Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
14. April 2025Lauter Opportunisten
07. April 2025Die Ordnung der Liebe
29. März 2025Streicht das Elterngeld
17. März 2025Der Kündigungsagent
17. März 2025Hart arbeiten, früh aufstehen
04. März 2025Kriegswirtschaft
21. Februar 2025Lasst Minderheiten regieren
12. Februar 2025Sägen, Baby, Sägen
12. Februar 2025Der Kiosk lebt
05. Februar 2025Was kostet Grönland?
25. Juli 2022
Nachhilfe für die EZB IWas die Zentralbank tun müsste, aber nicht tut
Eine gute Bekannte, Strafverteidigerin in einer renommierten Berliner Kanzlei, gab mir einen Arbeitsauftrag mit auf den Weg: Sie habe nie verstanden, was die Zinsen der Zentralbank mit der Inflation zu tun hätten. Das möge ich ihr und allen, denen es ähnlich gehe, doch einmal erklären.
Früher, also vor ganz langer Zeit, hätte ein Wirtschaftsjournalist so eine Frage mit gehöriger Arroganz beantwortet: wer die Anfangsgründe der Geldpolitik nicht verstehe, sei es auch nicht wert, die FAZ zu lesen. Das geht heute nicht mehr: Die Leserin ist Königin, ihr Wunsch ist uns Befehl. Und seien wir ehrlich: Ist es nicht kontraintuitiv zu sagen, wenn Frau Lagarde die Zinsen der Eurozone um 0,25 Prozent anhebt, würden im Gegenzug bei unserem Bäcker die Brötchen nicht mehr teurer werden?
Bei einer Inflation nimmt die Kaufkraft des Geldes ab. Für meinen Stadtrucksack, der heute 100 Euro kostet, müsste ich bei fünf Prozent Inflation im nächsten Jahr 105 Euro zahlen; in fünf Jahren dann schon 128 Euro. An der Qualität des Rucksacks hat sich nichts verbessert. Empfänger von Löhnen, Renten oder Sozialleistungen haben das Nachsehen. Denn ihre Einkommen bleiben trotz Inflation (zunächst) gleich, was dazu führt, dass die Menschen sich von ihrem Geld weniger leisten können, obwohl sie mit ihrer Arbeit das Gleiche leisten. Inflation ist zutiefst ungerecht: Die Ersparnisse auf dem Konto schrumpfen, die Schulden auf der anderen Seite auch. Warum werden die Schuldner belohnt, die Sparer aber bestraft? Der ehemalige US-Präsident Gerald Ford nannte die Inflation den »public enemy number one«.
Lange Zeit spielte Inflation bei uns keine Rolle mehr. Das ändert sich jetzt: Die Menschen rechnen wieder mit der Inflation. Das ist rational und gefährlich zugleich: Liegt die Inflationserwartung bei, sagen wir, sechs Prozent, werden die Gewerkschaften acht Prozent mehr Lohn fordern, um wenigstens »real« zwei Prozent mehr im Geldbeutel zu haben. In Zeiten wie diesen, in denen Arbeitskräfte knapp sind, gibt es gute Chancen, dass sie sich durchsetzen. Das erhöht die Kosten der Unternehmen, die versuchen werden, diese Kosten auf die Preise ihrer Produkte zu überwälzen. So werden die Inflationserwartungen selbst zum Treiber der Inflation (»Lohn-Preisspirale«). Am besten ist es deshalb, wenn die Inflation öffentlich kein Thema ist; dann gibt es sie auch nicht. Einmal in der Welt, wird man sie hingegen schwer wieder los.
Stabile Preise sind das A und O
Was kann die Zentralbank tun, um die Preise zu stabilisieren? Sie kann zum Beispiel den Leitzins erhöhen. Das ist jener Zinssatz, zu dem sich die Banken bei der Zentralbank Geld leihen oder anlegen können, somit ein Preis für das Geld, das die Banken wiederum anderen zur Verfügung stellen können. Der Leitzins wiederum hat Auswirkungen auf die Bau-, Kredit- und Sparzinsen, also auf das Verhalten von Bürger und Unternehmen. Vereinfacht gesagt, beeinflussen die Zinsen die Kreditvergabe und das Sparverhalten. Steigen die Zinsen, wird es für die Unternehmen weniger attraktiv zu investieren, denn die Finanzierungskosten erhöhen sich. Für die Bürger lohnt es sich wieder, mehr zu sparen. Sie geben weniger Geld aus; für die Unternehmen wird es schwieriger, Preise zu erhöhen. Eine Zinserhöhung dämpft also auf der Nachfrage- und Angebotsseite die Dynamik des wirtschaftlichen Wachstums. Das ist gewünscht, weil es die Inflation drosselt – im besten Fall wieder auf das Stabilitätsziel der Europäischen Zentralbank von zwei Prozent. Auf Null Prozent soll die Inflation nicht sinken (obwohl erst das im Wortsinn das Ende der Teuerung wäre). Doch die Statistik neigt zur Überschätzung der Preissteigerungen und auch die Gefahr einer Deflation wäre zu nah. Sinkende Preise können sich nämlich verselbständigen mit hohen wirtschaftlichen Kosten und begrenzten Einflussmöglichkeiten der Zentralbank.
