Hank beißt in den Hot-Dog
‹ alle Texte anzeigen

Januar 2022
Katholisch und liberal – geht das?

Der Erfinder des Katholizismus: Papst Pius IX (1792 bis 1878) Foto: erzbistum-wien.at

Die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert

Seit Juli dieses Jahres wird im Vatikan in einem Aufsehen erregenden Strafprozess gegen den Kurienkardinal Angelo Becciu und neun weitere Angeklagte verhandelt. Es geht um Veruntreuung, Amtsmissbrauch, Korruption, Erpressung, Geldwäsche und Betrug. Becciu war Präfekt der Kongregation für Selig- und Heiligsprechungsprozesse, ein mächtiger Kirchenmann, als »Substitut« die Nummer zwei im vatikanischen Staatssekretariat. Er soll insgesamt 250 Millionen Euro in einen Londoner Gebäudekomplex (»Palazzo«) investiert haben. Papst Franziskus legte Becciu 2020 den Rücktritt von allen Ämtern nahe und nahm ihm alle Vollmachten, die mit der Kardinalswürde verbunden sind. Faktisch war dies ein Rauswurf. Der Kardinal fügte sich, wiewohl er sagt, dass er sich keiner Schuld bewusst sei.

Das Geld für das Investment in London soll zum großen Teil aus dem sogenannten Peterspfennig stammen, einem seit dem 8. Jahrhundert jährlich von den Katholiken aus aller Welt aufgebrachter Obolus zur Unterstützung der Aufgaben des Heiligen Stuhls. Dabei sollen Provisionen und Gebühren von bis zu 60 Millionen Euro geflossen sein – unter anderem auch an den Schweizer Finanzberater Enrico Crasso. Insgesamt ließ der Vatikan sich das Engagement 350 Millionen Euro kosten, ob rentierlich ist umstritten.
Der Prozess, der im Grunde noch gar nicht richtig begonnen hat und durchaus noch scheitern kann, nimmt inzwischen eine überraschende Wendung: Aus den vatikanischen Anklägern wurden Angeklagte. Nicht im strafrechtlichen, dafür aber im menschenrechtlichen Sinn. Dass der Papst seinen Kabinettschef entlässt, komme einer Vorverurteilung gleich, welche die rechtsstaatlich gebotene Unschuldsvermutung ignoriere. Der Vatikan hat in den Prozess eingegriffen und hält wichtiges Beweismaterial zurück: Videos des Verhörs eines »Kronzeugen« wurden dem Gericht nur unvollständig zur Verfügung gestellt. Inzwischen geht es auch darum, ob der Papst selbst als Zeuge vernommen werden muss.

Der Papst als Richter und Gesetzgeber

Der Papst ist im Vatikan Staatsoberhaupt, oberster Richter und oberster Gesetzgeber zugleich – und zudem hierarchischer Oberhirte der weltumspannenden katholischen Kirche. Die vatikanischen Richter sind ihm zu Loyalität und Gehorsam verpflichtet, mithin dem Recht im jeweiligen päpstlichen Verständnis. Es gibt keine unabhängige und unparteiische Justiz. Für die Verteidigung ist die fehlende Rechtsstaatlichkeit ein Beweis dafür, dass es für ihre Mandanten keinen fairen Prozess geben könne – zumal der Vatikan kein einziges internationales Dokument unterzeichnet hat, welches das Recht zur Appellation an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zusichert.
Papst Franziskus, der keine Gelegenheit auslässt, auf die Einhaltung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in aller Welt zu pochen, steht einem theokratischen Staat vor, der sich weder zu Rechtsstaatlichkeit noch zu Gewaltenteilung je bekannt hat. Der Papst ist der letzte absolutistische Monarch der Welt. In Analogie zu Victor Orban in Ungarn, der stolz in einer »illiberalen Demokratie« regiert, müsste man den Papst als Souverän einer illiberalen Monarchie bezeichnen (England zum Beispiel wäre eine liberale-demokratische Monarchie). Das Grundgesetz des Vatikanstaates, in Kraft seit dem 1. Februar 2001, hält in Artikel 1, Absatz 1 fest: »Der Papst besitzt als Oberhaupt die Fülle der gesetzgebenden, ausführenden und richterlichen Gewalt.« Die richterliche Gewalt »wird im Namen des Papstes« ausgeübt, heißt es in Artikel 15.

