Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
04. Dezember 2024Ein Hoch auf Pharma
04. Dezember 2024Mit Unsicherheit leben
15. November 2024Zwangsarbeit
05. November 2024Totaler Irrsinn
18. Oktober 2024Arme Männer
14. Oktober 2024Christlicher Patriotismus
08. Oktober 2024Im Paradies der Damen
28. September 2024Von der Freiheit träumen
28. September 2024Reagan hätte nie für Trump gestimmt
10. September 2024Das Ende der Ampel
16. Januar 2024
Israel in die EUHightech Reichtum, bittere Armut und ein Funken Utopie
Israel sollte die Mitgliedschaft in der EU angeboten werden. Dies hat Michal Brumlik, ein deutsch-jüdischer Intellektueller, vor ein paar Jahren vorgeschlagen. Deutschland könnte dabei eine federführende Rolle spielen. Noch mehr als die Türkei mit ihren osmanischen Wurzeln sei der Staat Israel von Europa kulturell geprägt, so Brumlik.
Auf den ersten Blick klingt die Idee absurd. Erst recht in diesen Zeiten. Aber eben nur auf den ersten Blick.Nun wissen wir nicht, ob Israel überhaupt an einer EU-Mitgliedschaft interessiert wäre. Oder womöglich lieber der 51. Staat der Vereinigten Staaten von Amerika würde, sollte ein alternatives Angebot aus Washington vorliegen. Zudem weiß ich nicht, ob zu den Voraussetzungen einer EU-Mitgliedschaft zwingend gehört, dass das Land geographisch zu Europa gehört. Sachlich zwingend ist es keineswegs: Man konnte Mitglied der Hanse werden, einem Freihandelsbündnis in der frühen Neuzeit, wiewohl die Städte weit auseinanderlagen zwischen Westeuropa und Russland und keine gemeinsame Grenze hatten. Man konnte auch dem »Heiligen römischen Reich deutscher Nation« angehören, wiewohl weder römisch noch deutsch. Stattdessen waren gleichlaufende politische und ökonomische Interessen Voraussetzung für die Aufnahme in das Bündnis.
Hinzu kommt: Wirtschaftlich und politisch könnte Israel viel schneller die Voraussetzung für eine EU-Mitgliedschaft erfüllen als die Ukraine, wo demnächst Beitrittsverhandlungen eröffnet werden sollen. Im »Economic Freedom Index«, einem anerkannten Maß für wirtschaftlichen Erfolg, offene Märkte und Rechtsstaatlichkeit, belegt Israel den Platz 34, während die Ukraine viel weiter hinten auf Platz 130 rangiert. Der Staat Israel ist seit 2010 auch Mitglied der OECD, dem Club der reichen Industriestaaten der Welt: Als Voraussetzung gelten marktwirtschaftliche und demokratische Strukturen sowie die Achtung der Menschenrechte. Freier Wettbewerb und Freihandel müssen anerkannt und weitgehend umgesetzt sein.Israel ist eines der faszinierendsten Wirtschaftswunder der letzten hundert Jahre. Um Strecken eindrucksvoller als unser gleichnamiges Wunder nach dem zweiten Weltkrieg. Während es hierzulande nach dem Krieg bereits eine Industrielandschaft gab, die rasch wieder aufgebaut werden konnte und eine Arbeiterschaft samt technischer Intelligenz, die an der Vorkriegszeit anknüpfen konnte, fanden die jüdischen Einwanderer im frühen 20. Jahrhundert Palästina als ein Land vor, in dem die Menschen unter dem osmanischen Reich in relativer Armut lebten. Das Heilige Land war wirtschaftlich gesehen kein gesegnetes Land. Eine Industrialisierung, die seit dem 19. Jahrhundert der westlichen Welt großen Wohlstand brachte, hatte dort nicht stattgefunden.
Die israelische Erfolgsgeschichte
Kollektive und kooperative Unternehmungen (»Kibbuzim«) spielten entsprechend der sozialistisch-zionistischen Ideologie in der Frühzeit der Besiedlung eine große Rolle. Bis Mitte der dreißiger Jahre waren jüdische und arabische Wirtschaftsstrukturen miteinander verknüpft. Erst ein arabischer Aufruhr zum Boykott der jüdischen Wirtschaft von 1936 zwang den »Jischuv«, das jüdische Gemeinwesen in Palästina, eigenständige wirtschaftliche Strukturen auszubilden.
Der arabische Wirtschaftsboykott wurde – gegen seine Absicht – zum Auslöser der israelischen Wohlstandsgeschichte. Während die Palästinenser in relativer Armut verharrten. Und die Ungleichheit zwischen Israelis und Palästinensern immer größer wurde. »Die schiere Ungleichheit zwischen einem durchschnittlichen Palästinenser und einem durchschnittlichen Israel ist atemberaubend« – so beschrieb es der palästinensisch-amerikanische Intellektuelle Edward Said in einer Lecture zum Thema »Macht und Ungleichheit« an der amerikanischen Universität von Kairo im Jahr 2003. Said fügte hinzu: Diese dramatische ökonomische Ungleichheit sei außerhalb der Region weithin unbekannt.