Dürfen wir uns jetzt also endlich wieder auf Zinsen auf dem Sparkonto freuen, wie die Bild-Zeitung jubelt? Vorsicht! Dafür muss man sich den Unterschied zwischen Real- und Nominalzins vor Augen führen. In den letzten Jahren gab es null (oder gar leicht negative) Zinsen. Bei, sagen wir, einem Prozent Inflation schrumpft das Ersparte jährlich um ein Prozent. Sollte die EZB in diesem Jahr die Zinsen in zwei Schritten um insgesamt 0,5 Prozent anheben, und sollte die Teuerung 7,6 Prozent betragen (so die jüngste Prognose der EU-Kommission), so schrumpft unser Sparvermögen um 7,2 Prozent, also deutlich stärker als in den »schlimmen« Zeiten der Null-Zinspolitik.
Dann müsste die EZB also die Zinsen stärker erhöhen und hätte damit schon längst beginnen müssen. So ist es. Warum tut sie das nicht? Sie sagt, sie wolle die Konjunktur nicht abrupt abwürgen. Das Argument sollte man ihr allenfalls zur Hälfte durchgehen lassen. Der frühere Bundesbank-Präsident Jens Weidmann (schade, dass er demissioniert hat) hat in seinem Vortrag über »Die Ära der Unsicherheit«, den ich vergangene Woche erwähnt habe, die Gefahren einer allzu zögerlichen Geldpolitik beschrieben. Je länger die Geldpolitiker die Inflation laufen lassen, umso schlimmer wird die Wirtschaft später einbrechen: »Und die EZB läuft am Ende Gefahr, ihre Glaubwürdigkeit zu verspielen«, so Weidmann.
Der Zusammenhalt der Eurozone geht die EZB nichts an
Die EZB hat die Inflation lange verschlafen. Sie fühlt sich nicht nur für die Geldwertstabilität zuständig, sondern auch für den Zusammenhalt der Eurozone (was sie nichts angeht). Würde sie die Zinsen stärker erhöhen, stiegen auch die Finanzierungskosten (die Renditen, sprich Schuldzinsen) der hochverschuldeten Staaten (Italien liegt derzeit bei rund 150 Prozent des Bruttosozialprodukts). Am Ende droht diesen Staaten die Zahlungsunfähigkeit, was rechts- und linkspopulistischen Parteien Aufwind gäbe. Aber ist es Aufgabe der EZB, demokratische Prozesse zu steuern? Ihr Mandat gibt das nicht her. Eigentlich müsste sie sich mit aller Gewalt gegen ihre Politisierung stemmen.
Umgekehrt ist es nicht Aufgabe des Staates, Maßnahmen gegen die Inflation zu ergreifen. Die von Kanzler Olaf Scholz ausgerufene »konzertierte Aktion« ist nicht nur ein untaugliches, sondern auch ein überflüssiges Mittel. Stattdessen müsste der Kanzler all jene, die sich jetzt über die Teuerung empören, an die EZB-Chefin Christine Lagarde verweisen. Von der EZB muss Entlastung für die darbenden Bürger kommen, nicht von einer »konzertierten Aktion«. Wobei es der Regierung unbenommen ist, die sozialen Folgen der Inflation abzufedern, wenn sie meint, dies tun zu müssen. Gegen die Inflation selbst ist eine Regierung machtlos.
Noch Fragen zum Zusammenhang von Inflation und Zinsen, Frau Strafverteidigerin?Rainer Hank
14. Juli 2022
Zeitenwende 1972Sind die guten Jahre jetzt vorbei?
Im Frühjahr 1972, also vor genau 50 Jahren, hielt ich mein Abiturzeugnis in der Hand. An diesem Juli-Wochenende 2022 trifft sich unsere Klasse in Stuttgart. Auftakt ist in der alten Schule (inzwischen viel schicker geworden mit Aula, Schwimmbad und Spanisch im Angebot), anschließend Führung durch die Stadt (die ist auch schicker geworden, zum Glück hat man den scheußlichen Kleinen Schloßplatz weggesprengt) und anschließender Feier im Gasthaus (mit Maultaschen und so). Wie man das halt macht, mit ein bisschen Bangnis im Voraus, ob man noch alle kennt und sich noch etwas zu sagen hat.
Unsere Gefühle waren damals nicht viel anders als die der Abiturienten von heute: Die Welt steht offen, das Leben darf in vollen Zügen gelebt werden. Was wir nicht gemerkt haben: Das Jahr 1972 markiert eine, wenn nicht die entscheidende Zäsur der Nachkriegsgeschichte. Die »goldenen Jahre« gingen zu Ende; das Wirtschaftswunder verabschiedete sich – nicht nur hierzulande, sondern in der gesamten westlichen Welt. Hätten wir es bemerkt, wir hätten uns in unseren Zukunftsoptimismus kaum irritieren lassen. Aber als Zeitgenosse ist man ohnehin ein schlechter Deuter seiner Gegenwart. Das können die Historiker hinterher besser. Die Eule der Minerva beginnt erst mit einbrechender Dämmerung ihren Flug, wie man zu sagen pflegt.
