Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 27. Juni 2023
    Ein altmodischer Liberaler

    Moritz Julius Bonn (1873 bis 1965) Foto Bundesarchiv

    Dieser Artikel in der FAZ

    Was der Ökonom Moritz Julius Bonn uns zu sagen hat

    Wie wird man ein Liberaler, ein Sozialist oder ein Konservativer? Bei den wenigsten passiert so etwas anlässlich der vergleichenden Lektüre von – sagen wir – Adam Smith, Karl Marx oder Edmund Burke. In der Regel sind es zufällige biographische Erfahrungen, die lebenslang die eigenen Werte prägen.

    Eine schöne Geschichte erzählt Moritz Julius Bonn. Geboren 1873 in Frankfurt in einer vermögenden jüdischen Bankiersfamilie berichtet er in seiner Autobiografie von einer sorgenfreien und an intellektuellen Anregungen reichen Kindheit und Jugend. Die Familie der Mutter stammte aus Hohenems in Vorarlberg, einer alten jüdischen Gemeinde. In St. Gallen unterhielt das Bankhaus der Großeltern eine Filiale. Die Reisen dorthin, so erinnert sich der Enkel, waren ziemlich unbequem. Sie führten über Stuttgart, Ulm und den Bodensee und dauerten fast einen Tag oder eine volle Nacht. Von Friedrichshafen ging es nach Bregenz, wo man den österreichischen Zoll passieren musste. In Österreich standen damals die Zölle auf Zucker, Kaffee und ähnliche Dinge sehr hoch. Es sei aber gang und gäbe gewesen, ein bisschen Zucker, Kaffee oder Stickereien aus der Schweiz zu schmuggeln, so erzählt Bonn: »Bei den vielen Unterröcken, die die Damenwelt trug, war es immer möglich, eine Extragarnitur einzuschalten, ohne dadurch aufzufallen.« Das hört sich für einen kleinen Jungen nach aufregender Schmugglerromantik an, zugleich habe man in seiner Familie immer eine »zollfeindliche Luft« geatmet, so Bonn, weshalb er sich nie ganz klar darüber geworden sei, »ob meine Einstellung zum Freihandel von dorther rührte oder aus den Lehrbüchern der klassischen Nationalökonomie«.

    Moritz Julius Bonn wurde ein großer liberalen Liberaler und kosmopolitischer Intellektueller, der sich als Wanderer zwischen den Welten stets auch in die Politik eingemischt hat – vor allem während der Jahre von Weimar. Allzu viele Lichtgestalten dieses Typs gibt es in Deutschland nicht. Umso erstaunlicher, dass er heute nahezu unbekannt ist. Im Rhein-Main-Gebiet kennt man die Villa Bonn in Kronberg, die auf den Großvater zurückgeht. In Frankfurt gibt es in der Siesmayerstraße am Palmengarten ebenfalls eine Villa Bonn, die dem hiesigen Bürgertum natürlich gut vertraut ist, das beim Namen Bonn aber an die ehemalige Bundeshauptstadt und nicht an die jüdische Familie denkt, die seit dem Stammvater Aaron Jacob Bonn vierhundert Jahre in Frankfurt zuhause war – und deren letzter Nachkomme 1939 gezwungen war, die Stadt zu verlassen. Der 150. Geburtstag Moritz Julius Bonns am 26. Juni mag mir Anlass sein, heute an diesen großen Liberalen zu erinnern.

    Ein Liberaler ist kein Lobbyist

    Bonn studierte Wirtschaftswissenschaften – Nationalökonomie, wie das damals hieß – bei Lujo Brentano in München, der dort ein Star war; auch Theodor Heuss hatte bei Brentano studiert. Max Weber hielt Bonn für den »weitaus geistvollsten« und »entschieden intelligentesten« unter den Schülern Brentanos. Brentano war es auch, der Bonn ein Jahr nach Wien zu Carl Menger schickte, dem Kopf der sogenannten Grenznutzenschule der Ökonomie. Gewappnet mit diesem intellektuellen Rüstzeug ließ sich Bonn zeitlebens weder von den Sozialisten und erst recht nicht von den Kapitalisten etwas vormachen: Er stritt für Freihandel, attackierte die Kartelle, geißelte jedweden wirtschaftspolitischen Interventionismus und Subventionismus und warnte vor den Schäden korporatistischer Macht. So gesehen taugt Moritz Julius Bonn als Widerlegung des bis heute gängigen Vorwurfs, der Wirtschaftsliberalismus sei eine Art intellektueller Lobbyorganisation für die Unternehmer. Nein, der Liberaler streitet »pro Markt« nicht »pro Business«. Über die hierzulande im Unterschied zu den USA gängige Missachtung des Kunden »als beinahe unwillkommenen Störer« der Wirtschaft, konnte Bonn sich gewaltig ärgern.

