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August 2022
Zum Tod von Maria Frisé (1926 bis 2022)

Maria Frisé Foto: Historisches Museum der Stadt Frankfurt

Lesen, lernen, lehren, lieben

1.

Es war wie immer. So auch bei unserem letzten Telefonat. Seit ein paar Tagen war sie wieder zuhause. Dass es ihr sehr schlecht ging, daran ließ sie keinen Zweifel. Aber reden darüber, das wollte sie nicht. Zumindest nicht mit mir. Das Elend ist schlimm genug, es wird durch Reden nicht besser.

Also dauerte es wie immer nur wenige Minuten, da brachte sie die Rede aufs Gelesene. Christiane Hoffmanns unter dem Titel »Alles, was wir nicht erinnern« nacherwanderte Fluchtgeschichte des Weges ihres Vaters aus Schlesien hatte es ihr angetan. Natürlich war ihre eigene biographische Urerfahrung der Hintergrund, vor dem sie das Buch der gut vierzig Jahre jüngeren Kollegin las. Jedoch las sie es keinesfalls nur unter Betroffenheitsbezug, sondern mit Bewunderung für die literarische Form, dafür, wie Christiane Hoffmann Erlebnis und Reflexion ineinander verschränkte.

Maria Frisé, beginnen wir damit, war nicht nur eine große Schreiberin, also Journalistin und Schriftstellerin. Sie war, was man womöglich nicht gleich sieht, eine stets viel Lesende. Zwei bis drei Bücher pro Woche, dazu täglich die FAZ und am Wochenende noch taz, ZEIT und Spiegel bis ins hohe Alter, das gehörte zum Alltag. Und sie vergaß nicht, was sie da gelesen hatte. Der Besucher im Haus in Bad Homburg konnte sich auf den Stand bringen: Der Stapel mit den neu erschienenen Büchern auf dem Wohnzimmertisch gab stets verlässlich Aufschluss.

Ob ich von diesem Jo Lendle gehört hätte, fragte sie bei meinem Besuch im Markuskrankenhaus. Ja, der sei der Verleger des Hanser-Verlags, wusste ich. Das wusste sie natürlich auch, hatte gehofft, ich wüsste mehr. Dann drehte sie die Fragerichtung um: Was ich denn gerade so läse?

So ging es hin und her. Anders als viele betagte Menschen, die mit einem gewissen Recht vorwiegend von sich erzählen, weil sie ja auch viel erlebt haben, hat Maria Frisé stets ihre fragende Neugier behalten. Neugier ist bekanntlich eine journalistische Basistugend, aber eben auch das Geheimnis ihrer bleibenden geistigen Frische, die zunehmend im Missverhältnis zur körperlichen Gebrechlichkeit stand.

Dass das FAZ-Feuilleton ihr weiterhin regelmäßig Bücher zur Rezension schickte, dankte sie mit schnörkellosen Besprechungen, zuweilen vorab mit dem Kommentar versehen, sie müsse als Rentnerin halt nehmen, was in der Redaktion übrig sei. Sie war sich für nichts zu schade; diese Tugend hat diese Generation der Nachkriegsjournalistinnen verinnerlicht. »Jetzt schicken die mir einen Softporno über eine Nymphomanin«, empörte sie sich. »Wissen die nicht, dass ich eine über 90jährige Frau bin und nie durch ausgelassen Libertinage aufgefallen bin, sondern viel eher durch meine Schüchternheit.« Die spontane Reaktion, das Buch gleich wieder in die Hellerhofstraße zurückzuschicken, wurde von ihrer Neugierde vereitelt. Abgeliefert hat sie einen fabelhaften Text, der unter der Überschrift »Die Sünde der Zahnärztin« in der Zeitung stand und selbst dem offenkundigen Kitsch der Erzählung noch ein großes Maß an Komik abzugewinnen vermochte. Für einen Verriss wäre sie sich zu schade gewesen.

2.

Maria Frisé, die Journalistin, Essayistin und Literatin, war eine große Leserin und eine große Lehrerin, freilich darin ziemlich einsilbig. Meine erste journalistische Hospitanz im Winter 1988 verbrachte ich bei ihr in der Redaktion von »Bilder & Zeiten«, der »Beilage« wie es intern hieß. Dort gab es eine Kinderbuchseite, weil Mode, Kochen, Kinder, Frauen und Soziales damals die Themen waren, die man den wenigen Frauen in der Redaktion überließ. Mein erster Auftrag, sechs Zeilen Bildunterschrift, zweispaltig, zu einer Neuausgabe des »Lederstrumpf«. Ich meine »Le-der-strumpf«! Zweimal erhielt ich meinen Text zurück, wortlos, heißt: geht gar nicht. Zum Schluss hat sie es selber gemacht. Und ich hatte das Gefühl, doch nicht im richtigen Beruf gelandet zu sein. Das hinderte Maria Frisé indessen nicht, kurze Zeit später eine Reportage von mir abzudrucken, unkommentiert, präzise redigiert. Die Niederlage beim Kinderbuch und der Sieg bei der Reportage – ich hatte gelernt: allzu zart besaitet darf man in diesem Beruf nicht sein.
Stark, nüchtern, kühl (zu sich und zu anderen), so habe ich sie damals erlebt. Später weniger. Wie gesagt: Man durfte sich für nichts zu schade sein. Auf die Idee, als Frau sich als Opfer zu präsentieren und aus der Opferrolle heraus Macht zu beanspruchen, wäre sie nie gekommen.