Der amerikanische Ökonom Paul Krugman (er ist mein Jahrgang, einen Monat jünger) kommt regelmäßig ins Schwärmen, wenn er von den »glorreichen Jahren« nach dem Zeiten Weltkrieg erzählt. Vergangene Woche tat er es in seiner New-York-Times-Kolumne mal wieder besonders überschwänglich: dem Kapitalismus waren seine schroffen Ecken und Kanten von starken Gewerkschaften abgeschliffen worden, die Regierungen bekannten sich zu ihrer Verantwortung als Wohlfahrtsstaaten, die Inflation war niedrig, das Wachstum hoch, die Ungleichheit gering. Hierzulande nannte man dieses Arrangement »soziale Marktwirtschaft«. Krugman spricht von den »anständigsten Gesellschaften, welche die Menschheit je gesehen hat«. Nun ja, im Älterwerden neigt man dazu, seine Jugend zu verklären. Bei uns in Deutschland firmierten die Fünfziger- und Sechzigerjahre ja lange eher unter dem Label »spießige Adenauerzeit«.
Die goldenen Nachkriegsjahre
Tatsächlich, so Krugman unter Verweis auf seinen Kollegen Brad DeLong, gab es nur zwei Phasen in der Geschichte (sieht man einmal von einer kurzen Phase im alten Rom ab), in denen sich wirtschaftliches Wachstum mit einer Steigerung von Glück und Zufriedenheit bei den Menschen paarte. Es waren die vier Jahrzehnte nach 1870, als der Fortschritt der industriellen Revolution in der der westlichen Welt angekommen und nicht gleich wieder vom Bevölkerungswachstum aufgefressen wurde. Diese Phase endete abrupt im Jahr 1914 mit dem – damals so genannten – Großen Krieg.
Die zweite Phase des Glücks begann nach dem Zweiten Weltkrieg und endete, nicht ganz so abrupt, in den auf 1972 folgenden Jahren. Was war passiert? Im Frühjahr 1972 warnte der »Club of Rome«, dass das Wachstum nicht grenzenlos sein würde und das Öl nicht ewig zum Heizen reichen würde. Das hörte sich gefährlich an. Seit den fünfziger Jahren war Deutschland von heimischer Steinkohle mehr und mehr auf Öl aus Nordamerika, Russland und dem Nahen Osten umgestiegen: schon einmal hatte man sich also von ausländischem Öl und der Macht des Opec-Kartells abhängig gemacht. Zugleich kam die bis dahin gefeierte Atomenergie (Walt Disney: »Unser Freund – das Atom«) in die Fundamentalkritik. 1972 wurden der deutsche »Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU)«, 1973 Greenpeace gegründet. In Whyl am Kaiserstuhl hatten sich die Weinbauern mit der neuen grünen AKW-Bewegung verbündet, um den Bau eines Atomkraftwerks zu verhindern.
Als dann 1973 ägyptische Flugzeuge israelische Stellungen auf dem Sinai angriffen (»Yom-Kippur-Krieg«), drosselte die Opec die Öl-Fördermenge, um die westlichen Staaten zu schwächen. Deutschland sprach vom »Ölpreisschock« – und legte hektisch ein Energiesparprogramm auf, um die Abhängigkeit vom Öl zu reduzieren: Ausbau des Braunkohlebergbaus, ein erster Großversuch mit Sonnenenergie und vielfältige Appelle zum Energiesparen, die ihren Höhepunkt in den sogenannten autofreien Sonntagen fanden, als wir uns zu Spaziergängen auf den Autobahnen trafen. Komisch, dass sich das heute ganz vertraut anhört.
Ob man uns damals auch schon aufgefordert hat, die Duschzeit zu reduzieren, erinnere ich nicht mehr. Was danach kam weiß ich allerding schon noch: Die Inflation stieg 1972 auf sechs Prozent, zwei Jahre später dann auf 13 Prozent. Die Gewerkschaften suchten die Reallohnverluste wettzumachen. In der sogenannten Klucker-Runde setzte der öffentliche Dienst elf Prozent mehr Lohn durch, ein Datum, dass zumindest mit zum Sturz von Kanzler Willy Brandt beitrug.
Alles klingt erschreckend aktuell
Von »Zeitenwende« war damals nicht die Rede. Die Schlagworte hießen »Kulturwende« (Robert Held in der FAZ) oder »Tendenzwende« (Hermann Lübbe). Anfangs war damit lediglich der ökonomische Schock gemeint, später mündete dies in den moralischen Apell, unser Leben zu ändern. Die Tendenzwende verlangte eine konservative Genügsamkeit.
Energiekrise, Inflation, Stagnation, Rezession, Lohn-Preis-Spirale, ein Krieg, an dem die ganze Welt indirekt beteiligt ist und Appelle, Verzicht im Großen wie im Kleinen zu üben: Die Stichworte muten in der Tat gespenstisch aktuell an. Auch wir haben seit der Jahrtausendwende zwanzig gute Jahre hinter uns. Man durfte hoffen, Corona werde Episode bleiben und danach brächen die »goldenen Zwanziger« an, Zeiten des ausgelassenen Konsums nach Wochen des häuslichen Gefängnisses, genannt Lockdown. Stattdessen finden wir jetzt vor in einer »Ära der Unsicherheit« (Jens Weidmann).