    Einen »ordentlichen« ökonomischen Lehrstuhl war dem Juden Bonn verwehrt, als außerordentlicher Professor wurde er Direktor der Handelshochschule in München, später dann Rektor an der Berliner Handelshochschule, die er 1933 verlassen musste, um während der Nazijahre in England und USA zu leben und zu lehren. Carl Schmitt, der schillernde Kronjurist Hitlers, war in Berlin Bonns Kollege. Wenige Wochen vor der Machtergreifung hatte Schmitt einen Ruf nach Köln angenommen, wegen unterschiedlicher politischer Ansichten mit Moritz Julius Bonn, wie er sagte. Das sei doch kein Grund, erwiderte Bonn: »Sie wissen, ich bin ein altmodischer Liberaler. Ich verbrenne keine Ketzer, ich überlasse sie den Qualen ihres schlechten Gewissens.« Ähnlich subtil vernichtend äußerte sich Bonn in seinen Memoiren über den berühmten Kollegen Werner Sombart, der sich ebenfalls den Nazis angebiedert hatte: »Gleich Schmitt war Sombart bereit, seine jüdischen Freunde mit Haut und Haaren aufzufressen, obgleich er ihnen sehr zu Dank verpflichtet war; er wollte aber unter allen Umständen eine Primadonna bleiben.«

    Bonn statt Naumann

    Moritz Julius Bonn gehörte wie Friedrich Naumann zu den Mitgründern der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei nach dem ersten Weltkrieg. Die FDP hätte nach dem Zweiten Weltkrieg besser daran getan, sich Bonn statt Naumann zum Ahnherrn und Vorbild zu nehmen (etwa für ihre Stiftung). Naumann, »die Leiche im Keller der FDP« (Götz Aly), propagierte einen »liberalen Imperialismus«, denn es sei »der Trieb des deutschen Volkes, seinen Einfluss auf die Erdkugel auszudehnen«. Solche Sätze wären Bonn nie in den Sinn und in die Feder gekommen. 1906 verbrachte er zusammen mit seiner englischen Frau eine Art Sabbatical-Jahr in Britisch-Südafrika und Deutsch-Südwestafrika. Bonn war entsetzt über die Massaker der Deutschen an den Hereros, schüttelte sich angesichts des Herrenmenschentums der dort siedelnden Junker aus dem hintersten Pommern (»kleinbürgerliche Spießer der Barmer Mission«) und schloss fast schon im Duktus des heutigen Postkolonialismus: »Ich war mit der festen Überzeugung zurückgekommen, dass Afrika das Land des schwarzen Mannes sei«. Später prägte Bonn den Begriff der »Dekolonisierung«.

    Moritz Julius Bonn hätte zum 150. Geburtstag eine breite Rezeption nicht nur unter Liberalen verdient. Der Ideenhistoriker Jens Hacke hat in den vergangenen Jahren mit viel Elan dafür gesorgt, dass wichtige Schriften Bonns wieder leicht greifbar sind. Bonns Vorstellung eines »Demokratischen Kapitalismus«, sein Einsatz für die zwar fragile, aber notwendige Zusammengehörigkeit von Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft taugt auch heute als liberale Leitidee in Zeiten populistischer gesellschaftlicher Zerrissenheit. Bonns Autobiografie, die Hacke jetzt zum Geburtstag bei der Europäischen Verlagsanstalt mit einem Nachwort versehen wieder zugänglich gemacht hat, ist als Vermächtnis eines jüdischen Intellektuellen zudem ein großes Lesevergnügen.

    Rainer Hank

  • 24. Juni 2023
    Der ungeliebte CO2–Preis

    Was macht der Eisbär, wenn der Eisberg schmilzt? Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum es gute Ideen so schwer haben

    Die meisten Ökonomen stimmen darin überein, dass ein Preis auf CO2–Emissionen der beste Weg wäre, den Klimawandel zu bekämpfen. Ein Preis – wie alle Preise – ist effizient und fair, weil derjenige, der das Klima belastet, dafür auch bezahlt. Wem das zu teuer ist, die oder der kann nachdenken, wie sie oder er klimafreundlicher und kostengünstiger leben und wirtschaften mag. Eine Transformation der fossilen Welt über den Preis lässt sich mit einer CO2–Steuer oder mit dem Emissionshandel regeln.
    Doch der CO2–Preis hat es schwer. Er ist kontraintuitiv und kompliziert. Bloß die Ökonomen halten ihn für einfach und elegant. Die Menschen können keinen Zusammenhang erkennen zwischen einem höheren Spritpreis und dem Erreichen der Klimaziele. Politiker, die in der Pandemie mit dem Grundsatz »Follow the Science« ins Feld gezogen waren, hören in der Klimapolitik den Ökonomen zwar zu, halten sich aber nicht an ihren Rat. Lieber hantieren sie mit Verboten, Standards oder Subventionen. Deshalb gibt es das Verbrennerverbot, das Wärmepumpengesetz (offiziell »Gebäudeenergiegesetz«) oder den verordneten Ausstieg aus der Atomenergie – alles mit fixem Termin. Die politische Interventionsstrategie ging lange (scheinbar) gut, ist erst jetzt im Streit um die Wärmepumpen in die Krise gekommen, als jedem deutlich wurde, dass Klimaneutralität etwas kostet und jeden betrifft.

