Hank beißt in den Hot-Dog
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September 2023
Vertrieben aus dem Schlaraffenland

Pieter Brueghel d.Ä. »Scharaffenland« Foto wikipedia

Unsere überbordenden Staatschulden werden wir lange nicht los.

Milton Friedmans vermutlich berühmtester Satz lautet: »There ain’t no such thing as a free lunch.«. Feinschmecker benutzen dafür gerne das Akronym »TANSTAAFL«. Friedman, Ökonomienobelpreisträger des Jahres 1976, hat das Diktum nicht erfunden, aber nachhaltig popularisiert: Demnach gibt es nichts umsonst auf dieser Welt, irgendeiner muss die Zeche am Ende zahlen.

Das Diktum Friedmans versteht sich als Kritik an Regierungen, die ihren Bürgern vorgaukeln, sie mit Wohltaten zu beglücken, ohne dass es etwas kostet. Die Umsonst-Verheißung lautet: Wir besteuern lediglich die großen Konzerne oder wir lassen die Notenbanken das Geld drucken. Friedman zertrümmert beides. Wenn der Staat Steuern von den Unternehmen nimmt, kommt dieses Geld in Wirklichkeit von realen Menschen: entweder von den Kunden oder den Mitarbeitern oder den Aktionären dieser Firma. Und wenn die Notenbank mehr Geld druckt, konsumieren die Leute mehr, die Unternehmen erhöhen die Preise – und am Ende gibt es Inflation, nichts anderes als eine Art von Steuer, die alle Bürger entrichten müssen.

Friedmans Lehre galt lange Jahre als unfehlbares Dogma. Auch Staatschulden gibt es nicht umsonst, die Rechnung kommt nur später getreu der Devise: Die Schulden von heute sind die Steuern von morgen. Staatsschulden wären demnach ein besonders Anwendungsfall von TANSTAAFL: Das Geld beglückt die Bürger von heute und bringt den aktuellen Regierungen zum Dank dafür Wählerstimmen. Die Rechnung geht an die Kinder und Enkelkinder.

Indes wäre es ein Missverständnis zu meinen, Staatsschulden seien stets etwas Negatives. Es gibt »gute« und »schlechte« Schulden, wie Barry Eichengreen in seinem 2021 erschienenen Buch »In Defense of Public Debt« dargelegt hat: Der Wohlstand von Nationen wurde häufig auf Pump geschaffen. Und ohne Schulden kann keine Armee einen Krieg gewinnen. Einerseits. Andererseits haben Schulden Staaten in den Ruin getrieben und Menschen in Armut gestürzt. Die Krux dabei: Es handelt sich um eine Ex-Post-Betrachtung. Was »gute« und was »schlechte« Schulden sind, weiß man erst im Nachhinein. »Ex ante« erzählen alle Regierungen ihren Bürgern und ihren Gläubigern, dass es sich um gute Schulden handle.

Schuldentilgung durch Arithmetik?

Eine wachsende Zahl von Ökonomen wollte uns in den vergangenen Jahren glauben machen, Friedman sei überholt und Staatsverschuldung sei kein Problem. Sie beriefen sich auf schlichte Arithmetik. Die Realzinsen vieler Länder waren über geraume Zeit sehr niedrig, zuweilen sogar leicht negativ. Demgegenüber blieb das Wirtschaftswachstum entwickelter Volkswirtschaften moderat positiv. Sofern der langfristige Zins, den die Staaten am Kapitalmarkt für ihre Schulden zahlen müssen, geringer ist als das gesamtwirtschaftliche Wachstum, verschwinden die Staatschulden mit der Zeit wie durch Zauberhand von alleine, ohne dass dafür die Steuern erhöht, die Ausgaben gekürzt und Kinder oder Enkel zur Kasse gebeten werden müssten. Denn der Schuldenstand im Zähler wächst langsamer als das BIP im Nenner. Bei Negativzinsen macht der Staat mit Schulden sogar noch ein Geschäft.