Deutschland ist nach Auskunft der Wirtschaftshistoriker übrigens in den Siebzigern mit einem blauen Auge davongekommen, weil die Bundesbank relativ schnell durch eine restriktive Geldpolitik, also höheren Zinsen und einer Verknappung der Geldmenge, die Inflation stoppen konnte. Dieser Ausweg ist heute verstopft, weil es keine nationale Geldpolitik mehr gibt und die Europäische Zentralbank ihr Stabilitätsziel aus dem Auge verloren hat, weil die Sorge größer ist, mit höheren Zinsen die Südländer im Euroraum fiskalpolitisch zu strangulieren.
Ob die »Konzertierte Aktion« uns Rettung bringt, die der Kanzler ins Leben gerufen hat? Das glaube ich nicht. »Unterhaken« (Olaf Scholz) ist SPD-Romantik. Lieber halte ich mich an den »realistischen Optimismus«, den ich dieser Tage im Blick einer jungen Frankfurter Abiturientin des Jahres 2022 zu erkennen glaubte.
Rainer Hank
05. Juli 2022
Antikapitalismus aus KasselDie Documenta ist ein Dokument des Antiliberalismus
Was hat die Documenta 2022 mit der Finanzkrise von 2008 zu tun? »Nichts«, würden die meisten Menschen sagen. Weil mir seit Eröffnung der Kunstschau in Kassel ständig Déjà-vu- Erinnerungen an die Weltfinanzkrise durch den Kopf gehen, mache ich heute den Versuch, eine Gemeinsamkeit zwischen beiden Ereignissen zu behaupten: Denn Finanzkrise und Documenta sind zwei Anschauungsbeispiele für das »Prinzip Verantwortungslosigkeit«.
Die Documenta gilt zwar als Schau der künstlerischer Avantgarde. In diesem Jahr versteht sie sich aber als Zurschaustellung einer alternativen Ökonomie, so dass selbst die Kunstkritiker fragen, ob es überhaupt noch um Kunst gehe, oder nicht vielmehr um eine »polit-ökonomische Kundgebung«.
Den polit-ökonomischen Anspruch leugnen die Akteure in Kassel keineswegs. Ich fasse die Ideen zusammen: Statt einzelnen Künstlern gibt es auf der aktuellen Documenta ausschließlich Kollektive. Diese propagieren eine ökonomische Alternative des »globalen Südens« gegen den Individualismus, Elitismus und entfesselten Kapitalismus des »globalen Nordens«. Individualismus und Kapitalismus gelten ihnen als die Ursachen für alles Böse in der Welt: Geldgier, Patriarchat, Kolonialismus. Die Opfer dieser Unterdrückung begehren nicht nur auf, sie bringen auch ein alternatives Konzept zur Darstellung, wie wir künftig besser leben und wirtschaften können.
Der Kern dieser alternativen Documenta-Ökonomie heißt »Lumbung«. In Indonesien bezeichnet der Begriff die in eine Reisscheune eingebrachten Überschüsse der Ernte, die untereinander verteilt und an die Bedürftigen weitergegeben werden. Die Früchte der Erde sollen allen nach Maßgabe ihrer Bedürftigkeit und in gerechter Verteilung zur Verfügung stehen. Und eben nicht dem Knappheits-Prinzip von Angebot und Nachfrage unterliegen und sich dem Preisdiktat des Geldes unterwerfen. Konsequenterweise negiert dieser Kollektivismus auch das Privateigentum und die Idee des individuellen Besitzes. Statt Kapitalismus propagiert die Documenta 2022 die Idee eines nachhaltigen Kreislaufs von Waren und Werten (genannt Ekosistem), welcher sich der mörderischen Ausbeutung der Ressourcen durch den Kapitalismus widersetzt.
Diese alternative Idee des Wirtschaftens ist tatsächlich radikal. Ich finde, sie ist sogar einigermaßen konsequent gedacht, also nicht irrational. Mehr noch: Die Documenta propagiert ja nicht nur eine Idee, sondern sie bringt sie zugleich zur Darstellung. Das geht so: Das indonesische Kollektiv Ruangrupa, dem die künstlerische Leitung der Documenta übertragen wurde, hat weitere Kollektive ausgewählt, die ihrerseits weitere Kollektive ermächtigten, in Kassel ihre Kunst zu vertreten. Wir kennen welche, die welche kennen und denen wir vertrauen – und denen wir vielleicht auch was Gutes tun wollen. Rechenschaft über die Auswahl muss niemand geben. Externe Qualitätssicherung oder Kontrolle finden nicht statt; das wäre ja eine Behinderung der Freiheit der Kunst. Dieses Schneeballsystem hat dazu geführt, dass bis heute niemand genau sagen kann, wie viele Künstler wirklich auf der Documenta ausstellen.
