Oktober 2021
Warum sind Grüne und Liberale so stark?
Ein Versuch über die Ampel
In Berlin wird die politische Macht neu sortiert. Vieles spricht dafür, dass die Deutschen zum ersten Mal in ihrer Geschichte nach 1949 künftig von einer Koalition aus drei Parteien regiert werden. Beim Kampf um die Machtanteile im deutschen Staat übernehmen die Strategen die Führung. Bei den Verhandlungen kommen aber auch Emotionen hoch – es kann gehörig menscheln.
Während in Mehrheitsdemokratien (USA, Großbritannien) die Wählermehrheit über die Regierung entscheidet, ist in Ländern mit Verhältniswahlrecht (Deutschland, Schweiz) der Konnex zwischen vorher (dem Wahlergebnis) und nachher (der Regierungskoalition) nur locker. Die Verteilung der Wählerstimmen ist, solange keine Partei allein reagieren kann, lediglich der Rahmen, in dem die Verhandler der künftigen Regierung aufeinandertreffen und die Macht unter sich aufteilen.
Wie heißt der Sieger der Wahlen zum deutschen Bundestag? Betrachtet man die Verteilung der Sitze, rangieren auf Platz Eins die Sozialdemokraten, die künftig 206 Repräsentanten nach Berlin entsenden – nach zuletzt 153. An zweiter Stelle steht die Union aus CDU und CSU, die trotz dramatischer Verluste immer noch über 196 Sitze (nach 246) innehaben wird. Erst an dritter und vierter Stelle kommen Grüne und Freidemokraten (FDP) mit 118, respektive 92 Parlamentariern. Für eine Mehrheitsregierung sind 368 Mandate nötig.
Seit der Wahl am vorletzten Sonntag spielt sich vor diesem Hintergrund in Berlin eine verkehrte Welt ab. Dass Taktik und Strategie den Lauf der Verhandlungen dominieren werden, konnte man schon am Abend der Wahl beobachten, als der FDP-Vorsitzende Christian Lindner ankündigte, zunächst mit den Grünen zu sprechen. Die »Großen«, SPD und Union, die längst nicht mehr so groß sind wie sie einmal waren, wurden von FDP und Grünen ins Wartezimmer verwiesen nach dem Motto »Sie werden aufgerufen, wenn sie dran sind.«
Die eigentlichen Wahlsieger sind die beiden kleinen Parteien. Der Grund dafür ist, dass die großen Parteien SPD und Union die »große« Koalition ausgeschlossen haben, in die sie die vergangenen Jahre unglücklich verwickelt waren. Damit haben sie sich ihrer Verhandlungsmacht beraubt und sich in die Abhängigkeit der Kleinen begeben, die drohen: Wenn ihr unseren Bedingungen nicht zustimmt, machen wir eben den anderen zum Kanzler.
Wer die Macht wirklich hat
Normalerweise würde man erwarten, dass die politische Macht in einer Koalition proportional zu den Stimmanteilen verteilt ist (Gamson`s Law). Da nun aber die beiden kleineren Parteien für eine Mehrheit dringend benötigt werden und zugleich jede der großen Parteien jeweils verzichtbar ist, haben die Kleinen den Spieß umgedreht.
Sie könnten die Großparteien aus verhandlungsstrategischer Sicht sogar so weit herunterhandeln, bis die erste Kanzlerpartei lieber auf die Kanzlerschaft verzichtet und aus der Verhandlung aussteigt. Gehen wir es noch einmal schematisch-strategisch an: Angenommen, es gibt 100 »Machtpunkte« zu verteilen, die benötigt werden, um die eigene Politik durchzusetzen. Vor dem Hintergrund von Gamson`s Law würde man angesichts des Wahlergebnisses denken, etwa 50 Prozent der Macht bekommt die Kanzlerpartei (SPD oder CDU) und den Rest teilen sich Grüne und FDP, mit einem leichten Vorteil für die Grünen. Aber spieltheoretisch ist das eher unwahrscheinlich.