Das lässt sich mit Zahlen untermauern. In nur gut vierzig Jahren, zwischen 1980 und 2023 stieg das israelische Prokopfeinkommen von 6 600 Dollar auf inzwischen 57 000 Dollar. Damit gleicht der dortige Wohlstand dem unseren. Dagegen verharrt Palästina in Armut bei bei 3 600 Dollar. Entscheidend ist, dass Israel sich seit 1990 von einer landwirtschaftlich dominierten Wirtschaft (»Jaffa-Orangen«) zu einem wettbewerbsfähigen Telekommunikations-, Hightech- und Startup-Land entwickelt hat. Die Bevölkerung wuchs vor allem infolge der großen Einwanderungswelle in den neunziger Jahren aus den Republiken der Sowjetunion, zu großen Teilen gut ausgebildete technische Intelligenz, von 4,7 auf inzwischen über neun Millionen Einwohnern. Nirgends in der Welt ist die Geburtenrate so hoch wie in Israel. Migration und Bevölkerungswachstum sind kein Problem, sondern Bedingung des Erfolgs.
Amsterdam zwischen Beitur und Gaza
Das führt zurück zur scheinbar absurden Ausgangsfrage – einem Angebot an Israel, der EU beizutreten. Tatsächlich passt das Land ökonomisch und kulturell viel besser in die EU (oder eben nach USA) als in den Orient. Das hängt zusammen mit der der europäischen Tradition des Zionismus. Der Journalist und Buchautor Ari Shavit (»Mein gelobtes Land«) hat diese Paradoxie kürzlich in einem Essay im »Times Literary Supplement« so beschrieben: »Die Israelis haben sich selbst davon überzeugt, dass sie zwischen Beirut und Gaza das Leben von Amsterdam leben könnten.« Die palästinensisch-orientalische Umgebung haben sie dabei so weit es ging ignoriert (um es vorsichtig zu sagen).
Die bittere Pointe, so Shavit: Israel ist (auch) unschuldiges Opfer seines Erfolgs geworden. Es hat die Augen verschlossen vor der wachsenden Ungleichheit gegenüber seiner Umwelt und den Millionen von Palästinensern, die in bitterer Armut und Hoffnungslosigkeit leben. Die Terroristen der Hamas haben Israel am 7. Oktober 2023 daran erinnert. Das Massaker richte sich gegen die westlichen (europäischen) Gesellschaften und die Werte der freien Gesellschaften. Die Hamas kämpfe nicht gegen Israel als Unterdrücker, sondern gegen Israel als liberale und kapitalistische Demokratie, so Shavit.Wirtschaftlicher Erfolg hängt weder an geografischen noch ethnischen noch kulturellen Voraussetzungen. Die israelischen Siedler waren Anfang des 20. Jahrhundert so arm wie die Palästinenser. Singapur war 1960 so arm wie Gaza. Umgekehrt war Palästina in der Antike eine reiche Hochkultur. Nicht zuletzt Gaza hatte eine Vergangenheit der Prosperität in der Spätantike, von der großartige Mosaiken zeugen. Damals stießen die Handelsstraßen aus Arabien dort an die Mittelmeerküste. Es war eines der letzten Zentren des Heidentums mit einer hochentwickelten Kultur.
Und heute? Es ist ein Jammer.Rainer Hank
03. Januar 2024
Das Odysseus-PrinzipWarum die Schuldenbremse zeitgemäß ist
Für einen Minister ist es sehr verführerisch, das Mittel der Staatsschulden zu benutzen, das ihn in den Stand setzt, während seiner Verwaltung den großen Mann zu spielen, ohne das Volk mit Steuern zu überladen oder eine sofortige Unzufriedenheit gegen sich zu erregen. Die Praxis des Schuldenmachens wird daher fast unfehlbar von jeder Regierung missbraucht werden. Es würde kaum geringere Klugheit offenbaren, einem verschwenderischen Sohne bei jedem Bankgeschäft Kredit zu geben, als einen Staatsmann zu ermächtigen, in einer derartigen Weise Wechsel auf die Nachkommen zu geben.
Man könnte meinen, hier urteile jemand über die Minister der heutigen Ampelregierung, wüsste man nicht, dass die Aussage aus dem Jahr 1741 von dem schottischen Aufklärer David Hume stammt. Die Ampel ist angetreten, den »großen Mann« (sagen wir korrekt: Mann und Frau) zu spielen, die Ausgaben für Soziales, Verteidigung und Klima-Transformation zu erhöhen und die Finanzierung uns Bürgern zu ersparen. Stattdessen macht man Schulden. Hätte es den zum Klimafonds umgewidmeten 60–Milliarden-Coronafonds nicht gegeben, hätte der CO2–Preis an den Tankstellen deutlich stärker und schneller steigen müssen als jetzt. Das hätte den Bürgern gezeigt, dass es nicht nur klimagemäß, sondern auch finanziell geboten ist, das fossil betriebene Auto zu verschrotten, sich ein Fahrrad und E-Auto anzuschaffen und häufiger mit der (unpünktlichen) Bahn zu fahren. Das wiederum hätte, mit Hume zu reden, bei den Bürgern »sofortige Unzufriedenheit« erregt und womöglich der AfD noch mehr Stimmen zugeführt als ohnehin schon.