    Ich will wissen, woran es liegt, dass die schöne Idee des CO2–Preises außerhalb der Zunft der Ökonomen so wenig Zustimmung findet. Und wie man der guten Idee zu mehr Akzeptanz verhelfen könnte. Unterstützung hole ich mit bei Ottmar Edenhofer, dem Direktor des Potsdam-Instituts für Klimaforschung. Edenhofer ist kein Marktradikaler. Er ist lediglich ein guter Ökonom, der niemand nach dem Munde redet. Seit langem gehört er zu den schärfsten Kritikern der Klimapolitik der Ampel.

    Beginnen wir mit der Frage, warum Politiker nicht auf die Wirkung von Preisen vertrauen. Antwort: Sie wollen als wirkmächtige Entscheider wahrgenommen werden. Dies steht im Widerspruch zu wirkmächtigen Preisen, mit denen Kohlekraftwerke oder Dieselmotoren von allein verschwänden, wäre nur der CO2–Preis hoch genug. Der Markt würde dann auch dafür sorgen, dass alternative nicht-fossile Technologien zu attraktiven Kosten zur Verfügung stünden – im Vergleich mit den immer teuer werdenden fossilen Energieträgern.

    Die FDP verschweigt den Preis

    Ist nicht wenigstens die FDP ein Bundesgenosse bei der Vermarktung des Preismechanismus? Rhetorisch schon. So haben die Freidemokraten in den vergangenen Wochen stets ihren Widerstand gegen das Gebäudeenergiegesetz motiviert und sich als aufrechte Marktwirtschaftler dargestellt. Doch auch die FDP ist nicht aufrichtig, wenn sie zwar abstrakt über den Marktmechanismus spricht, aber die konkreten Auswirkungen auf den Geldbeute der Bürger verschweigt. Wenn es konkret wird, winken die Liberalen lieber mit klimaschädlichen Spritprämien oder Steuergeschenken für die Pendler.

    Ehrlich wäre es zu sagen: Will Deutschland bis 2050 tatsächlich klimaneutral werden, müsste der CO2–Preis deutlich schneller steigen und bis 2030 auf 200 bis 300 Euro pro Tonne ansteigen. Dieser Preis ist weit höher als die 55 Euro, die nach jetzigen Vorgaben die Tonne CO2 im Jahr 2025 kosten soll.

    Das führt zu einem rationalen Grund, warum Politiker lieber auf Vorschriften, Verbote und Subventionen setzen. Sie wollen den Preis der Transformation verschleiern. Im besten Fall soll es so aussehen, als könnte der klimafreundliche Umbau unserer Welt mit staatlichen Geldgeschenken beim Kauf von E-Autos oder der Wärmedämmung erreicht werden. Verschleierung ist eine rationale politische Strategie. Nichts fürchten Politiker so sehr wie die Transparenz von Kosten, denn das könnte zu Stimmverlusten bei der nächsten Wahl oder unmittelbar zu Protesten der Bürger führen. Dass auch Vorschriften und Verbote mit Kosten verbunden sind, wurde jetzt zum ersten Mal im Streit um die Wärmepumpe sichtbar. Dass die Angst der Ampel vor dem Stimmbürger rational ist, zeigen die gestiegenen Umfragewerte für die AfD.

    Verbote und Subventionen kommen beim Bürger gut an, Preise hält er für unnötig und unfair. Der Begriff »Steuer« ist für den CO2–Preis ein Problem. Es sieht nämlich so aus, als könne der Staat den Hals nicht vollkriegen und habe sich nur einfach eine neue Einnahmequelle ausgedacht, die er klimapolitisch camoufliere. In Wirklichkeit ist der CO2–Preis gar keine Steuer, sondern eine Art Ausgleichszahlung für die Kosten, die die Klimaschädigung verursacht (sogenannte externe Effekte) und ein Anreiz für Bürger und Unternehmer, sich vom fossilen Leben zu verabschieden.

    Klimageld zur Umverteilung

    Will der Staat beweisen, dass er die CO2–Einnahmen nicht verprassen will, könnte er das Geld gleich wieder an die Bürger in Form eines »Klimageldes« ausschütten. Das würde dem Marktmodell nicht nur zu Akzeptanz verhelfen, sondern auch Verteilungsgerechtigkeit herstellen und zugleich Anreize für den Umstieg setzen (ganz ohne ein Wärmepumpengesetz). Eine Beispielrechnung des »Mercator Instituts für Klimaforschung« geht so: Einer vierköpfigen Familie mit Einfamilienhaus auf dem Land würde in den ersten Jahren Klimageld in Höhe von rund 3000 Euro zufließen – während sich der Betrieb ihrer Ölheizung aufgrund der CO2–Abgabe lediglich um1500 Euro verteuert. Allerdings sinkt das Klimageld Jahr für Jahr – weil immer weniger fossile Brennstoffe verkauft werden, wenn sich Wärmepumpen und Elektroautos durchsetzen. Entsprechend weniger CO2–Abgaben landen im Klimafonds. Im Jahr 2040 etwa könnte die Musterfamilie wohl nur noch mit 1200 Euro Klimageld im Jahr rechnen – während ihre Heizölkosten mit 2200 Euro dann deutlich darüber liegen. Hierin liegt der Anreiz, früh auf eine klimafreundliche Heizung umzusteigen.