Weil FDP und Grüne für die Regierungsbildung gleichermaßen ausschlaggebend (»pivotal«) sind, besitzen sie auch gleichermaßen Verhandlungsmacht. Und weil SPD und CDU im Wettbewerb um die Kanzlerschaft stehen, stellt sich für die beiden großen Parteien die Frage, wie viel Macht sie im schlimmsten Fall abzugeben bereit sind, bevor sie lieber ganz auf die Kanzlerschaft verzichten. Denn gemeinsam könnten FDP und die Grünen die SPD und CDU in einen Wettbewerb (eine Art Auktion) schicken und schauen, welche Partei mehr Machtpunkte für die Kanzlerschaft aufzugeben bereit ist – und dann mit dieser koalieren. Demzufolge legt die strategische Analyse nahe, dass die neue Bundesregierung vielleicht aus 40 Prozent FDP und 40 Prozent Grüne aber nur aus 20 Prozent SPD oder CDU bestehen wird.
Dass die Macht der FDP so groß ist, hat sie auch dem schwachen Abschneiden der Partei »Die Linke« zu verdanken, die unter der Fünf-Prozent-Hürde geblieben ist und nur deshalb in den Bundestag einziehen kann, weil sie drei Direktmandate errungen hat. Doch für eine rot-rot-grüne Koalition, die zu schließen der SPD-Kandidat Olaf Scholz nie ausgeschlossen hat (vielleicht auch in der Hoffnung auf eine verhandlungsstrategisch bessere Position nach der Wahl), reicht es jetzt nicht mehr. Das schadet vor allem der SPD. Sie kann nun nicht mehr mit rot-rot-grün drohen, sollte die FDP ihre Forderungen überziehen. Sie könnte allenfalls mit einer großen Koalition drohen – mit der Union als Juniorpartner. Doch die Große Koalition haben SPD und Union (bislang) ausgeschlossen; ein solches Bündnis würde bei den Wählern wohl zu großen Akzeptanzproblemen führen.
Geschickt verstehen FDP und Grüne es, sich als die »Koalition der Gewinner«, der »Jungen« und der »Fortschrittlichen« darzustellen, weil sie Sitze hinzugewonnen haben. Zwar legt die empirische Forschung zu Regierungsbildungen nahe, dass der Zugewinn von Parlamentssitzen die Wahrscheinlichkeit einer Regierungskoalition anzugehören nicht unbedingt vergrößert. Aber umgekehrt stimmt es schon: Sitze zu verlieren, reduziert die Chance zu regieren. Mit anderen Worten: Verlieren ist entscheidender als gewinnen. Das macht es weniger wahrscheinlich, dass Armin Laschet der nächste Kanzler wird.
Es menschelt auch in Verhandlungen
Grenzenlos mächtig sind die Liberalen und die Grünen aus genau diesem Grund trotzdem nicht. Die Union, die nicht nur geschwächt aus der Wahl hervorgegangen ist, sondern spätestens seit dem Wochenende dabei ist, sich selbst zu zerlegen, bringt sich damit selbst um Verhandlungsmacht und stärkt umgekehrt die Verhandlungsmacht der SPD. Trivial zu sagen, dass eine »Ampel« (Rot-Grün-Gelb) zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlicher ist als »Jamaika« (Schwarz-Gelb-Grün). Dazu kommt, dass Parteien eine starke Verhandlungsmacht nur selten auch wirklich durchsetzen können, wenn die Verteilung der Verhandlungsmacht mit der Verteilung der gewonnenen Sitze nicht übereinstimmt. Der Grund: Es menschelt eben auch in Verhandlungen. Neben Parteiinteressen spielen auch die soziale Einbettung und die persönlichen Interessen der Verhandler eine Rolle. Die beiden großen Parteien werden sich nicht so weit erpressen lassen, dass ihre politische Identität bis zur Unkenntlichkeit verwässert wird. Das wäre kaum mit dem Selbstbild und den Überzeugungen der Verhandler vereinbar. Außerdem würden zu starke Abweichungen auch die Konventionen und Normen fairer Machtaufteilung verletzen. Dass solche eher »soften«, sozialen Einflüsse die harten strategischen Determinanten von Verhandlungsmacht wirkungsvoll überlagern, wurde in den letzten Jahren vielfach nachgewiesen.
