September 2024
Woke Capitalism
Alles hat seinen Preis, auch die Moral
Wokeness gilt als Gütesigel. Es beinhaltet ein breites Spektrum von sozialen, politischen, ökologischen und kulturellen Werten. Dazu zählen Geschlechtergerechtigkeit, die Achtung transgeschlechtlicher und queerer Rechte und die Linderung wirtschaftlicher Ungleichheiten zwischen dem reichen Norden und dem »globalen Süden«. Wer ein guter Mensch sein will, muss woke sein. Das hat sich auch in der Wirtschaft herumgesprochen.
Wokeness ist ein Wachstumsmarkt. Wo Wachstum winkt, winken für Unternehmen Profite. Kaum mehr ein Winzer, der seine Weine nicht bio- oder demeter-zertifiziert vermarktet. Kaum ein Verlag, der nicht im Impressum seiner Bücher vermerkt, man habe sich zu Nachhaltigkeit verpflichtet (Papiere aus wiederaufforstender Waldwirtschaft, Druckfarben auf pflanzlicher Basis). Kaum ein Investmentfonds, der nicht seinen Anlegern versichert, man gebe sein Geld selbstverständlich nur guten, also woken Unternehmen.
Woke-Branding könnte man diese Unternehmens-Strategie nennen. Die Konsumenten wollen es gerne achtsam. Die potenziellen Mitarbeiter wollen es auch. Der kapitalistische Imperativ des Ökonomen Milton Friedman gilt zwar immer noch: Die soziale Verantwortung des Unternehmens ist es, den Profit zu mehren. Doch das Profitinteresse wird überwölkt vom »Purpose«: Wir verbessern die Welt. Drunter machen sie es nicht.
Es geht um viele hundert Milliarden, addiert man alles, was für Diversity, Klimapolitik, soziale Gerechtigkeit und Political Correctness von den Firmen weltweit ausgegeben wird. Gibt es eine Rendite der Wokeness-Investition und wer kassiert sie?
Blicken wir zum Beispiel auf die deutsche Bahn. Deren Lage ist desolat – die Züge chronisch verspätet, Schienen und Brücken marode. Das hat das Staatsunternehmen nicht daran gehindert, im Jahr 2023 seinem Management Boni in Höhe von insgesamt fünf Millionen Euro auszuzahlen. Die Extrazahlungen sind eine Belohnung dafür, dass es mehr weibliche Führungskräfte im Unternehmen gibt. Die gibt es, obwohl Ziele für Pünktlichkeit und Kundenzufriedenheit dramatisch verfehlt wurden. Allein der CEO kassierte rund 1,3 Millionen extra.
Gender-Parität versus Meritokratie
Von Wokeness profitiert im Fall der Bahn das Management. Und die auserwählten Frauen. Die Kosten tragen die Männer, die leer ausgehen. Quoten beschränken den Wettbewerb. Sie wirken als eine Art negative Diskriminierung, die dadurch entsteht, dass positive Diversity-Ziele durchgesetzt werden und den Personalverantwortlichen dafür Prämien-Anreize winken. Wenn Geschlecht, Herkunft oder Hautfarbe und nicht die Leistung für die Besetzung einer Stelle den Ausschlag geben, dann ist das Zuteilungsverfahren nicht meritokratisch, sondern gender-paritätisch.
Das ist ein Wohlfahrtsverlust. Der lässt sich moralisch rechtfertigen. Aber bringt Diversity wenigstens dem einzelnen Unternehmen einen Mehrwert? Das behauptet seit langem die Unternehmensberatungsfirma McKinsey. »Diversity matters«, heißt der Schlachtruf. Versprochen werden um rund ein Drittel höhere Gewinne für Unternehmen, wenn deren Spitze sich divers zusammensetzt.
