März 2022
Ökonomie des Imperialismus
Warum Putins Großreich scheitern wird
Friedrich Naumann (1860 bis 1919) ist ein bekannter liberaler Politiker (und protestantischer Theologe). Als Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) war es ihm um einen »sozialen Liberalismus« zu tun, »weil nämlich der Liberalismus im Stande sein müsse, der deutschen Arbeiterbewegung, die heute sozialdemokratisch ist, einen Rückhalt zu geben«.
1915, im zweiten Jahr des Ersten Weltkriegs, veröffentlichte Naumann seine Kampfschrift »Mitteleuropa«. Die Kehrseite des »sozialen Liberalismus«, den Naumann im Auge hatte, müsse ein »liberaler Imperialismus« sein. Naumann im Original-Ton: »Solange uns also die Sonne noch leuchtet, müssen wir den Gedanken haben, in die Reihe der Weltwirtschaftsmächte erster Klasse einzutreten. Dazu gehört die Angliederung der anderen mitteleuropäischen Staaten und Nationen.« Neben allgemeinen Forderungen nach überseeischen Absatzmärkten, globalem Ressourcengewinn und gesteigertem Handelsvolumen offenbart sich in Naumanns Schriften ein geradezu klassischer Transfer darwinistisch geprägter Herrschaftskonzepte auf die damals populäre Lebensraumtheorie, sagt die Historikerin Ulrike Jureit. Noch einmal Naumann: »Es ist der Trieb des deutschen Volkes, seinen Einfluss auf die Erdkugel auszudehnen.«
Naumann ist ein unsympathischer Bursche. Als liberales Vorbild taugt er nicht. Der Historiker Götz Aly nennt ihn die »Leiche im Keller der FDP«. Doch geht es mir hier nicht darum, den Mann gut hundert Jahre später moralisch zu entlarven. Das wäre einigermaßen unhistorisch und albern. Die meisten der liberalen Deutschen dachten im 19. Jahrhundert national-imperial. Viel wichtiger ist es zu erkennen, wie imperialistische Konzepte funktionieren, die bis heute den Krieger und Aggressor Wladimir Putin antreiben. Es ist verrückt anachronistisch. Aber es ist eben auch unsere schreckliche Gegenwart in diesen ersten Tagen und Wochen des Krieges in der Ukraine.
Der imperialen Herrschaft geht es um die Sicherung und Ausweitung ihres Einflussraumes. In seiner Mitteleuropa-Vision träumte Naumann davon, ein gegen England und Russland gerichtetes Staatengebilde zu schaffen. Und zwar unter deutscher Vorherrschaft und in Fusion mit Österreich-Ungarn sowie unter Einschluss sogenannter »Zwischenvölker« (Polen, Tschechen, Litauer), deren Sprachenvielfalt zwar zu tolerieren, Mitteleuropa hingegen »im Kern deutsch« zu denken sei: eine Wirtschaftsgemeinschaft nach dem Vorbild des deutschen Zollvereins als Militärverbund, Staatenbund und föderativem Imperium. Zwischen Rhein und einer vom Baltikum über die Ukraine bis Rumänien gezogenen Linie einschließlich des Balkans sollte mittelfristig alles dazu gehören – am Ende werde auch der Vordere Orient in dieses Großreich eingegliedert sein.
Noch einmal: »Mitteleuropa« wurde 1915 veröffentlicht – und galt als meistgelesene Kriegszielschrift. Dabei war das Konzept Friedrich Naumanns schon damals anachronistisch und Ausdruck einer illusionären Größenfantasie. Nach der Niederlage blieb in den Versailler Verträgen nur noch ein geschrumpftes Deutsches Reich übrig. Ein abermaliger Versuch zur Durchsetzung der darwinistischen Lebensraumtheorie durch Hitler und die Nationalsozialisten führte geradewegs in die barbarischen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs. Und endete in der Katastrophe der Zerstörung ganz Europas.
Die Sowjetunion: Das letzte Imperium
Doch der Imperialismus war damit nicht am Ende. Am längsten überlebten die Ideen in der Sowjetunion. Stalin hatte sich vom Internationalismus der frühen Sowjetunion gelöst und sich zu einem imperialistischen Nationalisten gewandelt. Richtschnur der sowjetischen Ökonomie wurde die Idee, in nationalem Interesse mit planwirtschaftlichen Mitteln ein Großreich autark zu steuern. Jegliche Bewegung von Produktionsfaktoren über Landesgrenzen hinweg – ob von Kapital, Gütern oder Menschen – galt als schädlich und sollte unterbunden werden. Imperialismus geht stets einher mit Protektionismus und ist insofern das Gegenteil von Globalismus, der auf Wohlstandsgewinne durch Handel bei offenen Grenzen setzt.