Weil Minister viele Anreize haben, die »fiskalische Allmende« zu übernutzen, ließ das deutsche Parlament im Jahr 2001 mit einer Zweidrittelmehrheit die Schuldenbremse in das Grundgesetz schreiben. Diese besagt: In der Regel soll der Staat keine Schulden machen, sondern mit seinen Steuern auskommen. Doch ist die Bremse nicht so starr, wie jetzt viele behaupten: Die Regierung darf im konjunkturellen Abschwung bis zu einem gewissen Grad Defizite hinnehmen, wie sie umgekehrt in einer Hochkonjunktur Überschüsse durch unerwartete Steuereinnahmen erhält. Beide Effekte sind gegenläufig und stabilisieren so die Konjunktur; sie wirken als sogenannte »automatische Stabilisatoren«. Zudem sind jährliche Neukredite in Höhe von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erlaubt.
»Damit ich kein Glied zu regen vermöge«
Die Idee ist uralt. Als ihr Erfinder darf der Dichter Homer aus dem achten Jahrhundert vor Christus gelten. Im 12. Gesang der Odyssee muss das Schiff des Odysseus zwischen Skylla und Charybdis hindurch navigieren. Dort befinden sich Sirenen, Fabelwesen, die durch ihren betörenden Gesang Schiffer anlocken, um sie zu töten. Weil Odysseus dies weiß und seine Verführbarkeit kennt, weist er seine Besatzung an, ihn zu binden, »damit ich kein Glied zu regen vermöge -, aufrecht stehend am Maste, mit festumschlungenen Seilen.« Vorsichtshalber fügt er hinzu: »Fleh ich euch aber an, und befehle die Seile zu lösen, eilend fesselt mich dann mit mehreren Seilen noch stärker.« So kommt es dann auch: Als Odysseus die betörenden Sirenen hört, erfüllt ihn »heißes Verlangen«. Er befiehlt den Freunden, seine Bande zu lösen – »doch hurtiger ruderten diese.« Das ist die Rettung des Odysseus und seiner Mannschaft.
Es ist jenes von Homer erfundene Prinzip »freier Selbstbindung«, das sich hinter der Schuldenbremse verbirgt. Es weiß um das »heiße Verlangen« der Politiker, den »großen Mann« zu spielen und lässt dies von der Verfassung unterbinden. Das könnte für Politiker entlastend sein. Denn sie können den Bürgern sagen, eigentlich wollen wir euch weitere Wohltaten zuteilwerden lassen. Aber leider dürfen wir das nicht, weil es in der Verfassung die Schuldenbremse gibt. Die Notwendigkeit fiskalischer Disziplin wird an eine verpflichtende Institution, die Verfassung, delegiert, über deren Einhaltung die Verfassungsrichter wachen. Der Ertrag, den die fiskalische Selbstbindung verspricht, ist positiv: Zwar ist es für Politiker rational, sich einem Rausch der Staatsausgaben hinzugeben. Doch damit laufen sie Gefahr, das Vertrauen bei den Bürgern zu verspielen, was mit der Strafe ausbleibender Wiederwahl geahndet würde. Im Übrigen ist die Schuldenbremse kein Einzelfall. Auch die früher Maastrichtkriterien genannten europäischen Fiskalregeln funktionieren so: Die Staaten des Euro-Raums verpflichten sich, ihr Staatsdefizit nicht über 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufzublähen.
Anders als Odysseus halten Politiker die Selbstbindung offenbar nicht aus. Maastricht steht seit langem nur noch auf dem Papier. Die angedrohten Strafen für einen Verstoß werden nicht durchgesetzt. Seit dem Urteil der Verfassungsrichter zur Schuldentrickserei zünden unsere Politiker ein rhetorisches und moralisches Feuerwerk gegen die Schuldenbremse. Sie passe nicht mehr in die Zeit, heißt es. In Wahrheit passt sie Politikern nicht in den Kram. Jetzt soll plötzlich unsere Verfassung schuld daran sein, dass die deutsche Wirtschaft den Bach runter geht, der Sozialstaat erodiert und die Klimaziele verfehlt werden. Besonders eindrucksvoll ist der drohende und beleidigte Ton, dem sich der sonst so sanfte Wirtschaftsminister verschrieben hat. Viele wollen die Schuldenbremse jetzt aushöhlen, »Zukunftsinvestitionen« vom Verschuldungsverbot ausnehmen, worunter trickreich alles subsumiert würde, und die Schuldenbremse faktisch abgeschafft wäre. Willfährige Ökonomen leisten mit verfassungsfeindlichen Bemerkungen Schützenhilfe: Wir hätten »kein ökonomisches Schuldenproblem, sondern ein juristisches Schuldenbremsenproblem«, tönt es. Dabei waren es gute politökonomische Gründe (»fiskalische Allmende«), die zur Einführung der Schuldenbremse führten: Das Wissen, dass der Staat nicht nur Probleme löst, sondern auch Probleme schafft, wovor er sich selbst und uns Bürger schützen muss.