»Teilen statt Haben«
Vermutlich wäre dies alles von der Öffentlichkeit mit antikolonialistischer Sympathie zur Kenntnis genommen worden, wäre es in der vergangenen Woche nicht zum Eklat gekommen. Sharing-Ökonomie, »Teilen statt Haben«, ist ja auch hierzulande ein Lieblingskind der Kritiker des Raubtierkapitalismus. Erst die wüst antisemitischen Fratzen auf dem monumentalen Wimmelbild »People’s Justice« des Kollektivs »Taring Padi«, von dem merkwürdigerweise vorher niemand gewusst hatte, führte zum Skandal und zur Wende. Darauf sieht man unter anderem Bankiers mit Zigarre und SS-Runen auf den Hüten und Agenten des israelischen Geheimdienstes Mossad.
(Linker) Antisemitismus und (linker) Antikapitalismus sind seit dem 19. Jahrhundert Geschwister. Verbinden sie sich mit dem Kollektivismus, dann kann am Ende niemand für den Schaden der Volks- und Kapitalistenverhetzung zur Verantwortung gezogen werden. Die Künstler geben sich arglos (»wir meinen es nur gut«), die Generaldirektorin der Documenta gibt sich machtlos, die zuständige hessische Ministerin nennt sich unzuständig und die Kulturstaatsministerin nennt sich vertrauensselig. Der deutsche Steuerzahler erfährt am Ende, dass er, ohne gefragt worden zu sein, 42 Millionen Euro zahlen muss für eine Kampagne zur Abschaffung des Kapitalismus. Einzig bei den Honoraren und den üppigen Gehältern für das Documenta-Management scheint der Kapitalismus noch zugelassen zu sein. Aufsicht und Kontrolle (»compliance und corporate governance«) haben versagt.
Nun aber endlich zur Finanzkrise 2008. Damals hatten viele behauptet, der Zusammenbruch der Banken und des Weltfinanzsystems sei eine Folge des Turbo-Kapitalismus. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Ordnungsregeln der Marktwirtschaft wurden missachtet. Dass die Preisblase am Immobilienmarkt in den USA platzte und dass am Ende große Banken (Lehman & Co.) zusammenbrachen und Kleinsparer ihr Geld verloren, lag daran, dass die Finanzindustrie Kredite großzügig nach dem Lumbung-Prinzip ausreichte. Banken machten jahrelang dicke Gewinne, weigerten sich aber, für die Risiken zu haften, weil sie ihre Kreditforderungen weiter verkaufen konnten an anonyme Kollektive des Kapitalmarktes.
»Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen«, lesen wir bei Walter Eucken, dem Vater der Marktwirtschaft. Das Prinzip Haftung wirkt prophylaktisch gegen die Verschleuderung von Kapital und zwingt zu Sorgfalt und Kontrolle. Haftung setzt aber genau jenen Individualismus voraus, den die Documenta-Macher Lehman-Banker abschaffen wollten. Im Kollektiv übernimmt keiner Verantwortung.
Wir sollten uns nicht weismachen lassen, der liberale Individualismus der europäischen Aufklärung habe ausgedient, weil er angeblich Schuld trage am Kolonialismus und Imperialismus. Im Gegenteil: Der Kollektivismus, den diese selbsternannten Vertreter des »globalen Südens« als Überwindung des Kapitalismus propagieren, führt geradewegs in den Populismus autokratischer Systeme. Wer »westliche Werte« vertreten will, wie es jetzt immer heißt, muss auch für den Individualismus des Westens kämpfen: Da kann jeder Gewinne machen, wenn er eine gute Geschäftsidee hat und muss nicht warten, bis ihm aus Barmherzigkeit etwas aus der Reisküche geschenkt wird. Er muss aber auch bereit sein, die Verluste zu tragen, wenn seine Idee nicht trägt oder das Schicksal ungnädig mit ihm ist. Die Documenta zeigt ex Negativo, was wir an diesem Erbe haben und warum wir es nicht verspielen dürfen. Verteidigen wir also das trotzig-stolze Ich.
Rainer Hank
05. Juli 2022
Pack die Badehose einÜber das Schwimmbad als klassenlose Gesellschaft
In seinem legendären »Fragebogen« von 1966 stellt der Schriftsteller Max Frisch diese Frage: »Wenn Sie einen Menschen in der Badehose treffen und nichts von seinen Lebensverhältnissen wissen: Woran erkennen Sie den Reichen?«
Ein beliebtes Gesellschaftsspiel – bis heute auch in vielen Blogs – ist es, auf Frischs Frage Antworten zu sammeln. Es fällt auf, dass der eigentlich naheliegende Einfall, man könne einem nackten Körper nicht ansehen, ob der Mensch arm oder reich sei, von kaum jemandem in Betracht gezogen wird. Stattdessen gibt es an vorderster Stelle Mutmaßungen über einen »gepflegten und gelifteten Körper«, der Rückschlüsse auf das Vermögen von Frauen und Männern zulasse. Andere wollen den »Yachtschlüssel am Handgelenk« als Reichtumsindikator bemerkt haben. Wieder andere meinen, der Badehosen-Mensch müsse misanthropisch sein, übellaunig, weil »Leute, die Kohle haben, immer meckern«.
