.
Es mag daran liegen, dass ein Teil meiner Familie aus der Region stammt, dass ich die Lage etwas zu rosig sehe. Ganz daneben liege ich nicht. Bis in die neunziger Jahre galt das Land traditionell als tiefschwarz und selbstverständlich katholisch. Wer für die CDU antrat, konnte mit einem Direktmandat rechnen, sei es im Stuttgarter Landtag oder im Bundestag. Dass die Bürgermeister aus der CDU kamen, verstand sich ohnehin von selbst. Seit der Jahrtausendwende haben dann auch die Grünen Boden gewonnen, weil die sich dort – es ist Kretschmann-Land – realo-öko-konservativ geben, besorgt um die Erhaltung unserer Schöpfung. Gottfried Härle, in vierter Generation Inhaber einer Bierbrauerei aus Leutkirch, für die Grünen im Stadtrat, vermarktet erfolgreich Bio-Bier und engagiert sich zugleich für die Integration von Flüchtlingen. Eine Initiative »Bleiberecht durch Arbeit« hat er mitgegründet. Schaffe muss ma scho, wenn man dauerhaft in »the Länd« bleiben will.
Man darf die Idylle am Bodensee ein wenig überzeichnen, um die derzeit tiefe Verunsicherung des politischen Establishments verstehen zu können: in dieser gottbegnadeten Region kommt die AfD zweitweise auf Zustimmungswerte von 20 Prozent und mehr. Die aktuellen Umfragen nach Russland-Spionageaffäre, Verfassungsschutzbeobachtung und »Remigrations«-Radikalismus lassen zwar auf einen Stimmen- und Stimmungsrückgang schließen. Doch es bleibt dabei: Sowohl bei der Europawahl wie auch für die am gleichen 9. Juni stattfindenden Gemeinde- und Kreistagswahlen sorgen sich viele Politiker von Schwarz und Grün. DerEin CDU-Bürgermeister eines kleinen Städtchens von Berkheim zum Beispiel, ein patenter Mann, mit dem ich im Anschluss an eines unserer Konzerte ins Gespräch komme, versteht die Welt nicht. Eigentlich habe sich doch nichts verändert, findet er. Warum wählt jeder Fünfte dann eine Protestpartei? Dass er die Welt nicht mehr versteht, ist das eigentliche Problem, finde ich. Das findet der Bürgermeister selbst auch.
Es könnte alles schlechter werden
Ich gehe auf die Suche nach Erklärungen. Karl-Rudolf Korte, ein bekannter Parteienforscher, verweist mich auf Forschungsergebnisse, wonach gerade in wohlhabenden ländlichen Industrieregionen – also so wie in Oberschwaben – die AfD Zuspruch findet – nicht, weil es den Menschen schlecht geht, sondern weil es ihnen gut geht, sie aber Angst haben, es könnte ihnen schlecht gehen. Einschlägig ist eine Studie des arbeitgebernahen »Instituts der Deutschen Wirtschaft« (iw) vom vergangenen Herbst: In prosperierenden Gegenden sei es nicht der Verlust von Industriearbeitsplätzen, der die Wähler in die Arme der rechtspopulistischen Globalisierungs-Opposition treibe. Stattdessen wirke sich gerade dort, wo die De-Industriealisierung weniger weit fortgeschritten sei als in anderen Regionen, die Sorge um den künftigen Industriestandort aus.
Das könnte sein, immerhin hören gerade die Bewohner aus Gegenden, die direkt oder indirekt von der Automobilindustrie abhängen, dass die Klima-Transformation keinen Stein auf dem anderen stehen lassen werde und die Zukunft des E-Autos eher aus Shenzhen in China als aus Bad Waldsee in Oberschwaben komme.Das AfD-Programm zu den Kommunalwahlen in Ravensburg gibt sich grundsolide und gibt das Versprechen, alles möge so bleiben, wie es ist, sofern die AfD an der Macht sein werde: Keine neuen Windräder, keine Schließung von Krankenhäusern, solide Haushalte, stabile Familien. Man will sich nicht »von oben« (Berlin, Stuttgart) erziehen lassen. »Illegale Migration« kommt im Ravensburger Programm übrigens erst auf Platz 6 möglicher Bedrohungen. »Bezahlkarte statt Bargeld« klingt auch nicht gerade besonders radikalistisch.