In György Ligetis Oper »Le grand Macabre«, die man derzeit in einer großartigen Inszenierung in Frankfurt und parallel auch in Wien sehen kann, einem besoffen-apokalyptischen Spektakel, tritt im dritten Bild Fürst Go-Go auf und ermuntert seine Staatsdiener –den »weißen Minister« und den »schwarzen Minister« – doch die Interessen der Nation über ihre Eigeninteressen zu stellen. Der Fürst beruft sich dafür auf die Verfassung. »Verfassung?«, höhnen der »weiße Minister« und der »schwarze Minister«. Und beantworten ihre rhetorische Frage gleich selbst: Nicht mehr als geduldiges »Papier« sei diese Verfassung, singen sie und lachen sich halbtot. Wäre ich ein fiskal-sensibler Opernintendant würde ich den deutschen Politikern eine Sonderaufführung des »Grand Macabre« spendieren. Diese »Zukunftsinvestition« könnte sich rechnen.
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Rainer Hank
18. Dezember 2023
What's left?Ist der Traum der Linken ausgeträumt?
Die Linke, das ist nun nicht mehr neu, hat Probleme. Ihr ist die Utopie verlorengegangen. Ihre Theoretiker vertreten nur noch realitätsferne Ideen; über die wirklichen Probleme der Welt, die von der Geschichte, nicht von der Theorie beherrscht werden, haben sie kaum noch etwas zu sagen.
Nein, der erste Absatz dieser Kolumne stammt nicht von mir oder von Sahra Wagenknecht. Es ist keine Beschreibung des Zustandes der deutschen oder europäischen Linken im Jahr 2023. Die Sätze sind dreißig Jahre alt und findet sich in einem als »Rotbuch Taschenbuch No. 78« erschienenen und von dem FAZ-Redakteur Henning Ritter herausgegebenen Sammelbändchen, das mir kürzlich wieder in die Hände fiel und den Titel trägt »What´s left?: Prognosen zur Linken.« Autor des zitierten Essays ist der (sozial)liberale Soziologe und FDP-Politiker Ralf Dahrendorf, der damals Rektor des St’Antony’s College in Oxford war.
Dahrendorfs Diagnose mündet in eine harte These: Die Linke befinde sich auf dem Weg in die Irrelevanz. Dabei komme es nicht darauf an, was ihre belanglosen Theoretiker erfänden und erörterten. »Irrelevanz ist eben Irrelevanz«, so Dahrendorf.
Nur zur Erinnerung: Die SPD verfügte damals im deutschen Bundestag über satte 33 Prozent der Mandate. Ein paar Jahre später gelang es dem heute vielgeschmähten Gerhard Schröder mit über 40 Prozent die amtierende schwarz-gelbe Bundesregierung abzulösen und die erste rot-grüne Regierung zu bilden. Heute käme die SPD im Bund auf 17 Prozent, drei Prozentpunkte weniger als die rechte »Alternative für Deutschland«. In einigen Bundesländern ist die SPD noch nicht einmal zweistellig. Und die Partei »Die Linke«, die sich einstmals von der SPD abgespalten hat, zerlegt sich gerade selbst, demissioniert als Fraktion im Bundestag und hätte nicht die geringste Chance, dorthin wieder einzuziehen.
Mission accomplished
Wenn vor 30 Jahren also schon der Weg in die Irrelevanz vorgezeichnet war, müsste man heute Vollzug melden und Unsichtbarkeit diagnostizieren. Das kann nun auch für Liberale und Konservative kein Grund zur Freude sein, dass der Gegner nicht etwa im Wettbewerb um die besseren politischen Konzepte unterlegen wäre, sondern einfach verschwindet. Das Pathos der französischen Revolution »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« lebte stets davon, dass die unterschiedlichen politischen Strömungen diese Trias mit unterschiedlichen Prioritäten akzentuierte hatte. Jetzt ist die Balance gestört.
Viele Hypothesen, die die Gründe für das Verschwinden der Linken diagnostizieren, sind im Angebot. Ich nenne drei davon, die mir besonders einleuchten.
Erstens: Die Linke hat sich zu Tode gesiegt. Ihr Aufstiegsversprechen hat sich erfüllt. Der Sohn eines Tischlers und einer Fabrikarbeiterin ist jetzt Bundespräsident. Er heißt Frank-Walter Steinmeier, empfängt die schwedische Kronprinzessin und nimmt die 102jährige Holocaust-Überlebende Margot Friedländer in den Arm, ein anrührendes Bild. Das Fortschritts-Junktim von sozialer Gerechtigkeit und Wohlstand, Utopie der Nachkriegsjahre, ist Realität. Jeder, der will, kann studieren und dafür Bafög oder ein Stipendium bekommen. Jeder, der will, findet einen Job. Wer von Zufall und Geburt weniger privilegiert wurde, dem bietet der Sozialstaat einen Ausgleich an: Jeder dritte Euro im Bundeshaushalt wird für Soziales ausgegeben. Die Umverteilung funktioniert. Wofür braucht es dann noch Sozialdemokraten?Die Zu-Tode-gesiegt-Hypothese entlastet die Linken. Es wäre dann gerade ihr Erfolg, der sie überflüssig gemacht hat. Mission accomplished. Gut, sie wollten ursprünglich einmal mehr, den Kommunismus einführen, das Privateigentum abschaffen und die Wirtschaft dem Staat anvertrauen. Aber von solchen Sachen haben sie sich zum Glück verabschiedet.