    Warum setzt das Gute sich nicht einfach durch? Weil Politiker lieber über hehre Ziele sprechen, hingegen die Strafe der Bürger fürchten, würden sie über die Kosten reden, die anfallen zum Erreichen dieser Ziele. Wie könnte man dem Guten zu seinem Recht verhelfen, ohne für ein autoritär-platonisches Staatsmodell der Weisen zu plädieren? Indem man zeigt, dass gerade die Ärmeren von einem Marktmodell am meisten profitieren. Verbote und Standards generieren keine Einnahmen, mit denen man Verlierer kompensieren kann, sie würden die Armen sogar überproportional belasten. Subventionen oder keynesianische Transformationsprogramme (USA) sehen wie ein Staatsgeschenk aus, sind am Ende aber viel teurer als ein effizienter CO2–Preis. Mithin liegt die Lösung in der kommunikativen Aufgabe für Politiker darin zu zeigen, dass der Markt fair ist. Und nicht nur dem Klima, sondern auch den Armen helfen kann.

    Rainer Hank

  • 16. Juni 2023
    Guter Butter

    Alles in Butter Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wohlstand, Inflation und die Erfahrungen eines Boomers

    Wenn Journalisten ihr Vorurteil pflegen wollen, dass Politiker weltfremd seien, dann fragen sie nach dem aktuellen Preis für ein halbes Pfund Butter. Bundesbankpräsident Joachim Nagel, im April von der FAZ befragt, lief nicht in die Falle. Er übernehme häufig den Wochenendeinkauf und verfolge die Preise sehr genau. Vor allem bei der Butter sei ihm aufgefallen, dass sie nach dem Anstieg der Preise vor einem Jahr nun wieder etwas billiger geworden sei. »Insgesamt liegt der Höhepunkt der Teuerung hinter uns«, so Nagel.

    Nicht schlecht, finde ich, wenn sich die Notenbanker nicht nur um aggregierte Ziffern und Figuren kümmern, sondern um konkrete Supermarktpreise. Tatsächlich ist der Durchschnittspreis für Butter im Jahresvergleich im April 2023 um 3,6 Prozent gefallen, ein gutes Zeichen nach einer abenteuerlichen Teuerungsbewegung im vergangenen Jahr. Im Dezember 2021, als namhafte Ökonomen noch meinten, Inflation sei ein vorübergehendes Phänomen, kostete das 250–Gramm-Päckchen im Schnitt 1,66 Euro. In den zwölf Monaten danach ging es in mehreren Schritten nach oben. Höhepunkt war der September 2022 mit 2,39 Euro. Wohlgemerkt, das war der Durchschnittspreis. Sogenannte Markenware lag bei 3,50 und höher. Den gruseligen Satz »Bei drei Euro beginnt für uns die Todeszone« verdanken wir dem Chef der Molkerei Berchtesgadener Land.
    Nun ist es einerseits lebensnah, wenn Notenbanker sich um Preise von Lebensmitteln kümmern. Andererseits auch wieder bedenklich. Denn eine klassische Ökonomen-Antwort auf die Frage, wann die Inflation bezähmt sei, lautet: Wenn die Leute nicht mehr über Inflation reden. Hinzu kommt, dass der Rückgang des Butterpreises kein zweifelsfreies Indiz für rückläufige Inflation ist. Denn der folgt einem ganz eigenen sogenannten »Schweinezyklus« von Teuerung und Preisverfall, der nur locker an die allgemeine Inflation gekoppelt ist.

    Butter ist eben ein ganz eigenes Lebensmittel. Als Boomer weiß ich, wovon die Rede ist. Butter, bei uns in Stuttgart sagte man übrigens »der Butter«, also Butter gab es damals nur zu besonderen Gelegenheiten. Bei Familienfesten, an Weihnachten, Ostern und manchmal am Sonntag. Im Alltag aßen wir Margarine. Die war billiger. Beim Backen vermerkte meine Mutter eigens, wenn der Teig mit »gutem Butter« zubereitet wurde. Das mussten wir beim Sonntagnachmittagskaffee eigens mit entsprechenden Geräuschen des Wohlgeschmacks würdigen.

    Zu Röllchen geformt und dann kanneliert

    Der Höhepunkt damals in den späten fünfziger Jahren waren die Geburtstage in der Familie, wenn Tante und Onkel eingeladen waren. Da gab es zum Abendessen eine Wurst- und Käseplatte, sozusagen der Höhepunkt der Gefühle. Diese Platten wurden gekrönt mit Butterröllchen, für welche die Hausfrauen eigene Butterroller hatten, die es übrigens heute noch im Handel gibt. Mit diesen Butterrollern ließen sich die Flöckchen nicht nur zu Röllchen formen, sondern auch noch kannelieren. Solche Röllchen drapierte man hübsch artig neben Scheiben von Zervelatwurst, die eingeschnitten zu einer Art Trichter geformt und zur Krönung mit jeweils einer Salzstange gespickt wurden.
    Wenn ich mir konkret vorstellen will, wie »Wohlstand für alle« (Ludwig Erhard) und »Wirtschaftswunder« aussieht, dann sehe ich immer diese Butterröllchen auf den Geburtstagen der fünfziger Jahre vor mir. Das Gefühl damals war zweigeteilt: Es geht uns wieder gut – aber eben nur an besonderen Tagen. Im Alltag gab es keinen Bohnen-, sondern Zichorienkaffee, hergestellt aus den Wurzeln der Gemeinen Wegwarte, wie ich gerade nachgegoogelt habe. Und aufs Brot gab es normalerweise eben Margarine, die man dafür immerhin dicker streichen durfte als die kostbare Butter.