Inzwischen gibt es Studien, die die McKinsey-These mit betriebswirtschaftlichen Argumenten bestreiten. Setzt man den »Diversitätsgrad« der größten börsennotierten amerikanischen Unternehmen (S&P-500) zu den Gewinnen dieser Firmen in Bezug, so zeigt sich lediglich ein minimaler Unterschied. Und der gilt als nicht statistisch signifikant.
So schmilzt der Nutzen der Diversity, aber die Kosten bleiben. Mit einer kleinen Einschränkung. Nämlich dann, wenn es kriminell wird. Justus Haucap, ein deutscher Wettbewerbsökonomen, hat sich fünfzehn Kartelle (Bier, Zement und anderes) angesehen, die vom deutschen Kartellamt aufgedeckt wurden. Von den 156 Managern, die daran beteiligt waren, waren nur zwei weiblich – das ist weit unterdurchschnittlich. Kartellbrüder leben offenbar vom männerbündischem Corpsgeist; man kennt sich, man verpfeift sich nicht. Schlecht für die Verbraucher: sie müssen höhere Preise zahlen und bekomme schlechtere Qualität.
Das steht freilich in keinem Verhältnis zu den hohen direkten Wokeness-Kosten. Größter Preistreiber dürften die europäischen Lieferkettenvorschriften sein. Sie verpflichten die Unternehmen ab einer bestimmten Größenordnung zu einer Sorgfaltspflicht für die globalen Wege ihrer Produkte: Eingehalten werden müssen soziale Grundsätze (Menschenrechte, faire Löhne, keine Kinderarbeit), Umweltauflagen (keine Schädigung der Umwelt bei der Herstellung der Produkte, Nachhaltigkeit, Wiederaufforstung). Verstöße werden sanktioniert, können bis zu zwei Prozent des Umsatzes betragen. Wokeness lastet den Unternehmen die Kosten der Überwachung von juristischen Standards an. Das sind Aufgaben, die ordnungspolitisch betrachtet eigentlich von Staaten und deren Steuerzahlern zu tragen sind.
Um den EU-Bestimmungen gerecht zu werden und Strafen zu vermeiden, muss ein hoher Aufwand betrieben werden. Schätzungen mutmaßen, dass größere Unternehmen (mit über 500 Mitarbeitern) zwischen 0,5 und 5 Millionen Euro allein für die initiale Implementierung der Liefersorgfalt aufwenden müssen. Für die laufende Überwachung der Lieferkette wird rasch noch eine Million Euro pro Jahr zusätzlich fällig. Und das sind längst nicht alle Kosten: Neue Mitarbeiter müssen eingestellt werden, Heere von Beratern und Anwälten haben sich ein lukratives Geschäftsfeld erschlossen. Verlogen wirken angesichts dieser Lasten die vielen europäischen und nationalen Programme zum Bürokratieabbau.
Ob die Lieferkettenvorschriften letztlich zur Verwirklichung der woken Ziele beitragen, ist fraglich. Zuletzt wurde etwa bekannt, das der Schweizer Schuhhersteller ON, der seine Sneakers mit Roger Federer-Siegel verkauft und sich hehrer Werte wie Umweltschutz, Menschenrechte und sozialer Verantwortung brüstet, den Näherinnen in Vietnam weniger zahlt als Puma oder Nike, von den Konsumenten aber höhere Preise verlangt (NZZ vom 10. August). Die Kritik am woken Kult nimmt zu: »Wokewashing« benennt die Diskrepanz zwischen Worten und Taten. Kommt es raus, hat das Unternehmen einen Reputationsverlust – und die Kunden sind sauer, weil sie einer Täuschung zum Opfer fielen und gutwillig mehr als den Marktpreis gezahlt haben.