Wir seien heute ziemlich nah an einem Free Lunch, bekamen wir lange Zeit von Ökonomen zu hören, die als modern galten und deren Rat liebend gerne von Regierungen abgeholt wurde. Denn dieser Rat lief hinaus auf eine Art schuldenpolitische Unbedenklichkeitsgarantie. Denn der Free Lunch eröffnete fiskalpolitischen Spielraum für gesellschaftspolitisch wünschenswertes Staatshandeln – gegen den Klimawandel, für die Bildung, für die Digitalisierung und/oder für mehr Waffen und Soldaten. Und das alles kostenlos.

Die Pumpökonomen sind mittlerweile verstummt. Die Welt von heute ist eine andere. Mit der Inflation ist der Zins zurückgekommen. Vom schuldenfinanzierten Schlaraffenland redet keiner mehr. Einzig der Ausgabenhunger der Staaten ist geblieben. Neben der regenerativen Transformation der gesamten Wirtschaft, der teuren Digitalisierung, Begehrlichkeiten auf neue Sozialleistungen alternder Gesellschaft (Rente, Gesundheit) fordert die »Zeitenwende« weltweit ihren Milliarden-Tribut für Rüstung, Sicherheit und größere wirtschaftspolitische Unabhängigkeit.

Kein Wunder, dass die Verschuldung der Staaten der Welt inzwischen auf einem Rekordniveau ist, vergleichbar der Situation im Jahr 1947. Damals war ein Weltkrieg die Ursache, heute treibt eine Kette von Krisen die Ausgaben (Finanz-, Euro-, Corona-, Energiekrise). Hinzu kommen die direkten und indirekten Kosten des Ukrainekriegs. Die weltweiten öffentlichen Schulden erreichten 2022 eine Summe von 92 Billionen Dollar. Dies geht aus dem »A world of debt« der Vereinten Nationen vom Juli hervor. Laut dem Bericht hat sich die Verschuldung der Staaten seit 2000 verfünffacht, während sich das globale BIP im gleichen Zeitraum lediglich verdreifachte.

Besonders dramatisch ist die Staatsverschuldung in den USA. Sie liegt aktuell bei rund 31,5 Billionen US-Dollar – das entspricht einer Schuldenquote im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt von etwa 120 Prozent. Damit rangieren die Vereinigten Staaten in den Top 20 der am höchsten verschuldeten Länder – weit vor beispielsweise Deutschland mit einer Staatsschuldenquote von knapp 67 Prozent. Zur Finanzierung ihrer Verbindlichkeiten müssen die USA dieses Jahr geschätzte 396 Milliarden US-Dollar oder knapp 7 Prozent ihrer gesamten Staatsausgaben aufbringen und damit mehr als für allgemeine Schulbildung, Katastrophenhilfe, Landwirtschaft, Wissenschaftsförderung, Raumfahrtprogramme, Entwicklungshilfe und Umweltschutz zusammen. Noch bis in die 1980er Jahre lag die Verschuldungsquote der USA bei lediglich 30 Prozent.
Dass dies auf Dauer nicht gut gehen kann, zeigt die Geschichte der Staatspleiten seit der Antike. Wo genau der »Tipping Point« liegt, bei dem die Gläubiger nervös werden, lässt sich im Vorhinein nicht exakt berechnen. Die Finanzmärkte werteten es als Warnschuss, dass die Ratingagentur »Fitch« Anfang August die Vereinigten Staaten von Triple-A auf AA+ zurückstufte.

»Ratlosigkeit«: Leo Trotzkis Wahrheit

Vor dem Hintergrund dieser dramatischen Entwicklung sollte man klären, ob und wie es gelingen könnte, die weltweite Rekordverschuldung wieder auf ein normales Maß zurückzuführen. Dazu hat Barry Eichengreen auf dem traditionellen Treffen der wichtigsten Notenbanker und Geldpolitiker der Welt in Jackson Hole (Rocky Mountains) Ende August einen vieldiskutierten Vortrag gehalten. Das Treffen stand unter dem Thema »Strukturelle Umbrüche in einer globalen Ökonomie«. Linke Beobachter glaubten das Ergebnis der Tagung mit jenem Begriff zusammenfassen zu können, mit dem Leo Trotzki die bürgerlichen Politiker der späten 1930er Jahre charakterisierte – »Ratlosigkeit«.
Mit dieser Zusammenfassung liegt man nicht gänzlich falsch. Denn auch Eichengreen zeigte sich ratlos bei seinen Überlegungen, wie es den Staaten gelingen könnte, sich ihrer Schuldenlast zu entledigen. Seine Ratlosigkeit resultierte aus einer ziemlich rationalen, in Teilen brillanten Analyse der Indizien dafür, warum die weltweiten Schulden nicht nur kurz-, sondern auch mittelfristig kaum geringer werden dürften.