    Seither hat die Butter eine sehr wechselvolle Geschichte durchgemacht. Was als Wohlstandserfolg genossen wurde, galt plötzlich als Ursache von allerlei Herz- und Kreislauferkrankungen. Denn das darin in Mengen enthaltene Cholesterin (eine fettähnliche Substanz namens Lipid) könne schwere gesundheitliche Folgen nach sich ziehen, sagten die Hausärzte. Heutzutage kommt unweigerlich und erwartbar hinzu, dass Butter als »ziemliche Klimasau« gilt, wie die Klimapolizei der ZEIT zu vermelden wusste: 20 Liter Milch braucht man für ein Kilo Butter. Für so viel Milch bläst die Kuh ordentlich Methan in die frische Weideluft, was wir uns hier jetzt gar nicht konkret vorstellen mögen.
    Nachdem die Ernährungswissenschaftler cholesterinmäßig inzwischen Entwarnung gaben und die Methangegner noch nicht als Untersektion bei den Klimaklebern zugelassen wurden, hat der Butter inzwischen imagemäßig wieder gewonnen. Zumal auf der Liste der Bösewichte der Zucker ihm inzwischen den Rang abgelaufen hat. Und Kuhmilchgegner kriegen inzwischen sogar Butter aus Sojamilch.

    Langfristig gesehen ist die Butter heutzutage phänomenal billig – Inflation hin, Inflation her. Meine Anfrage bei der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung bringt als Beispiel: 250 Gramm Butter kosteten im Jahr 1959 im Schnitt 5 Mark 50. Heute, genauer gesagt 2021, kostet das Stück Butter 1 Euro 49. Der jährliche Prokopfverbrauch stieg in derselben Zeit von 3,6 auf 5 Kilo. Man kann es noch eindrucksvoller beschreiben: Für ein halbes Pfund Butter musste ein Arbeitnehmer mit Durchschnittseinkommen 1970 noch 22 Minuten arbeiten. Inzwischen reichen ungefähr drei Arbeitsminuten, um sich ein Stück guter Butter leisten zu können. Das nennen wir Fortschritt.

    Bei uns zuhause gibt es inzwischen Kerrygold«. Kennen Sie die? Mit ihrem Rewe-Preis von 2,99 Euro rangiert sie gerade knapp unter der »Todeszone«. »Lescure Beurre-Charentes-Poitou«, der vornehme Name deutet es an, liegt mit 4,90 deutlich darüber. »Kerrygold« scheint die Butter der heutigen Mittelschicht zu sein. Nicht nur bei mir ist die Marketingstrategie des irischen Molkereikonzerns voll aufgegangen. »Pure Irish Butter« steht auf dem Papier, das so goldgelb daherkommt wie die streichzarte (welche zärtliches Wort) Butter, die sich darunter verbirgt. Auch in USA ist Kerrygold Marktführer unter den importierten Buttermarken. Dort hat man die Besten der Besten für das Marketing eingesapnnt: Sarah Jessica Parker, Oprah Winfrey (sie hat 21 Millionen Follower, das hilft) und Model Chrissy Teigen lassen sich die irische Butter auf ihren Zungen zergehen. Min Jin Lee, ein koreanisch-amerikanischer Autor bekennt, er habe immer mehrere Kilos davon in seinem Kühlschrank, wie ich der Wochenendbeilage »How to spend it« der Financial Times entnehme. Sagen wir es so: Wer solche Influencer beschäftigt, braucht sich um den Umsatz keine Sorgen mehr zu machen. Wie hieß es schon in einem Zeichentrickfilm der 50er Jahre für »Deutsche Markenbutter«, zugegeben etwas simpler als bei Oprah Winfrey: »Ja, Leute, mit Butter ist alles in Butter!«

    Rainer Hank

  • 16. Juni 2023
    Steinmeiers Pflichtjahr

    Frank Walter Steinmeier, Bundespräsident Foto Bundesregierung Steffen Kugler

    Dieser Artikel in der FAZ

    Solidarität, zwangsverordnet

    Ein Bundespräsident braucht ein Projekt. An irgendetwas soll man sich später schließlich erinnern können. Besonders gut haben das Walter Scheel und Roman Herzog hinbekommen. Der eine ist als Volksliedsänger in die Geschichte eingegangen (»Hoch auf dem gelben Wagen«), der andere als Volksschüttler (»Durch Deutschland muss ein Ruck gehen«). Weniger einprägsam blieben Joachim Gauck und Christian Wulff: Der eine gab sich als Prophet der Freiheit, die leider etwas blass blieb, der andere als ein Verteidiger der Integration (»Der Islam gehört zu Deutschland«), was dann vom turbulenten Ende seiner Präsidentschaft überwölkt wurde. Schlimmer erging es nur noch Heinrich Lübke. Vieles, was von ihm überliefert ist, darf inzwischen noch nicht einmal mehr wörtlich zitiert werden (»Sehr geehrte Damen und Herren, liebe [N-Wort]«).