Vergangene Woche waren wir seit ewigen Zeiten mal wieder in einem Freibad. Was soll man bei so einer Hitze sonst machen? Das Bad heißt »Rheinuferpark« und liegt in Gailingen am Hochrhein, grob gesagt auf halber Strecke zwischen Bodensee und Schaffhausen. Auf der gegenüberliegenden Rheinseite in Diessenhofen ist Schweiz; da gibt es auch ein Freibad, das »Rhybadi« heißt. In den beiden Strandbädern, die zusammengehören, ist alles vom Feinsten: Saubere Umkleidekabinen und sanitäre Anlagen, Spielplätze und Planschbecken für die Kleinen, dazu ein schattiger Biergarten. Weil der Hochrhein ordentlich Strömung hat, braucht man sich mit leichten Schwimmbewegungen einfach nur flussabwärts treiben lassen, ein Mordsvergnügen, nahezu anstrengungslos. Eintrittsgebühren werden im Rheinuferpark nicht verlangt: wir waren sozusagen Gäste der Kommune – sehr großzügig, wie ich fand. Vielen Dank an dieser Stelle.So ein Badenachmittag weckt Jugenderinnerungen ans Stuttgarter Inselbad. Bilder, Geräusche, Gerüche: Das ausgelassene Kreischen der Kinder oder das Platschen beim Aufprall des Körpers vom Fünferturm. Das chlorige Wasser, die Pommes, das »Fürst Pückler-Eis« (Erdbeere, Vanille, Schokolade) – und die neugierigen Blicke der Mädchen, die sich mit meinen Blicken nicht kreuzen wollten. Die Schönheit der jungen Körpers brauchte man damals noch nicht mit Tattoos bedecken.
Immer schon war das Schwimmbad ein Sehnsuchtsort. Dort mischen sich Klassen und Berufsschichten, kreuzen sich kulturelle Milieus und soziale Kreise, notierte der philosophische Flaneur Siegfried Kracauer im Oktober 1932. Die »ähnliche Kleidung« verstärke den Eindruck der »Homogenität«. In der Badeanstalt vermöge niemand »sofort zu erraten, dass die Gäste allen möglichen Schichten und Parteien entstammen, niemand kann auf den ersten und auch zweiten Blick hin den Studenten vom Arbeiter unterscheiden«. Eine intime Anonymität erlaube es, »einander ausgiebig beobachten zu können«.
Wer einen Pool hat, braucht kein Schwimmbad, oder?
Max Frisch übrigens kannte sich mit Badeanstalten aus. In seinem Erstberuf als Architekt hatte er in den Jahren 1947 bis 1949 das Züricher Freibad »Letzigraben« erbaut. Ob ihn Kracauers Utopie – besser sollte man sagen »Idylle« – der »klassenlosen Badegesellschaft« überzeugt hätte, glaube ich nicht. Dabei kannte der Schweizer Dichter noch gar nicht die Berichte von den gewaltsamen Übergriffen in den deutschen Multikulti-Bädern: Nachrichten von Schlägereien und Attacken gegen Bademeister rufen inzwischen private Sicherheitsdienste (»Schwimmbadpolizei«) auf den Plan. Klassenlosen Kommunismus stelle ich mir anders vor.
So etwas mögen die Reichen nicht. Ob sie wirklich in ein öffentliches Freibad kommen? Wofür haben sie sich in ihren Gärten die aufwändigen Infinity-Pools bauen lassen. Wenn mein Blick mich nicht täuscht, befanden sich unter den Sonnenbadenden am Gailinger Rheinufer verschwindend wenige Millionäre. Wir erkennen im Schwimmbad den Reichen in der Badehose deshalb nicht, weil es im Schwimmbad keinen Reichen gibt.
Deutschland ist im internationalen Vergleich ein Eldorado der öffentlichen Schwimmgelegenheiten: Das ist die Frucht des Wirtschaftswunders. Im Jahr 1961 stellte ein »Verein von Freunden und Förderern des Sports« ein Programm zum Bau von »Stätten der Gesundheit, des Spiels und der Erholung« vor: In nur zehn Jahren wurden fast 3000 neue Frei- und Hallenbäder errichtet. Später kamen die großzügigen Spaßbäder in den neuen Bundesländern hinzu, wo es besonders luftig zugeht: In Brandenburg teilen sich 62 000 Bürger ein Schwimmbad; im Saarland sind es 142 000 auf gleichem Raum. Der Höhepunkt der Schwimmbadkonjunktur war um die Jahrtausendwende erreicht, als man in Deutschland über 6700 öffentliche Badeanstalten zählte.