Wokeness-Gebot an den Universitäten
Es gibt Kosten, die man sieht – wie die Bürokratie- oder Reputationskosten. Es gibt auch Kosten, die man nicht sieht: Opportunitätskosten, die ein entgangener Nutzen verursacht. »Preistreiber« der unsichtbaren Kosten dürften die Universitäten und Forschungseinrichtungen sein samt ihrer woke Anreize setzenden meist staatlichen Förderindustrie. An den Universitäten der Welt gilt heute ein allgemeines Wokeness-Gebot. Was der menschliche Geist daneben an »unkorrekten« Einfällen haben könnte mit möglichem Nutzen für die Menschheit, fällt durch den Förderrost. Tröstlich ist allenfalls die Hoffnung, dass Natur- und Ingenieurwissenschaften nicht ganz so woke-anfällig sind wie die Geistes- und Sozialwissenschaften.
In vorweggenommener Pflichtbesessenheit sind auch die großen Fondsgesellschaften der Welt auf den woken Zug aufgesprungen. Das Modewort heißt ESG. Die Abkürzung steht für Environmental, Social und Governance (Umwelt, Soziales und Unternehmensführung) und bezeichnet ein umfassendes Regelwerk zur Bewertung der nachhaltigen und ethischen Praxis von Unternehmen. Larry Fink, CEO des Geldverwalters Blackrock mit einem Vermögen von neun Billionen Dollar, hat die Unternehmen, in die er investiert, verpflichtet, sich an ESG-Grundsätze zu halten. Das war von Anfang an nicht ganz logisch, weil ein Großteil der Blackrock-Fonds passive Fonds (ETF) sind, welche in ihrer Zusammensetzung stur den Markt abbilden, ohne sich aktiv in das operative Geschäft der Zielunternehmen einzumischen. Aber was macht man nicht alles für einen guten Zweck?
Funktioniert hat das ESG-Konzept nie wirklich. Dass »nachhaltige« Fonds eine bessere Rendite erzielen als der Durchschnitt des Kapitalmarktes war eine ebenso unbewiesene Behauptung wie das McKinsey-Versprechen der ökonomischen Überlegenheit divers besetzter Boards. Überdurchschnittliche Renditen dürften eher jene Investoren kassiert haben, die um ESG einen Bogen gemacht haben und weiter in fossile Branchen (Gas, Kohle, Öl) investiert haben – oder in Rüstung. Der Hype um ESG allein kann nichts daran ändern, dass die Welt weiter auf braune Energien angewiesen ist – jedenfalls so lange, bis die teure grüne Transformation sich durchgesetzt hat.
Hinzu kommt: Die ESG-Anforderungen öffnen Tür und Tor für sogenanntes Greenwashing (ein Spezialfall des Wokewashings). Man gibt sich ein nachhaltig grünes und soziales Image, ohne die Kosten dafür tragen zu wollen. Die Entlarvung von Greenwashing hat etwa bei der Fondsgesellschaft der Deutschen Bank DWS dem Vorstand seinen Job gekostet und den DWS-Aktionären herbe Kursverluste beschert. Inzwischen rudert auch Larry Fink zurück. Nicht ganz freiwillig, sondern auch, weil die Republikaner in den USA gegen das Wokeness-Gebot Sturm liefen und Pensionsfonds in von ihnen regierten Staaten angewiesen hatten, ESG zu meiden.
Es bleibt dabei: Wokeness verursacht hohe Kosten, aber wenig nachgewiesenen ökonomischen Nutzen. Auch den sozialen Nutzen kann man infrage stellen, schaut man auf die Verteilungswirkung der Kosten, die asymmetrisch ist. Der Ökonom Justus Haucap beschreibt Wokeness als ein Konzept der Eliten mit paternalistischer Wirkung. Die höheren Kosten fallen eher bei den ärmeren Schichten an, die für die Produkte aus dem globalen Süden den woken Aufpreis bezahlen müssen. Den Nutzen haben die Reichen: sie genießen ein gutes Gefühl (»warm glow«). Wokeness ist teuer und ungerecht.
Der Text ist am 9.September 2024 im Meinungsteil der Neuen Zürcher Zeitung (Fernausgabe) erschienen.
Rainer Hank