»Wirtschaft« ist kein eigener Programmpunkt der AfD in Oberschwaben. Das bestätigt die Auskunft von Thomas Petersen vom Institut für Meinungsforschung in Allensbach. »Das Gerede vom »abgehängten Prekariat« sei immer schon falsch gewesen, schreibt er mir: »AfD-Wähler fühlen sich nicht sozial, sondern kulturell abgehängt.« Das Einkommen habe praktisch keinen Einfluss auf Wahlentscheidungen. Es seien diffuse Ängste, auch vor Migranten, die in die Parteipräferenzen eingingen, die gerade Menschen in einer konservativen Region verunsicherten, meint der Wissenschaftler. Zudem gebe es im Schwäbischen einen »leicht überdurchschnittlichen Hang zu etwas sektiererischen Einstellungen«. Das bezieht sich meiner Ansicht nach aber eher auf die protestantischen Pietisten im württembergischen Unterland und nicht auf Katholiken im Oberland.
Jens Südekum, ein Ökonomieprofessor aus Düsseldorf und mein letzter Gewährsmann für heute, verweist mich auf Forschungen aus den USA, die nahelegen, dass die Menschen inzwischen derart opak in verfeindeten Lagern »hyper-polarisiert« seien, dass ökonomische Faktoren einfach nicht mehr so wichtig seien wie dereinst. Klassischerweise nahm die politische Ökonomie an, dass sich ökonomische Befindlichkeiten direkt in das Verhalten an der Wahlurne übersetzen. Vielleicht greife in Westdeutschland mittlerweile eine den USA vergleichbare Polarisierung um sich, die sich um die Wirtschaftslage wenig schert, fragt Südekum. »It’s the economy, stupid«, der berühmte Spruch Bill Clintons, wonach die wirtschaftliche Situation Wahlen entscheide, wäre dann inzwischen falsifiziert.
Schon hilfreich, aber wirklich befriedigend sind all diese Hypothesen nicht. Das ist tröstlich und beunruhigend zugleich: Weder theoretische noch empirische Forschung weiß viel mehr darüber, was im Land gerade los ist als derein Bürgermeister aus demeiner oberschwäbischen BerkheimKleinstadt.
Rainer Hank
21. Mai 2024
Autofreie SonntageWarum symbolische Aktionen nach hinten losgehen
Zuletzt war es der Verkehrsminister Volker Wissing, der Fahrverbote auf deutschen Straßen ins Spiel brachte. Die CO2–Einsparungen, die das neue Klimaschutzgesetz seinem Ressort – genauer: den deutschen Autofahrern – abverlange, ließen sich nur mit drastischen Maßnahmen einhalten, sagte er Mitte April: und drohte mit einer Art Lockdown des Straßenverkehrs in Deutschland.
Wissing benutzte Fahrverbote als Drohkulisse, um durchzusetzen, dass der Verkehrssektor mit besonders schlechtem CO2–Fußabdruck seine Emissionen mit anderen Sektoren verrechnen kann. So kam es dann auch. Das von der Ampel verabschiedete Klimaschutzgesetz nahm Abschied von den Sektorzielen. Was zählt ist die Gesamtbilanz. Der Erderwärmung ist es egal, wo die CO2–Emissionen herkommen. Wissing konnte seine selbst inszenierte Drohung zu einem Erfolg stilisieren und die Bürger beruhigen: Es werde keine verkehrsfreien Sonntage geben.
Drohung und Entwarnung funktionieren auf dem Hintergrund von Bildern des kollektiven Gedächtnisses der Deutschen. In den späten Jahren des Wirtschaftswunders hatte die Bundesrepublik ebenso wie andere Industriestaaten bedenkenlos fossile Energie als Motor des Wirtschaftswachstums verbraucht. Bis in die sechziger Jahre war man mit der heimischen Kohle noch weitgehend energieautark. Anfang der siebziger Jahre hatte man sich dann mit einem Anteil von 60 Prozent von Öl-Energieimporten abhängig gemacht, was an die aktuelle Abhängigkeit vom russischen Gas erinnert. Als im Oktober 1973 nach Ausbruch des Jom-Kippur-Kriegs in Israel die OPEC-Staaten die Ölförderung drosselten, stieg der Ölpreis schlagartig an. West-Deutschland reagierte auf die Ölkrise mit einer ungewöhnlichen Sparmaßnahme und verhängte vom November an 1973 insgesamt vier autofreie Sonntage sowie Tempolimits. Ich war damals zwanzig Jahre alt: Staunend nutzen wir die seltene Möglichkeit, einmal eine Autobahn zu Fuß oder per Fahrrad zu erkunden. Ein großes Volksfest.