3.

Mode, Kinder, Frauen und Soziales – Maria Frisé war nicht nur Leserin und Lehrerin, sie war auch immer eine Lernende. Die männlichen Kollegen hatten das Potential dieser Themen verkannt. Hätten sie den Braten gerochen, hätten sie ihn gewiss nicht freimütig »den Frauen« überlassen. »Innerhalb der Zeitung hatte ich mit meinen Themen keine Konkurrenz«, sagte Frisé. Eine neue Welt zu entdecken, das war ihr großes Verdienst, dafür hat sie ertragen, wenngleich grimmig, von den Männern der Literatur-, Film-, Kunst-, Musik- oder Architekturkritik, Fürsten ihrer Partialreiche, als Beauftragte fürs Nebensächliche verspöttelt oder ignoriert zu werden.

Wie hat sie die neue Welt entworfen? Zwei Beispiele: das Recht und die Frauen. 1970 hatte die Stadt Hamburg auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Neuengamme die Jugendstrafanstalt »Vierlande« errichtet. Direktorin wurde im Jahr 1973 die Psychologin Eva Rühmkorf. Dass sie Psychologin, nicht Juristin war, spiegelt den – einer großen Revolution gleichkommenden – Paradigmenwechsel im Strafrecht und Strafvollzug: Ziel sollte fortan nicht mehr die Bestrafung, sondern die Resozialisierung sein. Es sind die Umstände (Milieu, System), die den Menschen zum Täter machen.

Frisé fährt zweimal nach Neuengamme, 1975 und 1978. Zwei große Reportagen erscheinen in »Bilder und Zeiten«, natürlich mit Fotos von Barbara Klemm. »Hinter Gittern Freiheit lernen«, ist eine davon überschrieben. »Lernen für das Leben draußen«, das sei das Ziel, schreibt Frisé. Nicht ihre Faulheit, mangelnde Begabung oder genetische Ausstattung habe diese Häftlinge zu Kriminellen gemacht, sondern die Gesellschaft. Dies alles mündete 1976 in das erste bundesdeutsche Strafvollzugsgesetz. In dessen Zentrum stand die Resozialisierung, nicht die Bestrafung. Die Vorbereitung dieses Gesetzes gab es in den Reportagen von Maria Frisé zu lesen. Es war eine Art von Framing, wie man heute sagen würde, die dem neuen Paradigma Akzeptanz verschaffte. »Solche Themen waren mir wichtiger als der Protest und die Demonstrationen auf der Straße«, erzählte sie mir später einmal.

Nun die Frauen. Schon 1964 hatte Frisé Betty Friedans »Der Weiblichkeitswahn/The Feminine Mystique« laut gepriesen: »Tüchtig am Herd, unbefangen in der Liebe – die kindliche, ewig lächelnde Hausmutter«, sei ein Produkt der amerikanischen Werbepsychologie, schreibt Friedan. Frisé unterstützt sie. »Der Beruf ist mehr als bezahlte Arbeit, er bedeutet Selbständigkeit, Anerkennung, Kontakte, Sicherheit, ein Stück eigenes Leben«, lesen wir bei Frisé. Als Simone de Beauvoir stirbt, schreibt Maria Frisé einen großen Nachruf: »Radikale Existenz«, ist er überschrieben. Der Aufbruch der Frauen begann eben lange vor 68, und er war nachhaltiger als der aufgeregt-revolutionäre Protest der Männer. Bildung für alle, Hausarbeit für alle. Auflösung der patriarchalischen Rolle in Familie und Öffentlichkeit. In solchen Texten nahm sie eine »Haltung« ein. Alles Verbissene oder gar Missionarische war ihr fremd. Heute ist vieles davon selbstverständlich, rubriziert als »Vorgeschichte der Emanzipation«. Das Revolutionäre von damals wird damit verschüttet.

Als Feministin hätte sich Maria Frisé nie bezeichnet. Mit Alice Schwarzer wollte sie nichts zu tun haben. Gegen die männlichen Kollegen, von denen sie sich übersehen fühlte, wehrte sie sich durch überdeutliche Sichtbarkeit. »Ich setzte mich in den wöchentlichen Redaktionskonferenzen jedes Mal ganz nach vorne, direkt vor die männlichen Herausgeber, unübersehbar, noch dazu meistens in einem roten oder sonst wie farbenfrohen Kleid.« Und sie nahm sich vor, jedes Mal eine Frage zu stellen. Bewusst hat sie Frauen gefördert -, wenn sie gut waren und schreiben konnten. Silvia Bovenschen, Dorothea Razumowsky, Hannelore Schlaffer sind über »Bilder & Zeiten« bekannt geworden. Als Frisé, schon über 90jährig, bei einer FAZ-Party auftaucht, mit leuchtendem Sommerkleid und breitkrempigen Hut, trifft sie auf junge Kolleginnen, die noch nie von ihr gehört haben: die sehen diese Frau mit großen Argen, hören ihre Geschichte mit offenen Ohren, staunen und erkennen – ein Vorbild, ein »Role Model«.