    Frank-Walter Steinmeier ist inzwischen in seiner zweiten Amtszeit angelangt und muss sich ein wenig sputen. Sein Vermächtnis heißt »Soziale Pflichtzeit«. Er wiederholt es bei jeder Gelegenheit, zuletzt in einem Gastbeitrag in der FAZ am 25. Mai. Dabei handelt es sich um ein Plagiat, was aber nicht so schlimm ist: Ursprünglich stammt die Idee von Annegret Kramp-Karrenbauer, die – für alle, die sich nicht mehr erinnern – eine kleine Weile lang CDU-Vorsitzende war.

    Im Vergleich zu der Ideenerfinderin aus dem Saarland ist Steinmeier wesentlich hartnäckiger. Für all jene, an denen der Vorschlag bislang vorbeigegangen ist, hier die Zusammenfassung: Sozialer Pflichtdienst soll ein Dienst genannt werden, bei dem Menschen aus verschiedenen Milieus und Schichten zusammenarbeiten müssen. Damit könne der Zusammenhalt in einer auseinanderdriftenden Gesellschaft gestärkt werden. Die Pflichtzeit soll mindestens sechs Monate, maximal ein Jahr dauern und kann in unterschiedlichen Phasen des Lebens absolviert werden. Es braucht dazu eine Verfassungsänderung, für die der Bundespräsident gute Chancen sieht. Die Zustimmung zu seiner Idee erreiche in der ganzen Gesellschaft 65 Prozent, bei den Jüngeren liege sich bei knapp über 50 Prozent.

    Viele Menschen seien »regelrecht elektrisiert« von seiner Vision, berichtet Steinmeier. Ich gestehe, dass ich nicht zur Gruppe der Elektrisierten zähle, und konzentriere mich auf zwei Einwände: Die Freiheitsberaubung. Und die ungeklärte Nachfrage.

    Wie wird der Mensch tugendhaft?

    Zunächst zur naheliegenden Frage, ob sich die gespaltene Gesellschaft – falls es sie wirklich gibt – mit Zwang kitten lässt. Nüchtern ökonomisch betrachtet wäre die Einführung einer Pflichtzeit nichts anderes als eine Steuererhöhung. Denn bei einem Zwang zu Sozial- oder Militärdienst wird dem Dienstleistenden eine Naturalsteuer auferlegt, indem er dem Staat ohne marktgerechte Gegenleistung seine Zeit zur Verfügung stellt – was im strikten Sinn die Definition einer Steuer erfüllt. Jede Steuer ist ein Eingriff in die Freiheit der Bürger: Die Einkommensteuer konfisziert (legal) Teile des Eigentums, die Naturalsteuer würde mindestens ein halbes Jahr lang den Menschen die Freiheit nehmen, selbst über ihr Leben zu entscheiden. Zum Beispiel sich ehrenamtlich zu betätigen, ein Engagement, das hierzulande kontinuierlich zunimmt (jedenfalls bis zur Pandemie). Dabei ist die Naturalsteuer eine deutlich größere Freiheitsberaubung als Mehrwert- oder Einkommensteuer, vergleichbar dem Verhältnis von Geld- und Gefängnisstrafe.

    Kann man Solidarität zwangsverordnen? Der Präsident kenn diesen Einwand natürlich. Er kontert ihn mit der steilen Behauptung: »Eine Pflicht ist nicht einfach nur Zwang.« Als Pflicht spreche der demokratische Staat alle Bürger als gleiche an und versichere ihnen, gebraucht zu werden für »eine gerechtere, eine menschliche und nachhaltige Gesellschaft«. Damit zitiert Steinmeier (womöglich unbewusst) eine zutiefst deutsche Tradition des Gegensatzes von Pflicht und Neigung, die auf Immanuel Kant und Friedrich Schiller zurückgeht. In dieser Tradition verfällt die Neigung dem Verdacht moralischer Berechnung, – als ethisch wertvoll gilt ausschließlich die Pflicht.

    Im bei J.G. Cotta erscheinenden Musenalmanach für das Jahr 1797 unterstellt Schiller einem fiktiven Zeitgenossen, er diene zwar seinen Freunden, »doch thu ich es leider mit Neigung: Und so wurmt es mir (sic!) oft, dass ich nicht tugendhaft bin«. Es genügt also nicht, gelegentlich moralisch zu handeln oder ausschließlich dort, wo es aus Berechnung oder angesichts von Freunden leichtfällt, wie der Tübinger Philosoph Ottfried Höffe seinen Schiller paraphrasiert. Tugendhaft, also moralisch gut, darf sich erst nennen, wer auch in schwieriger Lage den moralischen Geboten folgt. Und das geht nur mit Pflicht: »Da ist kein anderer Rath, du musst suchen, sie (sc. die Neigung) zu verachten,/ Und mit Abscheu alsdann thun, wie die Pflicht dir gebeut.«

    Der Unterschied zwischen Steinmeier und Schiller liegt nicht nur in der schöneren Sprache des Dichters, sondern auch darin, dass Schiller die Pflicht als rein moralisches Gebot versteht. Dem scheint Steinmeier nicht zu trauen, weshalb er aus der moralischen Pflicht eine staatliche Zwangsverpflichtung machen will, deren Redlichkeit nun wiederum Schiller nicht trauen würde, weil der äußere Zwang die innere Motivation verschmutzt. Wer weiß dann noch, ob der Bürger sich wirklich für eine gerechtere, menschliche und nachhaltige Gesellschaft verpflichtet, oder lediglich tut, was das Machtmonopol des Staates gebeut.