Tatsächlich markiert das Jahr 1973 eine Zeitenwende der Nachkriegsgeschichte. Auf Jahre des Wachstums folgten Stagnation, Inflation, Arbeitslosigkeit – und die Erfahrung, dass fossile Energie nicht auf ewig billig zur Verfügung stünde.
»Geradezu zauberhafter Glanz«?
Hatten die autofreien Sonntage einen auch einen nachhaltigen Bewusstseins- und Verhaltenswandel zur Folge? Waren sie gar eine Art Vorbote einer ökologischen Klima-Wende? Ja, so war es, sagt die Historikerin Hedwig Richter unter Bezug auf historische Forschungen. Die leeren Straßen hätten sich »mit einem gerade zauberhaften Glanz« in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben, schwärmt sie. Zwar räumt Richter ein, die vier autofreien Sonntage hätten nicht primär dem Ziel gedient, Energie einzusparen. Doch seien sie als »Signal an die Bevölkerung« gedacht gewesen: Achtet auf den Energieverbrauch! Die Politik habe die Bevölkerung als »Zuständige«, als Erwachsene, angesprochen, so Richter in einem Duell mit FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube.
Schließt man sich der These an, hätte das erhebliche Konsequenzen für die Frage symbolischer Politik. Sowohl Bürgerbewegungen (von »Fridays for Future« bis zur »Last Generation«) wie auch Politik hätten dann eine Begründung dafür, dass sich mit solchen Aktionen wie den autofreien Sonntagen das Verhalten der Bürger steuern lasse – selbstverständlich nur zum Guten und Wahren. Signalpolitik als Instrument der ökologischen Bürgererziehung.
Doch Geschichte ist vertrackter. Und sie geht am Ende ganz anders aus als Frau Richter behauptet. Zwar wirkte der Ölpreisschock als Signal – aber nicht auf die Verbraucher. Mangels Alternativen fuhren sie munter weiter auf deutschen – und mehr und mehr in den Sommerferien auch auf italienischen Autobahnen. Technisch gesprochen heißt das: Dass es zu keiner Verhaltensänderung kam, liegt daran, dass die Sprit-Nachfrage wenig preiselastisch ist. Nicht die Nachfrager, sondern die Anbieter – sprich die cleveren Ingenieure bei BMW, Daimler oder General Motors – nahmen den dramatischen Preisanstieg als Signal. Sie bauten fortan viel energieeffizientere Kraftfahrzeuge. Im Jahr 1975 kam man in den USA mit einer Gallone Benzin (das sind 4,55 Liter) gut 20 Kilometer. Im Jahr 1980 schaffte die gleiche Tankfüllung 32 Kilometer. Heute komme ich mit meinem zehn Jahre alten Diesel mit einer Tankfüllung von Frankfurt nach Ferrara in Italien. Es ist paradox: Weil die Automobilindustrie in Reaktion auf den Ölpreisschock immer energieeffizientere Fahrzeuge herzustellen wusste, konnten die Autofahrer sich immer größere Karossen (genannt SUV) leisten, ohne an der Tankstelle tiefer in die Tasche greifen zu müssen. So gesehen hatten die autofreien Sonntage den gegenteiligen Effekt: Statt auf den Verbrauch zu achten, gingen die Autofahrer in die Vollen. Die Ökonomen nennen das »rebound effekt«.
Pfadabhängigkeit siegt
Wer es genauer wissen will, dem empfehle ich die Lektüre eines Aufsatzes des amerikanischen Wirtschaftshistorikers Daron Acemoglu mit dem Titel: »Transition to Clean Technology« (Journal of Political Economy 2016). Acemoglu fragt, warum der Ölpreisschock nicht damals schon zu verstärkter Forschung in Richtung einer grünen Transformation geführt habe, die technologisch durchaus möglich gewesen wäre. Seine Antwort heißt »Pfadabhängigkeit«. Der Pfad seit den Herren Ford, Daimler oder Bosch im späten 19. Jahrhundert wird durch den Verbrenner markiert. Lassen sich Verbrenner energieeffizienter konstruieren und solche Erfindungen in Skaleneffekte großer Stückzahlen übersetzen, ist das allemal kostengünstiger als der Systemwechsel in die regenerative Welt.
Daraus folgt: Die verhaltensändernde Wirkung symbolischer Aktionen ist nicht vorhersehbar und deshalb auch nicht im politischen Lehrerinnenzimmer planbar. Die Pfadabhängigkeit einer Industrie wirkt in eine der Klimawende gegenläufige Richtung, nur zu verständlich, solange Preise für E-Autos, Ladeinfrastruktur und -dauer dem Verbrenner unterlegen sind. Kein Wunder, dass die E-Verkäufe inzwischen wieder zurückgehen.