4.

Maria Frisé die Lesende, die Lehrende, die Lernende. Davon sprach ich. Zuletzt will ich über Maria Frisé als eine Liebende sprechen.

In ihrem letzten Band mit Erzählungen, im Jahr 2021 erschienen unter dem Titel »Einer liebt immer mehr«, gibt es am Ende die »Geschichte einer Ehe«. Es ist ihre Geschichte mit dem geliebten Adolf Frisé, der, obzwar schon fast zwanzig Jahre tot, bis heute im Haus in Bad Homburg lebendig ist. Es ist eine Erzählung, die kaum eine der üblichen Erwartungen an eine Liebesgeschichte erfüllt. Da werden Türen geschlagen, Kränkungen zugefügt, Konkurrenz und Eifersüchteleien ausgekostet und Marotten ausgelebt. Man kann auch sagen: Es ist eine ehrliche Geschichte, in welcher die Autorin ziemlich schonungslos mit sich selbst umgeht.

Aber es ist eben doch eine Liebesgeschichte, freilich bar jeglicher Romantik. Wie die beiden sich – ausgerechnet am Rande eines Kostümfestes – ineinander verlieben, Klassiker des Amour Fou. Wie sie sich trennt von ihrer Familie, Urgrund eines lebenslänglich schlechten Gewissens wegen der Kinder. Und wie sie dann in Bad Homburg dieses Haus bauen, das er eigentlich gar nicht wollte, weil er es hasste, ein »Besitzbürger« zu werden. Das wird hier ohne jegliche Beschönigung erzählt.

Gleichwohl: Er bedeutet ihr alles. Sie geht bei ihm in die Lehre, wird wieder die Lesende, Lernende, später die Lehrende und eben immer schon die Liebende. Ein nachgeholtes Bildungsprogramm als Kompensation für das ihr fehlende Studium verdankt sie ihm. Als sie findet, dass die Lehrzeit lange genug gedauert habe, emanzipiert sie sich zur gleichberechtigten Partnerin im Gespräch. Zwei Intellektuelle erschließen sich die Welt allabendlich und alltäglich. Es ist eine häusliche Totalität. Wen bräuchten sie noch. Am Ende des Abends gibt es Whiskey oder Weißwein.

Diese Gespräche waren ihr unendlich wichtig, gaben ihr Sicherheit und Halt. Das die Einheit stiftende Gehäuse dafür war die Villa in Bad Homburg, entworfen von ihr. Es muss eine Art der Symbiose gewesen sein, die keine Gesellschaft braucht, keine gemeinsamen Kinder bekommen hat – und zumindest für sie – Konkurrenten nicht ausschloss: das Pferd, die über alles geliebten Söhne aus erster Ehe, die Reisen, die große verzweigte Familie von Loesch mit Großmüttern, Tanten, Vettern und Cousinen, zu denen er kein Verhältnis finden konnte und wollte.

»Einer liebt eben immer mehr«; sagt er. Am Ende des Weges entfernen sie sich voneinander. So steht es in der Erzählung. »Plötzlich tat sich eine Kluft zwischen ihnen auf und sie fand keine Worte, um ihm wieder näher zu kommen.«

5.

Maria Frisé die Lesende, Lehrende, Lernende, Liebende: Am Ende eines schönen Gesprächs in der Reihe HR-Doppelkopf aus dem Jahr 2004, ein Jahr nach dem Tod von Adolf Frisé, bekennt sie: »Ich bin ein selbständiger Mensch geworden. Das ist mir gelungen« Und weiter: »Mir geht es doch sehr gut. Ich habe meinen Interessen folgen können, habe das erlebt, was ich erleben wollte. Ich bin eigentlich vielseitig. Und diese Vielseitigkeit habe ich vielleicht viel besser ausleben können, als wenn ich – was ich oft bedauert hatte – studiert hätte. Das hätte mich eingegrenzt.« So etwas nennt man Einverständnis. Ein »starkes Leben«, wie auf der Traueranzeige der Familie zu lesen ist. Oder gar »drei starke Leben«, von denen sie immer wieder erzählte?

Für mich, der ich nie eine formelle journalistische Ausbildung durchlaufen habe, war sie eine Lehrerin. Und später dann – es blieb immer beim Sie – eine wichtige Gesprächspartnerin. Die Bilder der Erinnerung mit ihr und ihren Freunden in ihrem schönen Garten »Am Zollstock«, werden bleiben. Und, natürlich, ihre Texte.

Rede anlässlich der Trauerfreier in Bad Homburg v.d.H. am 14. August 2022

Rainer Hank