Zweitens: Angesichts ihrer Arbeitslosigkeit auf dem Feld der sozialen Gerechtigkeit hat die Linke sich seit einigen Jahren nach einem neuen Geschäftsmodell umgesehen. Es heißt Identitätspolitik. Das ist ihr nicht bekommen und von den Wählern nicht goutiert worden. Sogenannte Wokeness – der Kampf gegen Sexismus, Homophobie, Rassismus und Kolonialismus – dominiert heute das Weltbild vieler Linker. Das wäre ja noch in Ordnung. Doch ehe sie sich versah, mauserte sich die linke Identitätspolitik zu einer Kritik am Universalismus der europäischen Aufklärung, die nun selbst als rassistisch, kolonialistisch und eurozentristisch bekämpft werden müsse. Dass dies schnurstracks in »linken« Antisemitismus mündet, wird seit dem 7. Oktober besonders deutlich. Damit hat sich diese Spezies der Linken endgültig von ihrem humanistischen Fortschrittsethos verabschiedet.
Migration oder Sozialstaat?
Drittens: Dass großzügige Einwanderung und ein funktionierender Rechts- und Sozialstaat schwer unter einen Hut zu bringen sind, hat die Linke lange Zeit übersehen. Rein rhetorisch gibt es da auch kein Problem. Sozialwissenschaftler wissen indes: Je mehr Ausländer in einer Gesellschaft leben, umso geringer wird die Bereitschaft, zugunsten der Armen umzuverteilen. Ein hoher Grad an gesellschaftlicher Homogenität scheint die Voraussetzung für einen funktionierenden Sozialstaat zu sein. Diese Einstellung kann man moralisch verurteilen, weil sie die Utopie des Universalismus kränkt, dadurch verschwindet sie aber nicht. Wer der Meinung ist, von Migration profitierten letztlich alle, müsste den Sozialstaat weniger großzügig ausstatten. Das könnte eine liberale Lösung sein. Wer den Sozialstaat weiter ausbauen will, muss Migration einschränken. Das ist die Lösung der AfD, der sich die neue Partei von Saha Wagenknecht mutmaßlich anschließen will. Sie wird dafür viel gescholten, zu Unrecht, wie ich finde: Es ist seit langem wieder ein ernst gemeinter Versuch, die Linke aus ihrer Irrelevanz herauszuführen.
Wer wäre ich, mir anzumaßen, auf 180 FAS-Zeilen eine Lösung anzubieten. Bin ja auch nicht als Berater der Linken angeheuert worden. Ein paar Dinge scheinen mir aber schon klar zu sein. Woke ist nicht links, wie die jüdische Philosophin Susan Neiman zurecht sagt. Also Abschied von der Identitätspolitik. Und Abschied von der Apokalyptik. Die kann die Linke getrost den Grünen und ihren moralistischen Klimakämpfern überlassen. Was dann bleibt, ist das überkommene Kerngeschäft, Gerechtigkeit, Wohlstand und Fortschritt für alle politisch zusammen zu bringen. Auch das Thema Ungleichheit gehört noch lange nicht in die Ablage – dabei geht es für meinen Geschmack weniger um Einkommens- oder Vermögensungleichheit (Erbschaften), sondern um die wachsende Kluft zwischen den kosmopolitischen Eliten der großen Städte und dem Elend auf dem Land und in den ehemals stolzen Kleinstädten. Zu Anschauung empfehle ich nach Einbeck zu fahren, südliches Niedersachsen. Oder nach Meßkirch, westliches Oberschwaben.
Rainer Hank
29. November 2023
Allahu AkbarGibt es einen Zusammenhang zwischen Religion und Terror?
Viele Terroristen der Hamas, so wird es berichtet, hatten bei ihrem barbarischen Massaker am 7. Oktober in Israel den Schlachtruf »Allahu Akbar« auf den Lippen. Das bedeutet: »Gott ist größer«. Die Vermutung liegt nahe, der Terror habe sich auf diese Weise einer religiösen Legitimation versichert. Dies überhöht die böse Tat und gibt ihr einen theologischen Sinn: Es wäre dann der Wille Gottes, die Juden auszurotten und Palästina »zu befreien« (»From the river to the see«).