Der grobe Antikapitalismus des aktuellen Papstes (»Diese Wirtschaft tötet«) speist sich aus dieser Rechtstradition einer Ablehnung von Aufklärung und Liberalismus. Seine antikapitalistische Rhetorik steht dabei nicht im Widerspruch zu Finanzspekulationen im großen Stil: In Geldgeschäften ist der Kirchenstaat seit der Renaissance geübt, auch wenn wie häufig nicht erfolgreich waren.

Das System einer auf den Papst zentrierten weltlichen und geistlichen Macht ist jung und alt zugleich. Seine bis heute gültige Gestalt geht auf Papst Pius IX. zurück. Er regierte von 1846 bis 1878 – das längste Pontifikat in der Geschichte der katholischen Kirche. In seiner Jugend liberal, häutete er sich nach für ihn traumatischen Erfahrungen während der 48er Revolution zu einem Mann, der die Moderne zutiefst verachtete. Der deutsche Kirchenhistoriker Hubert Wolf hält Pius IX. für den »Erfinder« des Katholizismus, ein Akt der »invention of tradition«, die das Neue als das ewig Gültige zu legitimieren sucht. »Io, io sono la tradizione, io, io sono la Chiesa!« So soll der Papst an einem Sommertag des Jahres 1870 einen seiner Gesprächspartner angeschrien haben: »Ich, ich bin die Tradition, ich, ich bin die Kirche!« Das doppelte »io« des vielfach kolportierten Satzes markiert die Egozentrik des Monarchen mit Nachdruck.

Kirchenstaatlicher und geistlicher Absolutismus spiegeln sich aneinander. Wichtiger als die auf dem Ersten Vatikanischen Konzil beschlossene Unfehlbarkeit bei »ex cathedra«-Entscheidungen in Glaubens- und Sittenfragen ist der vom Papst uneingeschränkt beanspruchte Jurisdiktionsprimat. Der oberste Hirte hat nicht nur die höchste »Pastoralmacht« (Michel Foucault) inne, sondern auch die oberste Gesetzgebungskompetenz in der Kirche. Die Welt unterhalb des Papstes ist strikt stände- und geschlechterhierarchisch in zwei Klassen geteilt: In den unteren Stand der Laien (Frauen und Männer) und in die der geweihten Männer (vor allem Priester und Bischöfe) darüber, denen Kraft der sakramentalen Handauflegung »ontologisch«, also ihrem Wesen nach, eine besondere Qualität (»character indelebilis«) zukommt. Es werden zwei Arten von Christen geschaffen, so der protestantische Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann mit Bezug auf das katholische Kirchenrecht seit dem Mittelalter: Der Klerus, der sich von allem Weltliche fernhält und zu einem keuschen Leben verpflichtet ist. Die Laien dagegen besitzen weltliche Dinge, nehmen sich Frauen und bearbeiten die Erde. Aus seinem ontologischen Vorrang begründet der Klerus das Privileg einer Ferne vom weltlichen Staat: Seiner Befreiung von Steuern und Kriegsdienst, sowie einer Immunität gegenüber der weltlichen Straf- und Zivilgerichtsbarkeit.

Meinungsfrei oder katholisch

Der »Syllabus Errorum«, von Papst Pius IX. seiner Enzyklika Quanta Cura von 1864 angefügt, listet 80 irrige Sätze auf, die von der katholischen Kirche verdammt werden. In dieser geballten Form sei die Moderne vorher noch nie von der Kirche abgelehnt worden, schreibt der Historiker Hubert Wolf in seiner Biographie Pius IX. (»Der Unfehlbare«), wenngleich einzelne Sätze schon zuvor diskutiert und verurteilt wurden. Satz 80 dieser irrigen Ansichten lautet: »Der Römische Bischof kann und soll sich mit dem Fortschritt, mit dem Liberalismus und mit der modernen Kultur versöhnen und anfreunden.« Darin zeigt sich die Intention des gesamten Syllabus: Katholizismus und Moderne, Papsttum und Liberalismus sind nicht miteinander vereinbar. »Wer für Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Volkssouveränität, eine demokratische Staatsform und Religionsfreiheit eintritt, kann nicht katholisch sein.« (Hubert Wolf).