Seither macht das Schlagwort vom »Bädersterben« die Runde. Til van Rahden, ein im kanadischen Montréal lehrender deutscher Historiker, dem ich auch den Hinweis auf Siegfried Kracauer verdanke, nahm kürzlich auf einer Konferenz in Mainz den Niedergang der Bäder zum Anlass, den Untergang der Demokratie als Lebensform auszurufen. Wehmütig rekonstruierte der Wissenschaftler den Tod des Offenbacher »Parkbades« – 1962 eröffnet, 1992 musste es wegen hoher städtischer Schulden einem Nobelhotel (was man darunter in Offenbach halt so versteht) weichen. Für Til van Rahden ist die »Offenbacher Bädertragödie« Symbol eines abhanden gekommenen demokratischen Gemeinsinns, was zur Folge habe, dass soziale und kulturelle Bindungen schleichend erodieren. Dies alles, weil die betuchten Bürger sich ihrer Pflicht zur Finanzierung der »demokratischen Allmende« verweigerten.
Egoistischer Altruismus
Statt zu klagen, dass die Reichen sich aus dem Staub machen, könnte man auch fragen, warum sie sich (durch die Steuerprogression bedingt) überhaupt an der Schwimmbad-Finanzierung beteiligen sollen, wo sie doch dank eigener Infinity-Pools davon gar keinen Nutzen haben. Dazu gibt es eine gute Begründung: Die von den Reichen überdurchschnittliche frequentierten städtischen Opern werden auch von den ärmeren Bürgern finanziert, die man bekanntlich dort eher selten trifft. Und: Die Reichen müssten ein egoistisches Interesse am Erhalt des sozialen Friedens haben. Wird dieser gestört, wären sie genötigt, wie in Amerika ihre Villen mit hohen Zäumen und privaten Sicherheitsdiensten schützen zu lassen, was mutmaßlich teurer käme als kommunale Schwimmbäder solidarisch mitzufinanzieren.
Doch keine Sorge. Das sogenannte Bädersterben gibt es zwar, es beläuft sich aber auf noch nicht einmal zehn Prozent binnen zwanzig Jahren. Immer noch gibt es hierzulande über 6000 öffentliche Bäder; und es kommen neue hinzu – siehe Gailingen am Hochrhein. Kein Grund also, das Siechtum der öffentlichen Daseinsvorsorge zu beklagen.
Rainer Hank
14. Juni 2022
Wann wirken Sanktionen wirklich?Ein Blick in die Geschichte der Wirtschaftskriege
Lassen sich Kriege ein für alle Mal aus der Weltgeschichte verbannen? Bislang ist das nicht gelungen. Allemal stehen sich nach großen Kriegen Realisten und Utopisten gegenüber. Die Realisten verhöhnten die Pazifisten als Illusionisten. Die Utopisten beschimpfen die Realisten als Zyniker, die nicht bereit sind, aus der Geschichte zu lernen und die Menschheit vor Leid und Zerstörung zu bewahren.
Wenn wir Kinder der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit an Pazifisten denken, denken wir an die Friedensbewegung, an Ostermärsche und den Kampf in den achtziger Jahren gegen den Nato-Nachrüstungsbeschluss. Doch es gab schon einmal, vor hundert Jahren, eine ganz andere Welt-Friedensbewegung: Deren Utopie bestand darin, militärische durch wirtschaftliche Waffen zu ersetzen. Diese Bewegung war davon überzeugt, dass es niemals gelingen würde, Konflikte zwischen Staaten gänzlich zu vermeiden. Und sie wusste, dass Verhandlungslösungen ohne Druckmittel wirkungslos blieben. Aber sie war der Ansucht, dass es humaner sei, einander mit wirtschaftlichen Waffen zu bekämpfen anstatt mit Panzern, Raketen und Kanonen. In den Worten eines britischen Bürokraten im Ersten Weltkrieg: »Bleistifte sind sauberere Instrumente als Bajonette«. Händler, Bankiers und Anwälte sollten die archaischen Krieger der Moderne ablösen; die Idee des Handelskriegs fußte auf dem Glauben des Wirtschaftsliberalismus im 19. Jahrhundert.
Das Produkt dieser »Friedensbewegung« war die Gründung des »Völkerbunds« am 10. Januar 1920. Die Gründungsstaaten glaubten, sie hätten ein neues und wirkmächtiges Zwangsmittel an der Hand, um künftige Kriege sogar zu verhindern. Wie nach dem Zweiten Weltkrieg die Strategie nuklearer Abschreckung (»Gleichgewicht des Schreckens«), so hegte der Völkerbund die Erwartung, allein die Androhung wirtschaftlicher Sanktionen würde potenzielle Aggressoren davon abhalten, andere Länder militärisch zu überfallen.