Im Gegenteil: Die Schulden werden wachsen. So muss der amerikanische Staat inzwischen für seine zehnjährigen Anleihen einen Zinssatz von 4,5 Prozent zahlen, während das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts derzeit 2,4 Prozent beträgt. Wenn der Zähler der Schuldenquote aber stärker steigt als der Nenner, dann ist es aus mit dem Schlaraffenland. Selbst wenn mittelfristig die Nachfrage der für ihr Alter vorsorgenden Sparer nach sicheren Anlagen hoch und der Zins damit moderat bleiben könnte, so ist doch auf der anderen Seite gewiss, dass auch die Wachstumsraten der Industrienationen niedrig bleiben werden. Und zugleich werden die Staatsausgaben nicht geringer werden, sondern mutmaßlich weiter steigen.

Auch die Hoffnung einiger, die Inflation könnte die Schulden schrumpfen lassen, dämpfte Eichengreen gewaltig. Der Traum einer »finanziellen Repression« hat allenfalls so lange einen Effekt, solange die Inflation die Volkswirtschaften überrascht. Deshalb ist die Verschuldung in den Jahren 2021 und 2022 in vielen Ländern leicht gesunken. Doch dann haben die Zentralbanken damit begonnen gegenzusteuern, der Zins stieg, während die Teuerung auf der anderen Seite das Wachstum drückt. Damit schmolz die Hoffnung rasch dahin, man könne die Schulden einfach inflationieren.

Dabei ist es kein ökonomisches Naturgesetz, dass Staaten keine Chance haben, sich aus der Schuldknechtschaft zu befreien. Der Weg dorthin führt über strukturelle Reformen mit dem Ziel, die Haushalte zu konsolidieren, mithin über die Einschränkung öffentlicher Leistungen und/oder die Erhöhung von Steuern. So etwas ist unter dem Schlagwort »Austerität« während der Eurokrise schwer in die Kritik geraten. Im 19. Jahrhundert war das anders. Eichengreen erinnert daran, dass etwa Großbritannien nach den Napoleonischen Kriegen, Frankreich nach den Kriegen gegen Preußen oder die USA in der Ära der Bürgerkriege ihre kriegsbedingt hohen Schulden zurückzuführen verstanden und Haushaltüberschüsse erwirtschaften konnten. Eine Reihe von Ländern (Norwegen, Singapur, Belgien, Irland, Kanada) haben ihre Haushalte noch in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts auf diese Weise saniert. Dafür braucht es neben einem robusten Wirtschaftswachstum eine Art nationaler Solidarität zur Haushaltsdisziplin. Kein Wunder, dass solche Konsolidierungsgeschichten in modernen Wohlfahrtsstaaten die Ausnahmen geblieben sind.

So wünschenswert es wäre, so unwahrscheinlich ist ein Abbau der Staatsschulden weltweit, so lautet das Resümee des Berkeley-Ökonomen Eichengreen. Man mag es mögen oder auch nicht – Staaten werden wohl noch lange mit den Schulden leben müssen. Das heißt auch, dass sie einen beträchtlichen Teil ihrer Einnahmen für den Schuldendienst aufbringen müssen und nicht für »gute Werke« einsetzen können. Selbst sichere Länder mit bestem Ranking wie die USA können sich nicht in Sicherheit wiegen, dass irgendwann ein schlechteres Rating ihnen einen höheren Zinssatz abnötigen wird. Das Warnsignal dazu gab jetzt die Ratingagentur Fitch. Milton Friedmans Dogma bleibt gültig; ein Schlaraffenland ist hinieden nicht vorgesehen.

Eine leicht gekürzte Fassung dieses Essays ist Anfang September in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.

Rainer Hank