Trägt der Nahostkonflikt Züge eines Religionskrieges? Führt der Absolutheitsanspruch vieler Religionen zu Mord, Totschlag und Barbarei? Der jüdische Historiker Michael Brenner sagte jüngst in einem FAZ-Interview, das religiöse Element werde allenthalben stärker. »Wenn jüdischer Messianismus und Islamismus aufeinandertreffen, gibt es keine Kompromisse. Beider Wahrheitsanspruch ist absolut.«
Die religiös-ideologische Überhöhung kriegerischer Verbrechen ist nicht neu. In Bertolt Brechts »Mutter Courage«, einem Drama, das im dreißigjährigen Krieg spielt und 1941 im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt wurde, tritt ein »Feldprediger« auf. Sein Dialog mit dem Koch der Soldatentruppe geht so:
»DER FELDPREDIGER: Werden Sie nicht gerührt, Koch. In dem Krieg fallen ist eine Gnad und keine Ungelegenheit, warum? Es ist ein Glaubenskrieg. Kein gewöhnlicher, sondern ein besonderer, wo für den Glauben geführt wird, und also Gott wohlgefällig.
DER KOCH: Das ist richtig. In einer Weis ist es ein Krieg, indem daß gebrandschatzt, gestochen und geplündert wird, bissel schänden nicht zu vergessen, aber unterschieden von alle andern Kriege dadurch, daß es ein Glaubenskrieg ist, das ist klar.«Eine Wallfahrt macht Menschen friedlich
Eigentlich wollte ich in dieser Kolumne mein Vorurteil bestätigen (wer will das nicht gerne), dass Religionen, ihrer Friedensbotschaft zum Trotz, Hass, Zwietracht sähen und Gewalt und Leid in die Welt bringen. Und dass der Islam die Welt vereindeutigen will, weil Mehrdeutigkeit schwer auszuhalten ist: Mörder werden als Märtyrer gefeiert. Ambiguitätstoleranz, eine zivilisatorische Errungenschaft, und Absolutheitsansprüche, ein archaisches Erbe, passen eben nicht zusammen.
Wäre das die ganze Wahrheit, müsste man Religionen bekämpfen oder zumindest im Sinne des Aufklärers Thomas Hobbes politisch unschädlich machen, um die Menschheit zu zivilisieren. Doch ganz so einfach (und schrecklich), wie es zunächst scheint, ist der Zusammenhang zwischen Religion, Krieg und Terrorismus nicht. Mouhanad Khorchide, Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Münster, verwahrt sich dagegen, dass es Allahs Wille sei, jüdische Menschen abzuschlachten. »Allahu Akbar« werde als Schlachtruf missbraucht, sagt er. Das sei unislamisch. Das Bekenntnis, dass Gott größer ist, sei in Wahrheit ein Aufruf zu Mäßigung und nicht zu Radikalisierung. Allah zu vereinnahmen, werde vom Islam also verboten. Was freilich unzählige religiös ungebildete Imame nicht hindere, genau dieses böse Geschäftsmodell mit Erfolg zu betreiben.
Inzwischen haben auch die Ökonomen begonnen, den Zusammenhang von Terror, Religion und wirtschaftlicher Benachteiligung zu erforschen. Berühmt geworden ist eine Untersuchung des amerikanischen Ökonomen David Clingingsmith, der zusammen mit Kollegen die Auswirkung der religiös vorgeschriebenen Wallfahrt nach Mekka (»Haddsch«) auf muslimische Pilgergruppen aus Pakistan studierte. Es liegt nahe, hier einen radikalisierenden Effekt zu vermuten, zumal bekannt ist, dass einige der islamistischen Terroristen, die am 7. Juli 2005 einen Anschlag auf die Londoner U-Bahn verübten, zuvor eine Pilgerreise nach Mekka unternommen hatten.
Doch die Haddsch-Studie der Ökonomen hat das Radikalisierungs-Vorurteil gründlich falsifiziert. Die Pilger kamen friedlicher aus Mekka zurück als sie aufgebrochen waren und zeigten sich religiös sanfter im Vergleich mit denen, die nicht dabei waren. Antipathien und Aggressionen gegenüber Ungläubigen sind nicht etwa größer geworden, sondern nahmen ab. Dagegen wuchs der Glaube an die Notwendigkeit von mehr Gleichheit zwischen ethnischen Gruppen. Und das Bekenntnis zu Frieden und Harmonie unter den Religionen. Ein Ergebnis, an dem Lessings »Nathan der Weise« seine wahre Freude gehabt hätte.
Sonnenfinsternis und Hexenverbrennung
Der Freiburger Ökonom Tim Krieger, dem ich den Hinweis auf die Haddsch-Studie verdanke, beschäftigt sich seit langem mit dem Thema. In einem aktuellen Forschungspapier zeigt er, dass vom Mittelalter bis zur Aufklärung Kriege, antisemitische Pogrome und Hexenverfolgungen stets in solchen Jahren zunahmen, denen einen Sonnenfinsternis vorausgegangen war. Eine Sonnenfinsternis galt damals als Zeichen des Übernatürlichen und Wink des Göttlichen. Dies wiederum konnte von den Mächtigen in der Politik als religiöser Kitt instrumentalisiert werden, die Ungläubigen (Juden und Muslime) zu bekriegen und Ketzer und »Hexen« zu bekämpfen. Strategisch gesehen stärkt Religion die Kampfesmoral.