Das muss nicht heißen, dass man den Klimawandel nicht effizient bekämpfen kann. Doch es gilt: Besser als Moral und Symbolhandlungen sind allemal die Preise: Die Transformation – der Wechsel vom fossilen zum regenerativen Pfad – wird dann gelingen, wenn man CO2–Steuer und Emissionshandel ihre Wirkung entfalten lässt und die Staaten sich zwingend in einem Klimaclub auf dessen Einhaltung verpflichten. In der Hoffnung, dass grüne Energie heute immer mehr verfügbar und immer mehr erschwinglich wird im Vergleich zu grauer Energie (fossile Brennstoffe), werden die Ingenieure sich dann auch etwas Neues einfallen lassen. Dazu braucht es weder Klima-Erzieherinnen noch gesperrte Autobahnen. Es geht darum, Gutes besser zu machen.
Rainer Hank
21. Mai 2024
Ein Loch ist im EimerWie der Sozialstaat effizienter werden könnte
Unser Wohlfahrtsstaat ist großzügig. Die Sozialleistungsquote hierzulande liegt bei etwa 30 Prozent; sie beziffert die Summe aller Sozialausgaben im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt. In absoluten Zahlen waren das im Jahr 2022 1.200 Milliarden Euro. Nur in Frankreich und Belgien ist die Quote noch höher.
Man kann dies als Gebot der Anständigkeit einer Gesellschaft interpretieren, wie es der Bundeskanzler regelmäßig tut. Man kann es auch als klug bezeichnen: Wer unverschuldet in Not gerät, wird vom sozialen Netz aufgefangen. Im Wissen darum können die Bürger in ihrem Leben Risiken eingehen – die Voraussetzung für die wirtschaftliche Dynamik eines Landes.
Von Sozialabbau sprechen, wie die SPD derzeit tönt, kann man freilich nicht. Die Ampel hat den Wohlfahrtsstaat aufgebläht: Bürgergeld und Mindestlohn wurden kräftig erhöht, die Zahl der wohngeldberechtigten Haushalte wurde auf zwei Millionen verdreifacht, das Rentenniveau soll bei 48 Prozent festgeschrieben werden, was zu Beitragserhöhungen führt.
Dass ein Land viel Geld für Soziales ausgibt, heißt freilich nicht, dass sein Sozialsystem auch transparent und effizient ist. Und dies wiederum könnte bedeuten, dass ein Sozialstaat, der ineffizient ist, auch ein Gerechtigkeitsproblem hat, weil er das Steuergeld seiner Bürger verschwendet und dieses nicht bei den wirklich Bedürftigen ankommt.
Kürzlich hat mir ein Leser geschrieben, der dazu etwas zu sagen hat: Der Mann war 25 Jahre in unterschiedlichen Führungsfunktionen in diversen Kommunalverwaltungen tätig, die letzten 20 Jahre davon als stellvertretender Behördenleiter einer Kreisverwaltung. Rund 15 Jahre war er auch als Sozialdezernent für Hartz IV und Sozialhilfe zuständig. Der Mann betont, er halte den Sozialstaat für eine große Errungenschaft und bezeichnet Sozialleistungen als den »Kitt der Gesellschaft«. Aber er habe aus eigener Erfahrung große Zweifel, ob das Geld seine Ziele erreicht. Er bemängelt, dass der Sozialstaat eine Wohlfahrtsindustrie geschaffen hat, die behaglich und ebenfalls wenig effizient von diesem lebt. Das kann man zum Beisopiel an der privaten, kirchlichen und staatlichen Pflegebranche studieren, die es in diesem Ausmaß erst seit Einführung der Pflegeversicherung Mitte der neunziger Jahre gibt. Die organsiert sich inzwischen in einer starken Lobby innerhalb des mächtigen Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Mein Kreisdirektor bringt es auf die Formel: »Das System ernährt sich selbst«.Zielkonflikt zwischen Gerechtigkeit und Effizienz
Nun ist jedes Umverteilungssystem per se ineffizient dergestalt, dass weniger rauskommt als einbezahlt wird. In seinem Klassiker über »Gleichheit und Gerechtigkeit« (1975) spricht der Ökonom Arthur Okun von einem »Versickerungseffekt«, der durch Umverteilung entsteht. Weil ein Teil der von den Reichen zu den Armen transferierten Einkommen in der Bürokratie landet, steigen die Einkommen der Armen und sozial Bedürftigen nicht im gleichen Umfang wie die Einkommen der Reichen schrumpfen. Daraus ergibt sich ein grundsätzlicher Zielkonflikt zwischen Gerechtigkeit und Effizienz. Arthur Okuns sehr anschauliches Bild ist das Leck im Eimer (»leaky bucket«).