Pius IX. ließ keinen Zweifel, was er von der Freiheit hielt: »Ein liberaler Katholik ist ein halber Katholik.« Vom »frivolen Weltgeist« müssten die Katholiken sich fernhalten, dekretierte er. Es ist kein Zufall, dass einige Jahre zuvor vom selben Papst die »Unbefleckte Empfängnis Marias« dogmatisiert wurde. Während nach der Lehre des Heiligen Augustinus in jedem Akt der Zeugung sich als Folge der sexuellen Lust die Erbsünde von Generation zu Generation fortpflanzt, hat Gott mit Maria eine einmalige Ausnahme gemacht und sie vom Makel der Erbsünde bewahrt. Diese Lehre wurde vom Papst dogmatisiert und in anti-aufklärerischem Sinn instrumentalisiert. Pius IX. hegte die Hoffnung, die Gottesmutter müsse in die Geschichte eingreifen, um die weltliche Herrschaft des Papstes gegen die revolutionären Umtriebe der Zeit zu sichern.
Der Syllabus ist bis heute nicht zurückgenommen worden. Zwar wurden gut hundert Jahre später durch das Dekret »Dignitatis humanae« des Zweiten Vatikanischen Konzils Gewissensfreiheit und Menschenrechte anerkannt. Doch das gilt nur für die säkulare Welt, nicht innerhalb der katholischen Kirche. Aufklärung, Moderne, Liberalismus auf der einen Seite und Kirche auf der anderen bleiben einander bis heute fremd. Der deutsche Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde hat dies im Jahr 1957 beschrieben: Der Katholizismus bringe das Naturrecht gegen die Demokratie in Stellung und habe sich darauf versteift, erst jenseits des Naturrechts könne Demokratie beginnen -, wobei der Umfang des Naturrechts von der Kirche bestimmt wird.

Man kann die Linien noch weiterziehen, so wie es der Protestant Thomas Kaufmann macht. Dann ist es eine Folge der stände- und geschlechterhierarchischen Ordnung, dass Frauen in der römischen Kirche marginalisiert werden. Priesterliches Jungfräulichkeitsideal und massenhafter Kindesmissbrauch sieht Kaufmann als »Konsequenz dieser menschenverachtenden, der menschlichen Natur widerstreitenden Norm«. Zwingend ergibt sich daraus, dass Vergehen eines Priesters nicht dem Staatsanwalt vorgelegt werden, sondern »in einer klerikalen Vertuschungsmaschinerie entsorgt werden«.

Gut möglich, dass die katholische Kirche inzwischen zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als solcher ein entspannteres Verhältnis hat – aber eben nur außerhalb ihres eigenen Rechtsraums. In der Kirche selbst haben Gewaltenteilung, Demokratisierung oder Verwaltungsgerichtsbarkeit bis heute keine Chance. Dass sich das in kirchlichen Stellungnahmen und theologischen Erörterungen zuweilen versöhnlicher anhört, ändert nichts daran, dass das kühle Kirchenrecht vom aufgeklärten Liberalismus denkbar weit entfernt ist. Der Bonner Kirchenrechtler Norbert Lüdecke behauptet in seinem jüngst erschienenen Buch »Die Täuschung«, dass die Bischöfe immer dann, wenn sie ihr System bedroht sehen, gemeinschaftlich mit willigen Laienhelfern Gesprächsprozesse initiieren (»Dialog«, »Gemeinschaft«, »synodaler Weg«), dabei aber die vormodern-hierarchischen Gegensätze und Strukturen der Kirche unbehelligt lassen. Täuschung durch die kirchliche Hierarchie, Selbsttäuschung der Laien und Ent-Täuschung von immer mehr Gläubigen, die die Kirche verlassen -, all das gehört eng zusammen.

Der Essay ist am 27. Dezember 2021 auf der Meinungsseite der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.

Persönliche Anmerkung: Am 13. Dezember 2021 bin ich aus der katholischen Kirche ausgetreten (nach 68 Jahren Zugehörigkeit).

Rainer Hank