Februar 2024
Leistung, Gleichheit, Gerechtigkeit
Erfüllt der Kapitalismus sein Versprechen?
Der Kapitalismus hat wenig Freunde. Selbst jene, die ihm gewogen sind, vermeiden den Begriff, sprechen lieber von »sozialer Marktwirtschaft«. Statt ihn zu loben und zu preisen, verteufelt man ihn. Kapitalismus verdirbt nicht nur den Charakter, sondern auch das Klima – im wörtlichen Sinn. »Gier, Profitsucht, Maßlosigkeit« gelten sowohl als Voraussetzung wie auch als Folge kapitalistischen Wirtschaftens. Nicht Wohlstand, Freiheit und Gerechtigkeit sind seine Attribute, sondern Krisen, soziales Elend, Ungleichheit und eine gefährliche Fragilität unserer Lebenswelt, die die Gesellschaft zu destabilisieren drohen.
Kapitalismus ist kalt. Die ist ein Topos, der sich seit Wilhelm Hauffs Novelle »Das kalte Herz« (1827) bis in die heutige antikapitalistische Rhetorik durchzieht. Es lohnt, einen kurzen Blick auf das Schwarzwald-Märchen des schwäbischen Dichters. Der arme Kohlenbrenner Peter Munk sehnt sich nach Reichtum und Ansehen. Der Holländer-Michel, ein windiger Geselle, bietet einen verführerischen Tauschhandel an: Er verspricht Peter Munk Geld unter der Bedingung, dass er sein Herz hergibt und sich dafür ein steinernes Herz einsetzen lässt. Mit dem Herz aus Stein ist Peter unempfindlich für menschliche Regungen, verstößt seine alte Mutter und tötet im Zorn sogar seine junge Frau, weil sie einen armen alten Mann mit Essen versorgt. Niemand schafft es, das steinerne Herz zu erweichen. Am Ende fühlt sich auch der steinreiche Peter Munk nicht mehr wohl in seiner Haut. Es gelingt ihm mit List, ein fühlend-mitleidiges Herz zurückzubekommen: »Es ist doch besser zufrieden zu sein mit wenigem, als Gold und Güter zu haben, und ein kaltes Herz.«
Der Dichter Wilhelm Hauff, ein studierter Theologe, war der Meinung, dass die beginnende Industrialisierung und das »glücksspielhafte« Prosperieren geschickter Kapitalspekulation die Gesellschaft demoralisiere, die Familienbande auflöse und »Genuss- und Trunksucht, Müßiggang und Schwindelei« fördere. Das Geld pocht wie das warme, pochende Herz. Doch der Puls des Geldes ist der kalte Rhythmus von Zins- und Kursgewinn. Man muss etwas von dieser mythologischen Bilderwelt der romantischen Kulturkritik kennen (in die im frühen 19. Jahrhundert sich auch Karl Marx einordnet), um die lange Tradition des abendländischen Antikapitalismus verstehen zu können.
Die romantische Rhetorik unterschlägt, dass und in welchem Maße der Kapitalismus unsere Welt, unser Leben und unseren Wohlstand radikal geprägt hat. Es ist die Erfolgsgeschichte einer »andauernden Revolution«, sagt der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe.
Wechseln wir nun von der Literatur und der Rhetorik zu den Daten und den Fakten:
Kapitalismus – eine kurze Definition muss sein – so nennen wir eine Wirtschaftsweise, die die Produktion von Gütern, Dienstleistungen und Finanzen dem Markt überlässt, auf dem das (mehr oder weniger) freie Spiel von Angebot und Nachfrage den Preis bestimmt. Voraussetzung einer guten Marktordnung ist eine Gesellschaft, in der Rechtssicherheit herrscht und das Privateigentum respektiert wird. Mithin bedarf es eines staatlichen Ordnungsrahmens als Ermöglichungsbedingung für kapitalistisches Wirtschaftens. Staat und Markt sind keine Gegensätze, sondern aufeinander angewiesen.
Schauen wir auf die historische Entwicklung, so fällt auf: Während es bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts keinen nennenswerten wirtschaftlichen Fortschritt gibt, entfaltet sich dieser fortan exponentiell. Man könnte in Anlehnung an Claude Levi-Strauß und in Umkehrung der Metapher Wilhelm Hauffs sagen: Die Weltgeschichte war bis etwa 1820 eine »kalte Gesellschaft«, danach wurde sie eine »warme Zivilisation«, die das Leben für alle Menschen verbesserte, wenn auch nicht für alle in gleichem Maße.
Ich nenne stichwortartig sieben Fortschrittgeschichten; die Zahlen stammen von der Internetplattform »Our World in Data« aus Oxford, die über die historische Entwicklung der Lebensverhältnisse der Menschheit informiert.
- Wachstum: Das Bruttosozialprodukt der Welt entwickelte sich zwischen 1820 und heute von (mehr oder weniger Null) auf 100 Billionen Dollar im Jahr. Der Normalzustand vor 1820 war nicht eine wachsende, sondern eine stationäre Wirtschaft, bei der die Produktion an Gütern und Dienstleistungen pro Kopf mehr oder weniger konstant blieb. Das änderte sich mit der industriellen Revolution exponentiell.
- Lebenserwartung: Die Lebenserwartung der Menschen lag um 1820 zwischen 28 und 35 Jahren. Heute können wir im Schnitt auf 55 Lebensjahre in Afrika und über 80 Jahre in Europa hoffen.
- Armut: Der Anteil der Weltbevölkerung, die in extremer Armut lebt, ist zwischen 1820 und heute von 75 Prozent auf gut zehn Prozent zurückgegangen.