    Doch wozu gebeut nun eigentlich Steinmeiers Pflicht? Oder ökonomisch gewendet: Auf welche Nachfrage soll das soziale Angebot treffen? Da wird unser Philosophenpräsident merkwürdig schmallippig. Gated Communities sollen überwunden werden, Brücken gebaut, getrennte Lebenswelten verbunden werden. Was heißt das konkret? Schickt das Präsidialamt einen Pflichttrupp nach Dresden in eine AfD-Mitgliederversammlung? Oder zu den linksextremen Terroristen. Wird eine Abordnung nach Oberbayern zum ortsnahen Aufstellen von Windrädern verdonnert? Oder zu einer Diskussionsveranstaltung mit Islamisten oder Klimaklebern? Oder sollen Rechts-Identitäre mit Links-Nonbinären gemeinsam zur Altenbetreuung geschickt werden? Ich karikiere, ich weiß. Aber man hätte es eben schon gerne konkret gewusst, wo die Nachfrage nach Brückenbauern herkommt.

    Integration durch Konflikt, nicht durch Abschmelzung von Konflikten, das war laut Ralf Dahrendorf das liberale Erfolgsgeheimnis der deutschen Nachkriegsgeschichte. Dieser Prozess läuft über die wechselseitige Anerkennung von Haltungen, Argumente oder Prägungen von Andersdenkenden und Anderslebenden. Eine Einübung darin vermittelt, wenn es gut geht, Bildung (Eltern, Schule, Vorbilder, Mentoren) – jedenfalls besser und nachhaltiger als eine soziale Zwangsverpflichtung.

    Rainer Hank

  • 06. Juni 2023
    Nützliche Illegalität

    Rupert Stadler Ex-Audi-Chef

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum sagt der Ex-Audi-Chef so komische Sachen

    Er hat es getan. Zweieinhalb Jahre, 167 Verhandlungstage lang, hat der Ex-Audi-Chef Rupert Stadler standhaft geleugnet, dass er davon gewusst habe, dass in seinen Autos eine Motorensteuerungssoftware eingebaut wurde, um die Abgaswerte zu türken.

    Nun also, am 16. Mai 2023, gesteht Stadler. Doch was hat er eigentlich gestanden? Dazu muss man sich die Formulierung anschauen, die Stadlers Verteidigerin an diesem Vormittag im Gerichtssaal abgab. »Dass möglicherweise die Beschaffenheit von Dieselmotoren nicht rechtlichen Zulassungsbedingungen entspricht«, habe er, Stadler, »nicht gewusst, aber als möglich erkannt und es billigend in Kauf genommen«.

    Dieses wunderbare Zitat, ein Kleinod der Gerichtssprache, ist im wahrsten Sinn des Wortes toll. Es hst eine juristische, eine sprachphilosophische und eine organisationssoziologische Komponente. Analysiert wurde bislang immer nur der strafrechtliche Aspekt. Demnach ist die Verklausulierung das Eingeständnis von »Betrug durch Unterlassen« und zugleich Ergebnis eines Deals mit dem Gericht, der den Angeklagten Rupert Stadler davor verschont, ins Gefängnis zu müssen und ihm zusichert, mit einer Bewährungsstrafe und einer Geldzahlung von 1,1 Millionen Euro davonzukommen. Solche Deals sind nicht unüblich. Mein von den »Zwölf Geschworenen« im Kino geprägter Laienverstand sträubt sich da. Ich denke, vor Gericht geht es um die Frage »schuldig« oder »nicht schuldig« – tertium non datur. Und ich denke, dass es da um Wahrheit und nicht um einen ökonomischen Kosten-Nutzen-Deal geht. Doch dies scheint ein naives Bild vom Strafprozess zu sein. Im Endeffekt kommt Stadler mit 1,1, Millionen billig davon; seine Jahresvergütung als CEO bei Audi betrug im Schnitt fünf Millionen Euro.