Mein Eindruck: Die Löcher im Eimer werden größer. Der Sozialstaat wird im Lauf der Zeit teurer, aber nicht unbedingt besser. Anschauung dafür bietet das verkorkste Kindergrundsicherungsprojekt der Familienministerin, für das bekanntlich 5000 neue Verwaltungsstellen vorgesehen waren: die allein würden 500 Millionen Euro verschlingen.
Das ist kein Ausreißer, sondern hat System. Kürzlich hat der Normenkontrollrat – ein Gremium zur Entbürokratisierung – gezeigt, wie der Sozialstaat vor lauter Leistungswirrwarr und Ineffizienzen sich selbst lähmt. So hat ein alleinerziehender Vater mit pflegebedürftiger Mutter Anrecht auf zwölf verschiedene Sozialleistungen, für deren Bewilligung acht verschiedene Stellen zuständig sind. Das intransparente System mit nicht aufeinander abgestimmten staatlichen Leistungen müsse komplett entflochten und besser sortiert werden, fordert der Rat.Ich bitte Ronnie Schöb um Nachhilfe. Der Professor lehrt Finanzwissenschaft an der Freien Universität in Berlin, gehört dem Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesfinanzminister an und hat vor geraumer Zeit ein schönes Buch über den Sozialstaat veröffentlicht mit dem Untertitel »Weniger ist mehr«. Schöb sprudelt über vor konkreten Beispielen eklatanter Ineffizienzen: So werden nach Einführung der neuen Kindergrundsicherung einem Kind, dessen Familie Bürgergeld zusteht, die 120 Euro Kinderwohnkostenpauschale, die die neue Kindergrundsicherung gewährt, beim Bürgergeld wieder abgezogen, weil die neue Grundsicherung ebenfalls eine Wohnpauschale enthält. Solche Scheinbuchungen von der linken in die rechte Tasche darf man im Kafka-Jahr kafkaesk nennen.
Den Förderzoo ordnen
Bizarr sind auch die regionalen Unterschiede der Förderung. So kann es passieren, dass in zwei Haushalten mit vergleichbar großem Wohnraum in Leipzig und München, die beidemal Anspruch auf Bürgergeld haben, nach Abzug der vom Amt erstatteten Wohnkosten der Familie in Leipzig 600 Euro mehr für den alltäglichen Bedarf übrigbleiben, wiewohl die Lebenshaltungskosten in München deutlich höher sind. Verstehe es, wer wolle!
Schlimmer noch: Das neue Bürgergeld senkt den Anreiz zu arbeiten. Das ist kontraproduktiv. Und aus Sicht des Steuerzahlers Geldverschwendung. Wer mehr hinzuverdient, hat am Ende weniger Geld übrig. Deshalb bieten sich gemischte »Geschäftsmodelle« an, die den Empfang von Bürgergeld mit einem Minijob kombinieren. Ein bisschen arbeiten lohnt sich; ein bisschen mehr arbeiten lohnt sich nicht. Dass der Sozialstaat Arbeitslosigkeit produziert ist absurd in Zeiten, in denen überall Arbeit nachgefragt wird.
Statt gleich den sozialen Kahlschlag an die Wand zu malen, wäre er gescheit die Ampel würde sich den Förderzoo unseres Sozialstaates vorknöpfen. Als Leitfaden empfiehlt sich ein »minimalinvasiver« Vorschlag des wissenschaftlichen Beirats beim Finanzminister. Seine Eckpunkte lauten: Anreize zur Aufnahme bezahlter Arbeit verbessern, Eigenverantwortung stärken, Transferentzugsraten schrumpfen. Kurzum: »Fordern und Fördern« muss wieder gleichrangig behandelt werden. Und zwar nicht nur mit Rücksicht auf das Geld der Steuerzahler, sondern auch mit Blick auf den Bürger, dessen wahres »Bürgergeld« der Lohn für seine Arbeit sein soll und nicht die Stütze vom Jobcenter.
Dies wäre ein erster Schritt, der sich am ordnungspolitischen Grundversprechen der sozialen Marktwirtschaft orientiert: Wer sich selbst nicht helfen kann, dem muss geholfen werden. Wer sich selbst aber helfen kann, von dem wird Eigenverantwortung verlangt. Das ist besser als ein Staat, der seine Bürger paternalistisch entmündigt.Rainer Hank