Hank beißt in den Hot-Dog
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April 2020
Zum Tode von Norbert Blüm

Norbert Blüm (1935 bis 2020)

Der kleine Stier

Wike Byl, der Wirt der Kneipe »Unterm Reetdach« auf der Nordseeinsel Borkum, hatte den kleinen Stier, den seine einzige Kuh nach langen Jahren gebar, »Nobbi« getauft. Der junge Stier sei stämmig und von drolligem Aussehen, hat uns Norbert Blüm in den neunziger Jahren erzählt. Er kannte das Tier gut, weil er auf Borkum gerne Ferien machte und bei Wike Byl nach ausgedehnten Wattwanderungen seinen Kruiden, irgendeinen Kräuterschnaps, trank. Er freilich könne nicht der Grund der Namensgebung gewesen sein, meinte Blüm schelmisch »Denn im Gegensatz zu mir hat Nobbi kurze krause Löckchen zwischen den Hörnern.«

Die Hörner freilich bestritt Blüm nicht. Hörner sind als Waffe gar nicht schlecht geeignet für kleine Männer. Man kann sich damit von unten seinem Gegner nähern, ihn aufspießen, einmal durch die Luft wirbeln und dann wieder freundlich absetzen. Wie soll einer ohne solche Fähigkeiten es vom Betriebsrat zum Bundesminister für Arbeit einer ganzen langen Ära der Nachkriegsjahre bringen? Die Pfeife, die er selten aus dem Mund nahm und mit der er so gemütlich aussah, war reine Tarnung. Typisch sind all die Fotos, die Blüm angriffslustig mit in den Nacken gewinkeltem Kopf nach oben blicken lassen; der Gegner wird dabei aus der ovalen Brille ins Visier genommen. Den Kragenknopf hatte er meist geöffnet, weil er sich weigerte, die Oberhemden eine Nummer größer zu nehmen. Darunter sitzt der dicke, altertümliche Windsorknoten, eine Ausstattung, die Blüm auf immer das Bild des früheren Arbeiters oder besser noch des kleinen Angestellten gaben und wohl auch ein bisschen an den jungen David erinnern sollte, der vor den Großen und Mächtigen dieser Welt nicht zurückschreckt.

Die Rente ist sicher

Ganz nah ist man da schon beim berühmtesten Blüm-Foto aus dem Jahr 1986, das selbst Leute kennen, die damals noch gar nicht auf der Welt waren. Wie der kleine Mann auf eine kleine Leiter steigt, um das große Plakat mit dem großen Satz auf die Litfaß-Säule zu kleben: »Denn eins ist sicher: Die Rente.« Dieses Bild aus Bonn – am »Eis Lazzarin« im Hintergrund sollt ihr den Marktplatz erkennen! – wurde zum Emblem des Rheinischen Kapitalismus. Und Norbert Blüm war sein Prophet. Die Kirche im Dorf lassen, den Sozialstaat bewahren und die kollektiven Sicherungssysteme, die Flächentarife und nationalen Sozialklauseln hochhalten, das alles gehörte zu Blüms Grundüberzeugung der sozialen Marktwirtschaft und zugleich zur DNA der gereiften Bonner Bundesrepublik.