    Es regnet. Aber ich weiß es nicht

    Nun zur Sprachphilosophie. Wie kann jemand etwas nicht wissen und, was er nicht weiß, zugleich billigend in Kauf nehmen? Wissen, definiert das Lexikon, als Kenntnis haben von Fakten, Theorien oder Regeln. Stadlers Aussage vor Gericht muss man dann als Mooresches Paradox verstehen: Etwas behaupten und im gleichen Atemzug sagen, dass man es nicht glaubt (»Es regnet, aber ich glaub es nicht.«). Stadler sagt, er habe nichts gewusst, aber dann kam ihm der hypothetische Gedanke, so etwas könnte womöglich doch der Fall sein. Und für diesen hypothetischen Fall hat er sich dann in Verdacht, es billigend in Kauf nehmen. Man kann das Paradoxon also auch umgekehrt formulieren: Zweifelhaftes kann man nicht wissen. Wir befinden uns hier in einem sehr weit fortgeschrittenen Konjunktiv, der weitere Fragen provoziert. Warum sollte Stadler auf eine derart verrückte Idee kommen (Einbau von widerrechtlicher Software), wo er doch gar kein Wissen darüber hat, dass es so etwas gibt? Und warum sollte er diese Möglichkeit auch noch billigend in Kauf nehmen? Warum sollte er etwas vertuschen, von dem er gar nicht weiß, dass er es vertuschen könnte? Aus der Paradoxie gibt es kein Entrinnen.
    Gehen wir weiter zur Organisationssoziologie. Dort ist seit langem das Konzept »nützlicher Illegalität« bekannt. Der Einbau der betrügerischen Motorensteuerungssoftware war ja keine Tat böswilliger Ingenieure, die sich gegen das Unternehmen richtete, wie etwa, wenn Werkzeug oder Patente geklaut werden. Ganz im Gegenteil diente der Gesetzesbruch dazu, VW, Audi & Co. Vorteile am Markt zu verschaffen. Man täuschte vor, Abgasnormen einzuhalten, die man weder einhalten konnte noch einhalten wollte. Solche Verstöße sind nützlich und funktional im Sinne des Unternehmenszwecks: Man handelt gesetzeswidrig, aber für einen guten Zweck im Sinne der Firma (jedenfalls so lange, wie die die Sache nicht auffliegt).

    »Das will ich gar nicht wissen«

    Wie werden ganz praktisch solche kriminellen Handlungen angeordnet? Sicher nicht derart, dass es einen Ukas, mündlich oder schriftlich, des obersten Chefs gibt, von der nächsten Modellreihe an Schummelsoftware in die Autos einzubauen. Eher doch wohl so, dass da plötzlich der ein oder andere Vorschlag des ein oder anderen Technikers im Raum steht, wie man die gesetzlichen Abgasanforderungen mit dem ein oder anderen Trick erfüllen könne (niemand würde das eine »illegale Handlung« nennen), ohne sich daran halten zu müssen. Der Chef steht mit dabei, hört zu und sagt dann Sätze wie: »Das will ich alles gar nicht wissen.« Oder: »Das will ich jetzt gar nicht gehört haben.« Die Botschaft des Chefs an die Mitarbeiter ist klar: Macht mal, aber lasst mich da raus. Er kann dann später »guten Gewissens« immer sagen, er habe von nichts gewusst.
    Ich weiß natürlich nicht, wie es wirklich war. Doch jeder, der schon einmal in einem Unternehmen gearbeitet hat, kennt solche Chef-Sätze. Genau diese Art des Nichtwissens scheint mir, soziologisch gesehen, im Fall des Stadler-Geständnisses vorzulegen. Er hat sich gehütet, etwas zu wissen (könnte ja sein, man steht später einmal vor Gericht und braucht einen Deal). Aber das, was er zu wissen sich gehütet hat, hat er »als möglich erkannt und billigend in Kauf genommen«. Die Botschaft wurde verstanden. Immer wieder wird gesagt und geschrieben, bei VW und Audi habe es ein autoritäres System von Befehl und Gehorsam der Herren Winterkorn und Stadler gegeben. Eher ist das Gegenteil der Fall, vermute ich: Es brauchte gerade keine autoritären Befehle. Eine auf Vertrauen und Loyalität aufgebaute Unternehmenskultur ist wie gemacht für nützliche Illegalität.
    Der Bielefelder Soziologe Stefan Kühl erforscht seit langem das System nützlichen Regelbruchs in Organisationen. Sein 2020 im Campus-Verlag erschienenes Buch »Brauchbare Illegalität« macht plausibel, dass Regelverstöße nicht die Ausnahme (Skandal, Skandal!), sondern die Regel sind. Regelbruch als Regel – getreu dem Diktum von Wilhelm Busch: »Tugend war zu jeder Zeit/nur Mangel an Gelegenheit.«

    Kühl macht sich Gedanken, wie man solche nützlichen Regelverstöße eindämmen kann. Keinesfalls durch Skandalisierung oder Moralisierung, findet der Soziologe. Ethikrichtlinien und dergleichen dienen den Chefs nur umso mehr als Rechtfertigung dafür, dass man alles unternommen habe, um einer Organisationskultur entgegenzuwirken, durch die Mitarbeiter zu Gesetzesverstößen ermutigt werden. Die Führung ist dann fein raus und kann schweigend billigend in Kauf nehmen. Die einzige Möglichkeit, Regelabweichungen in Unternehmen zu thematisieren, bestünde in einer konsequenten Entmoralisierung, findet Kühl. Er setzt auf »kommunikative Nischen«, in denen über spezifische Regelabweichung gesprochen wird. Das klingt vernünftig. Aber ist es auch realistisch? Kaum. Eher bleibt es auch künftig bei der Paradoxie von Nichtwissen und stillschweigender Billigung dessen, was man nicht weiß.

    Rainer Hank