Das Druckmittel, dass der Völkerbund in das internationale Recht einführte, hieß »Sanktionen«. Nicht zuletzt ging es um Rohstoffe, vor allem Kohle und Öl, aber auch um den Entzug von Finanzmitteln. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson nannte Sanktionen im Jahr 1919 »etwas viel Ungeheuerlicheres als ein Krieg«. Denn die Bedrohung läge in der »absoluten Isolation« der Aggressoren, die dazu führe, dass ihnen recht bald jegliche militärische Kampfeskraft fehlen würde. Wirtschaftssanktionen, richtig angewandt, würden gewaltsame Kriege überflüssig machen, meinte Wilson. Eine Wirtschaftsarmee (»l’armee économique«) könnte eine militärische Armee ersetzen. Der grausame militärische Krieg sollte durch die Verwandlung in den Handelskrieg humanisiert werden.Wirtschaftssanktionen kosten viele Menschenleben
So unschuldig friedlich, wie Wilson meinte, war der Wirtschaftskrieg freilich nicht. Im Gegenteil. Das kann man der kürzlich erschienenen Studie des niederländischen Historikers Nicholas Mulder über Hoffnung und Scheitern der Wirtschaftssanktionen im 20. Jahrhundert entnehmen. Wirtschaftskriege, so der an der amerikanischen Cornell-Universität lehrende Forscher, hatten häufig sogar mehr Tote zur Folge als Militärschläge, weil viele »unschuldige« Menschen jämmerlich verhungern oder lebenslang an den Folgen der Unterernährung und Auszehrung leiden. 300 000 bis 400 000 Menschen hätten im Ersten Weltkrieg in Zentraleuropa ihr Leben verloren als Folge von Boykott und Sanktionen (hinzu kommen 500 000 durch Sanktionen um Leben gekommene Menschen im Osmanischen Reich), insgesamt eine weitaus größere Zahl verglichen mit jenen Toten, die durch Luftangriffe oder den Gaskrieg umkamen, schätzen die Historiker. Ein sauberer Krieg ist auch der Wirtschaftskrieg nicht. Der britische Ökonom John Maynard Keynes hatte früh vor wirtschaftlichen Strafaktionen gewarnt, von denen Freund und Feind betroffen wären und stattdessen dafür plädiert, »positive« Wirtschaftssanktionen, Hilfen zur Unterstützung der Opfer völkerrechtswidriger Aggression in Erwägung zu ziehen.
Hundert Jahre später sehen wir, dass die Hoffnungen von damals sich nicht erfüllt haben, der Wirtschaftskrieg könne den militärischen Krieg ablösen. Woran das liegt? Mulder bietet ein Bündel von Gründen an. Die bloße Androhung von Wirtschaftssanktionen entfalte einerseits ihre abschreckende Wirkung, führe aber als eine Art »unintendiertem Effekt« dazu, dass aggressive Diktatoren (Hitler oder Mussolini) sich wirtschaftlich autark zu machen suchten. »Blockadefestigkeit«, eine Art Resilienz gegen den Wirtschaftskrieg, so lautete das erklärte Ziel der Nationalsozialisten. Gerade der durchschlagende Erfolg der britischen Finanz- und Handelsblockade gegen Deutschland im Ersten Weltkrieg führte dazu, dass Hitlerdeutschland sich vorbereiten und mit dem Aufbau einer Autarkiewirtschaft reagieren konnten.
Hinzu kommt: Die Sanktionen wurden vielfach nicht allumfassend, hart und konsequent genug umgesetzt. Die Sanktionen der Völkergemeinschaft gegen Italien im sogenannten Abessinien Krieg (1935 bis 1941) – ein völkerrechtswidriger und besonders grausamer Krieg gegen Äthiopien und eigentlich einer der Erfolge der Embargopolitik des Völkerbunds – scheiterten daran, dass der Völkerbund sich nicht durchringen wollte, ein Öl-Embargo durchzusetzen. Kommt uns das bekannt vor? »Hätte der Völkerbund ihm das Öl abgestellt, wäre das eine Katastrophe gewesen«, soll Mussolini im Gespräch mit Hitler gesagt haben. Wenn überhaupt, haben Sanktionen gegen kleine Staaten Wirkung gezeigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es dann zwar immer mehr Sanktionsresolutionen als vor dem Krieg, freilich mit ständig nachlassender Wirkung.
Lässt sich aus der Geschichte des Wirtschaftskrieges im 20. Jahrhundert etwas für den Ukrainekrieg im 21. Jahrhundert lernen? In aller Vorsicht vielleicht dies: Vieles hängt am Boykott von russischem Gas und Öl. Der Westen hätte sich früher dazu durchringen sollen. Das scheiterte bekanntlich nicht nur, aber maßgeblich an Deutschland. Ein Erfolg des Energie-Boykotts wäre besonders durchschlagend, würden sich alle, also auch Indien, China und Afrika beteiligen. Das ist illusorisch, darf aber kein Grund dafür sein, dass der Westen sich rausmogelt oder wochenlang weiterdiskutiert. Dass die EU jetzt ein Öl-Embargo beschlossen hat, ist gut. Dass es erst in sechs Monaten greift, ist weniger gut.
Niemand sollte sich einreden, Wirtschaftssanktionen seien »milde« Waffen. Sie treffen vor allem die Zivilbevölkerung im Land des Aggressors – aber um deren Leid scheint Putin sich wenig zu scheren. Wirtschaftssanktionen treffen auch die Menschen im Land der Boykotteure. Wer den Wirtschaftskrieg will, muss wissen, dass er Wohlstandsverluste, Hunger und Tod vieler Menschen in Kauf nimmt. Anders als Woodrow Wilson hoffte, lässt sich der militärische Krieg nicht komplett durch den Wirtschaftskrieg substituieren. Russlands Krieg zeigt eben auch die Grenzen von Sanktionen.Rainer Hank