Menscheln kann auch Konflikte erzeugen. Ein Beispiel sind die Koalitionsverhandlungen 2017. Damals gab es wochenlange Sondierungen für ein Jamaika-Bündnis, welche die Liberalen am Ende platzen ließen, weil sie der Meinung waren, von Schwarz-Grün über den Tisch gezogen und als Stimmenfutter missbraucht zu werden. »Besser nicht regieren, als schlecht regieren«, dieser Satz Christian Lindners ist seither das Trauma der Liberalen geworden, weil viele Wähler (vor allem viele Wähler, die zum ersten Mal FDP wählten) sich um ihre Stimme betrogen fühlten.
Eine detaillierte Analyse zeigt, dass die Verhandlungen damals gezeichnet waren von Spannungen nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Parteien, bei welchen Egoismen und mit Misstrauen unterlegte interne Machtansprüche das Geschehen dominierten. Keiner traute keinem. Das führte dazu, dass es entgegen den Erwartungen von Wählern, Politikern und Wissenschaftlern am Ende wieder zu einer von allen ungeliebten, großen Koalition kam.
Ein zweites Mal kann Lindner sich einen derartigen Eklat wohl nicht leisten. Seine Partei muss mitregieren, zugleich aber darauf achten, nicht den Eindruck zu erwecken, opportunistisch mit allen zu koalieren, ein Verdacht, der die FDP in ihrer Geschichte seit den Anfängen begleitet. Das gelingt aus einer Position der Stärke, die zugleich nicht arrogant daherkommt. Zwar hat Lindner im Wahlkampf autoritativ das Finanzministerium einer künftigen Regierung für sich beansprucht (um zugleich einen Kardinalfehler seines Vorvorgängers Guido Westerwelle zu heilen, der sich für das Auswärtige Amt entschieden hat). Doch seit dem Wahlsonntag ist von Regierungsposten auffallend wenig die Rede, auch bei den anderen. Niemand will mit frühzeitigen Selbstbindungen durch öffentliche Forderungen, was Ministerämter angeht, Konflikte heraufbeschwören, die die Koalitionsbildung gefährden könnten.
Und was ist bei all der Taktiererei und Menschelei mit den Inhalten, um die es »eigentlich« immer geht, nimmt man die Worte der Politiker zum Nennwert? Strategisch ist die Gegensätzlichkeit zwischen FDP und Grünen erstmal unwichtig, wenn man annimmt, dass jede Gewinnerkoalition die beiden kleinen Parteien umfassen muss. Dann müssen die Kleinen sich ja in jedem Fall einigen, egal was am Ende herauskommt und egal wie die Interessenlage ist. Anschließend werden die Zugeständnisse der großen Parteien bei den Ministerposten dann unter den kleinen Parteien so verteilt, dass beide im Ergebnis ihre Interessen gewahrt sehen. Dann wird es auch an den »Inhalten« nicht scheitern. Schon jetzt werden mit rhetorischer Begleitmusik ideologische Gegensätze in zukunfts-, wachstums- und klimafreundliche Ergänzungen innerhalb der Ampel umgemünzt. Und wer weiß, wenn alles scheitert, wird am Ende vielleicht doch wieder die große Koalition ins Spiel gebracht.
Der Essay erschien Anfang Oktober in der Neuen Zürcher Zeitung
Rainer Hank und Axel Ockenfels