Dieses konservativ-korporatistische, kontinentaleuropäische Modell des Kapitalismus, das man bei uns Sozialstaat nennt und das sich nicht nur vom angelsächsischen Wettbewerbsmodell, sondern auch vom sozialdemokratisch-egalitären Typus Nordeuropas unterscheidet, setzt alle Karten auf eine stabile Erwerbsarbeit als Garant der durch Beiträge finanzierten Sicherungssysteme zum Schutz vor den kollektiven Risiken Alter, Arbeitslosigkeit und Krankheit. Dass sich dieses Wohlfahrtsmodell mehr und mehr von der elementaren Risikoabsicherung zur Maxime der Statussicherung fortentwickelte – etwa durch die Rentenreform von 1957, die den Ruheständlern Anteil an dem in Löhnen und Gehältern sich spiegelnden Fortschritt der Produktivität gab – fand Blüms flammende Zustimmung: Er selbst sah sich mit der Einführung der Pflegeversicherung in den neunziger Jahren, der »vierten Säule« der sozialen Sicherung, als Vollender dieses Projekts, erkämpft gegen den erbitterten Widerstand der FDP. Blüm war stolz darauf, dass die Leitideen dieses Sozialmodells den Geist eines konservativen Christentums atmeten, angereichert mit einem gehörigen Schuss revolutionär-aufmüpfigen IG-Metall-Spirits.
Es ist das Schicksal des Vollenders, dass der Erfolg immer auch die Morgendämmerung von etwas Neuem ist, was dann nicht mehr seine Zeit sein wird: Es waren die achtziger Jahre, als sich die »Verschiebung des sozialstaatlichen Leitbildes der Vollversorgung zur Eigenverantwortung« (Andreas Rödder) andeutete, eine Entwicklung die heute von vielen als »Neoliberalismus« verhöhnt wird. Doch es wäre grundfalsch zu behaupten, Blüm habe diese Entwicklung lediglich ignorant bekämpft, was ihn zum sturköpfigen Reaktionär gestempelt hätte. Die Rhetorik des Diktums von der sicheren Rente legt hier eine falsche Fährte. Denn es war derselbe Norbert Blüm, der später die Riester-Rente, benannt nach seinem Nachfolger, erbittert bekämpfte, der aber selbst öffentlich über die Grenzen der Haltbarkeit und der Leistungsfähigkeit des Rentensystems philosophierte. Den jüngeren Arbeitnehmern legte Blüm dringend nahe, für ihr Alter auch private Vorsorge zu treffen. Gesetzliche Rente, Betriebsrente und individuelle Ersparnis sind das bis heute gültige Dreisäulenmodell, für das auch Blüm sich stark gemacht hat. Vom teuren Vorruhestand hat er nie viel gehalten, von der Verschiebung des Renteneintrittsalters (»Rente mit 67«) freilich auch nicht. Spät und zögerlich, aber dann eben doch, nahm Blüm auch Anlauf, über den sogenannten »demographischen Faktor« die Rentenleistung an die Alterung der Bevölkerung zu koppeln. Kalt wurde dieser demographische Faktor von der rot-grünen Regierung Gerhard Schröders kassiert, die ihn später unter anderem Namen (»Nachhaltigkeitsfaktor«) und mit erheblich größeren Eingriffen wieder einzuführen sollte.

Mörikes »flaumenleichte Zeit«

Nicht nur die rot-grüne Welt, auch die Welt der neuen Frau aus dem Osten an der Spitze der CDU war dann nicht mehr Blüms Welt. »Angela Merkel ist nicht meine CDU« gab er anlässlich des »neoliberalen« Leipziger Parteitags 2003 zu Protokoll, bei dem ihn seine Parteifreunde ziemlich schäbig als Angehörigen einer Welt von gestern aufs Altenteil gesetzt hatten. Blüms Welt war tatsächlich eine andere: Er war das vaterlose Kriegskind, Katholik und Beerdigungsministrant, aufgewachsen unterm Opelportal in Rüsselsheim und dortselbst eingetreten als Werkzeugmacher. Er war der Aufsteiger, Germanist und Theologe, der wusste, dass man mit der Sprache Macht gewinnen und Welt erschaffen kann, und der fuchsig wurde, wenn ein schludriger Lektor ihm beim Abdruck seines Mörike-Lieblingsgedichts (»An einem Wintermorgen vor Sonnenaufgang«) die »flaumenleichte Zeit der dunkeln Frühe« in eine »flaumenweiche« Zeit verballhornte. Blüm, der kalauernde Polemiker, war gebildet und belesen wie nur wenige seiner Politiker-Generation. Blüm, der Georgs-Pfadfinder, konnte so täuschend echt wie kaum ein anderer die knarrende Stimme von Pater von Nell-Breuning nachmachen. Beim ihm, dem großen Jesuiten aus Frankfurt, hat er alle ihm wichtigen Stichworte gelernt: Föderalismus, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung, Subsidiarität, Solidarität und Gemeinwohl. Dort hat er auch gelernt, dass man das Soziale nicht den Sozialisten und Sozialdemokraten überlassen sollte.

Norbert Blüm ist am 24. April 2020 im Alter von 84 Jahren in Bonn gestorben, zuletzt gezeichnet von einer tückischen Blutvergiftung, die ihn, der doch stets so sehr beweglich war, auf schreckliche Weise an Armen und Beinen gelähmt hatte.

Hier der Link zur FAZ vom 25.April 2020

Rainer Hank