Doch noch einmal: Der Zusammenhang zwischen Religion und Gewalt ist nicht so eindeutig, wie es scheint. Im Kern geht es bei Religionen um Hilfen zur Bewältigung von Kontingenz durch ein Angebot, dem Leben einen Sinn zu geben. Es geht eben nicht um Gewalt und Terror. Doch seit den Anfängen der Menschheit bot Religion sich auch dazu an, von Herrschern, Führern, Päpsten (Kreuzzüge) oder Imamen instrumentalisiert zu werden zur moralischen Aufrüstung von Kriegern und Terroristen. Ob das ein Missbrauch ist oder den Religionen (Absolutheitsanspruch) wesensmäßig eignet, vermag ich nicht zu entscheiden.
Tim Krieger äußert die Vermutung, dass Religiosität immer dann eine problematische Wirkung hat, wenn die politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Rahmenbedingungen eines Landes schlecht sind. Daraus könnte man dann zumindest folgern, dass Sozial- und Entwicklungspolitik ein Mittel zur Pazifizierung von Gruppen ist, die auf diese Weise weniger anfällig dafür würden, sich in Kriege und Massaker schicken zu lassen und dies dann auch noch als religiös-gebotenen Auftrag eines Gottes camouflieren. Das könnte ein Hinweis dafür sein, warum es hierzulande weniger radikalisierten Islamismus gibt als in den französischen Banlieues.
In Gaza scheint das freilich so nicht zu funktionieren: Ziemlich viel Entwicklungshilfegeld aus den Golfstaaten wie aus der EU brachte ganz offenbar keine nennenswerte Verbesserung des Wohlstands. Schlimmer noch: Hamas muss seinen (sozial-)staatlichen Verpflichtungen gegenüber der eigenen Bevölkerung weniger nachkommen, wenn diese Aufgaben durch ausländische Hilfe finanziert werden. Das spart Geld, das anderweitig mit tödlichen Folgen eingesetzt und dann auch noch als Auftrag Gottes ausgegeben werden kann.
Rainer Hank
21. November 2023
Frau unter MännernWie erzählt man (s)ein Leben?
Seit Ende Oktober hat die IG Metall eine neue Führung: Eine Frau. Sie heißt Christiane Benner, ist 55 Jahre alt. Und »seit 130 Jahren die erste Frau an der Spitze der größten deutschen Gewerkschaft«.
Ich habe mir das Vergnügen gemacht, (fast) alle Porträts zu lesen, die vor und nach dem Wahlgewerkschaftstag der IG Metall über Frau Benner erschienen sind. Warum macht man so etwas? Ein bisschen aus Nostalgie. In den 90er Jahren gehörte die Gewerkschaftsberichterstattung zu meinen journalistischen Pflichten. Die IG Metall war meine Lieblingsgewerkschaft: Klassenkampf mit den Instrumenten der Tarifpolitik – auf diese Weise hatten die Metaller die höchsten Löhne in der deutschen Industrie und die 35–Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich durchgesetzt. Es waren starke Männer, die diese Gewerkschaft prägten. Sie heißen Otto Brenner oder Franz Steinkühler. Verdammt lang her.
Nun also Frau Benner. Eine Frau schleift eine der letzten Männerdomänen in der deutschen Wirtschaft. Kein Porträt über die Neue ließ sich diese naheliegende Pointe entgehen, die Klügeren notierten immerhin mit Distanz, dass das auch ein Klischee sein könnte. Das machte mich neugierig: Wie erzählt man ein Leben so, damit es interessant wird? Einfach zu sagen, die Frau hat eine ganz normale Karriere gemacht und es mit Fortüne, Begabung und einer gehörigen Portion Machtwillen in ihrer Organisation nach oben geschafft, wäre mit Sicherheit näher an der Wahrheit. Aber auch ziemlich langweilig. Deshalb müssen gute Geschichten (heute sagt man: Narrative) her: die liefern in der Regel professionelle Erzähler (Pressestellen, PR-Agenturen, Journalisten), die sich orientieren an naheliegenden Konstruktionsschemata darüber, wie das Leben so spielt. Also etwa: »Vom Aufstieg und Fall.« So laufen derzeit die Porträts über den Immobilieninvestor René Benko (hierzulande ergänzt durch den Hinweis, der Mann habe ja nicht mal Abitur. Kein Wunder, kann ja nicht gut gehen!). Oder: »David besiegt Goliath.« (»Wie der unbekannte Elon Musk sich mit der gesamten Autoindustrie anlegt und am Ende selbst ein Goliath wird«).
Christiane Benner, IG Metall
Im Fall von Christiane Benner habe ich zwei Narrative gefunden. Erstens, wie gesagt: Einbruch in die Männerwelt. Zweitens: Aufstieg gegen die Widrigkeiten einer unfairen und ungleichen Gesellschaft.