- Kindersterblichkeit: Während 1820 bis zu 43 Prozent der neugeborenen Kinder das fünfte Lebensjahr nicht erreichten, liegt die Kindersterblichkeit inzwischen weltweit im unteren einstelligen Bereich (3,6 Prozent). Der Erfolg des Kapitalismus geht stets einher mit medizinischem Fortschritt.
- Lebenszufriedenheit: Hier gilt grob die Formel die Lebenszufriedenheit umso größer ausfällt, je höher der Wohlstand ist. Die Armutsidylle Wilhelm Hauffs hält der empirischen Überprüfung nicht Stand.
- Wasser, Energie und medizinischer Basisversorgung: Hier haben die Erfolge des Kapitalismus jährlich viele Millionen Menschen vor dem Tod gerettet. 75 Prozent der Weltbevölkerung haben inzwischen Zugang zu sauberem Wasser.
- Bildung: 1820 konnten 10 Prozent der Weltbevölkerung lesen. 1950 waren es mehr als 50 Prozent. Heute sind es nahe 90 Prozent.
Nun ist auf den ersten Blick nicht ausgemacht, dass der Wohlstandsfortschritt der Menschheitsgeschichte auf den Kapitalismus zurückzuführen ist. Zum Beleg verweise sich auf die Geschichte Koreas, die wie ein Laborexperiment gelesen werden kann. 1953, nach dem Koreakrieg, waren das ganze Land arm. Inzwischen hat sich der Wohlstand zwischen dem Norden (Kommunismus) und dem Süden (Kapitalismus) weit auseinanderentwickelt. Einem Bruttosozialprodukt Südkoreas von 2027 Milliarden Dollar stehen 40 Milliarden im Norden gegenüber.
Was ist mit Ungleichheit und Klimawandel?
Doch es gibt eine Kehrseite. Inwiefern ist der Kapitalismus verantwortlich dafür, dass die Welt nicht gleich ist? Ungleichheit ist ungerecht, sagen selbst viele Sympathisanten des Kapitalismus. Bis waren die meisten Menschen der Welt arm, eine verschwindend kleine Oberschicht lebte in großem Luxus. Wollen wir diese egalitäre Welt wiederhaben? Gewiss nicht. Der Kapitalismus verspricht keine Ergebnisgleichheit. Gute Ideen und Erfolg im Wettbewerb führen zu Ungleichheit. Das ist gewollt.
Ist der Kapitalismus verantwortlich für den Klimawandel? Tatsächlich sind die CO2–Emissionen gerade in den Hochzeiten der kapitalistischen Produktion exponentiell gewachsen. Inzwischen haben sich Wachstum und CO2–Emissionen glücklicherweise entkoppelt. Nachhaltigkeit ist machbar. Den Klimawandel, Kollateralschaden des Kapitalismus, zu zähmen, dazu gibt es CO2–Preise und den Emissionshandel. Dann geht der CO2–Fußabdruck zurück. Und die Apokalypse findet nicht statt.
Man kann dem Kapitalismus nicht vorwerfen, was er nie versprochen hat. Man kann sich nur freuen, über das, was er liefert. Nicht versprochen hat der Kapitalismus:
- Gleichheit: Ein Versprechen von Ergebnisgleichheit wäre töricht. Denn es würde alle schlechterstellen. Das Versprechen von Chancengleichheit mittels Bildung hingegen gehört sich für eine liberale Gesellschaft. Bildung (Kitas, Schulen, Universitäten) brauchen Kapitalismus als Voraussetzung: Denn ein gutes Bildungssystem muss man sich leisten können. Der ökonomische Erfolg der Bürger eines Landes ist die Bedingung der Möglichkeit eines Wohlfahrtsstaates. Dieser verkürzt durch Steuern und Sozialabgaben den Abstand zwischen Arm und Reich. Es gab einmal eine Zeit in Europa, in der die obersten zehn Prozent 90 Prozent des Vermögens zur Verfügung hatten. Inzwischen sind es lediglich 50 bis 60 Prozent. Wer will, kann das immer noch zu viel finden: Über das Maß der Umverteilung entscheidet in einer Demokratie das Volk. Das Volk hat unterschiedliche Präferenzen; deshalb gibt eine »Variety of Capitalism«. Die Staatsquote Deutschlands beträgt 48 Prozent, diejenige der Schweiz lediglich 32 Prozent (2023).
- Meritokratie: Leistung soll sich lohnen. Aber der Erfolg im Leben ist nie nur von der eigenen Leistung abhängig. Zu sagen, der Kapitalismus schaffe eine meritokratische Gesellschaft, wäre grausam. Denn dann müsste jeder, der es nicht geschafft hat, sich als Versager bezichtigen. Der Erfolg hat immer viele Väter und Mütter. Der Zufall spielt eine große Rolle. Bescheidenheit zügelt die meritokratische Anmaßung.
- Allzuständigkeit: Dass der Markt alles regle, haben die Freunde des Kapitalismus nie behauptet. Die Behauptung dient vielmehr den Gegnern als Waffe, den Kapitalismus Als Totalitarismus zu denunzieren.
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Kurz und knapp: Der Kapitalismus erfüllt ein Versprechen, dass er nie gegeben hat, dem wir aber zugestimmt hätten, hätte er ein Versprechen gegeben. Man kann von »adaptiven Präferenzen« sprechen: Es kommt uns so vor, als hätten wir das gewählt, was der Kapitalismus geschaffen hat, ohne uns zu fragen: Wohlstand, Gesundheit, Freiheit.
Der Text geht auf einen Impulsvortrag beim NZZ-Podium in Zürich zurück am 8. Februar 2024
Rainer Hank