Was ist die ökonomische Logik des Imperialismus? Für größere politische Einheiten sprechen Skaleneffekte: Die Bereitstellung öffentlicher Güter wird günstiger. Eine öffentliche Verwaltung, wenn sie effizient arbeitet, muss eine gegebene Zahl von Staatsdienern nicht erweitern, einerlei ob sie Steuern von fünf oder von fünfzehn Millionen Bürgern einzieht. Die Pro-Kopf-Kosten eines öffentlichen Gutes sinken also mit wachsender Staatsgröße. Ein größerer Staat kann günstiger aufrüsten, ein größeres Heer, dickere Panzer, solideren Grenzschutz anbieten, ebenfalls zu geringeren Preisen.
Gäbe es nur Größenvorteile, müssten alle Regierungen den Drang entwickeln, zum Weltreich zu werden. Doch den Vorteilen der Größe stehen Kosten der Integration gegenüber. Zuletzt ist auch der sowjetische Imperialismus kollabiert. Woran? An den immensen ökonomischen und politischen Integrationskosten, die jedes Großreich seit dem antiken Rom über Dschingis Kahn und Tamerlan bis Breschnew noch immer überfordert haben. Je größer ein Staat, umso mehr nimmt seine innere Vielfalt und Heterogenität zu: Sprache, Rasse, Tradition, Einkommen bleiben höchst unterschiedlich und ungleich verteilt, woraus sich für die innere Einheit eines Landes und dessen Imperator ein immer größeres Risiko ergibt. Solche nicht aushaltbaren Spannungen übertreffen die erhofften Skaleneffekte eines Großreichs bei weitem und bewirken eines Tages den Kollaps.
Kein Wunder, dass sich seit 1945 die Zahl der Nationen fast verdreifacht hat – von 74 im Jahr 1946 auf 193 unabhängige Staaten heute. Verantwortlich für diese Vervielfältigung ist zum einen die Entkolonialisierung – Erbe des europäischen Imperialismus – und zum anderen der Zerfall des Sowjetimperiums und dessen Folgen (die friedliche Teilung der Tschechoslowakei und das kriegerische Zerbrechen Jugoslawiens). Auch die Ukraine ist seit dem 1. Dezember 1991 ein unabhängiger Staat. Und mehr und mehr eine offene Gesellschaft geworden.
Vervielfältigung der Staaten
Diese Vervielfältigung der Staaten wurde zum Segen für die Menschheit – für Frieden und Wohlstand. Die verbreitete Vorstellung, kleinere Staaten hätten es schwerer als größere, liegt vollkommen falsch. Das Gegenteil ist richtig: Unter den reichsten Ländern mit den zufriedensten Menschen sind auffallend viele kleine Länder (Schweiz, Singapur, Estland, Lettland). Nationale Souveränität und wirtschaftliche oder politische Bündnisse (EU, Nato) brauchen sich dabei nicht auszuschließen.
Wladimir Putin war immer ein Feind der offenen Gesellschaft. Er hat immer von der Restauration des zaristischen und sowjetischen Imperiums geträumt. Der Zerfall des Sowjetreiches – so Putin 2014 – habe zur Folge gehabt, dass Millionen von Russen in den ehemaligen Sowjetrepubliken abends in ihrem gemeinsamen Staat schlafen gingen und am Morgen als ethnische Minderheit aufgewacht seien. Die Russen, so Putin weiter, seien seither die größte ethnische Gruppe der Welt, die durch Grenzen voneinander getrennt seien. Dieses Trauma macht er zum Narrativ seines Eroberungsfeldzugs. Die Diaspora der »Bio-Russen«; Folge von Stalins Deportations- und Ansiedlungspolitik muss als Legitimation des neuen revisionistischen Imperialismus Putins herhalten.
Rational und bei nüchterner Betrachtung spricht alles gegen imperiale Reiche. Doch der Imperialismus ist trotz seines ökonomischen und politischen Irrsinns und vielfältigen Scheiterns nicht tot zu kriegen. Dass hat fürchterliche Folgen für die Menschen. Sie verlieren ihren Wohlstand, ihre Freiheit und häufig auch ihr Leben.
Eine gekürzte Version erschien am 4. März auf der Meinungsseite der Neuen Zürcher Zeitung
Rainer Hank