Beginnen wir mit dem Einbruch in die Männerdomäne. Dazu gehört unbedingt: Die bösen Männer setzen alles daran, der Frau auf dem Weg nach oben Prügel in den Weg zu legen. »Was musste die Frau für Widerstände überwinden, nur weil sie eine Frau ist«, lese ich in der »Süddeutschen Zeitung«. Der Beleg für diese schwere Schicksal: Man habe versucht, sie »wegzuloben« an die Spitze des Deutschen Gewerkschaftsbundes DGB. Donnerwetter! Welch eine Biestigkeit. Das wäre gerade so, als würde man den Aspiranten auf einen Bischofssitz in den Vatikan wegloben und als Papst ins Gespräch bringen.
Sagen wir es so: Es gibt Schlimmeres. DGB-Chefin ist übrigens auch eine Frau geworden. Yasmin Fahimi, heißt sie. Bei ihrer Wahl hieß es natürlich nicht, sie sei aus ihrer Partei, der SPD, an die Spitze des DGB weggelobt worden. Stattdessen bot sich für sie dasselbe Narrative an wie bei Frau Benner: Erste Frau an der Spitze der gewerkschaftlichen Spitzenorganisation. Einbruch in die Männerwelt.
Auf die Idee eines alternativen Narrativs, wonach es selbst bei den Gewerkschaften inzwischen für eine Frau leichter ist ein Spitzenamt zu erringen als für einen Mann, kommt offenbar niemand. Dabei weisen Wahlergebnisse von über 90 Prozent, die man früher »albanisch« nannte, darauf hin, dass die Widerstände der alten weißen Männer sich in Grenzen gehalten haben. Erst recht verglichen mit den erbitterten Schlachten und Intrigen, die sich die Alpha-IG-Metaller früher geliefert haben. Und nur so nebenbei: In der deutschen Metallindustrie und in der IG Metall liegt der Frauenanteil bei knapp 20 Prozent. Machtpolitisch nicht schlecht gemacht, Frau Benner!
Nun zum zweiten Narrativ: Aufstieg einer Frau von ganz unten gegen die Widerstände einer ungleichen und ungerechten Welt. Dafür unterschlägt man besser, dass Benners Vater Ingenieur ist, sie also aus einer Akademikerfamilie stammt. Betont wird stattdessen, dass sie Scheidungskind sei und von der Mutter, Arzthelferin, allein erzogen wurde. Der Vater scheint freilich seinen Unterhaltsverpflichtungen nachgekommen zu sein; zum Beispiel hat er sie als Fünfzehnjährige auf eine Dienstreise nach Amerika mitgenommen. Seis drum. Erzählt wird, dass die Fünfzehnjährige dem Lehrer eine Klassenfahrt nach Norwegen aus finanziellen Gründen absagen musste. Armes Kind, denkt der Leser. Nur im Nebensatz und am Rand erfahren wir später, ein Solidarfonds habe Benner die Teilnahme an der Norwegenfahrt dann doch ermöglicht. Hätte man auch als Lob der Solidargemeinschaft erzählen können, hätte aber das Narrativ der ungerechten Klassengesellschaft gestört.
Klassenkampf oder Aufstiegsversprechen
So geht es weiter. Natürlich stößt das arme Scheidungskind nach dem Abitur auf weitere Aufstiegshürden, wird gezwungen, eine Lehre zur Fremdsprachenkorrespondentin zu machen, einfach weil »null finanzielle Ressourcen dagewesen waren«. Moment, denkt der Leser abermals: Gibt es nicht für einigermaßen begabte oder bedürftige Studenten in diesem Land vielfältige Stipendienangebote? Auch hier folgt die Beruhigung bald: Benner verlässt ihr Unternehmen, studiert Soziologie mit einem Stipendium, geht abermals für längere Zeit in die USA und macht anschließend rasch Karriere bei der IG Metall. Was soll man sagen: Deutschland ist offenbar ein gut funktionierender Sozial- und Solidarstaat, in dem der Bildungsaufstieg für wirklich oder vermeintlich benachteiligte Kinder machbar ist. Schon klar, so eine Erfolgsgeschichte passt nicht zu einer Karriere in einer Gewerkschaft, die das Los der Verelendeten verbessern will.
Es geht mir nicht gegen die Konstruktion von Kontexten zur Strukturierung von Wirklichkeit. Wir Menschen sind so gestrickt, dass wir die Welt nur in Narrativen verstehen. Doch warum sind nur derart stereotype Narrative im Angebot? Eine Frau setzt sich gegen massive Widerstände in der Männerwelt durch. Oder: Eine Frau schafft es nach oben trotz der Widerstände einer ungerechten Klassengesellschaft. Origineller wäre: Als begabte Frau stehen einem derzeit alle Vorstandsetagen offen – in der Wirtschaft, in der Politik, in der Wissenschaften und natürlich auch in den Gewerkschaften. Und: Für begabte und/oder finanziell bedürftiger Menschen bietet der Sozialstaat vielfältige Angebote, Ungleichheiten zu kompensieren. Diese Geschichten wären aus meiner Sicht nicht nur soziologisch näher an der Wahrheit. Sondern auch poetologisch origineller.
Rainer Hank