November 2020
Journalismus – korrupt oder nicht korrupt?
Anmerkungen zum Verhältnis von PR und Journalismus
Meine erste Pressereise fand vor über dreißig Jahren im Sommer 1989 statt. Auf Einladung der indonesischen Regierung und perfekt organisiert von der amerikanischen PR-Agentur Hill & Knowlton wurden wir Wirtschaftsjournalisten drei Wochen lang durch den südasiatischen Inselstaat geführt: Es ging auf Jeeps durch die Regenwälder Kalimantans und in Bussen zu den Seidenwebern Sulawesis. Wir besuchten eine Tunfischfabrik auf Sumatra und flogen mit Helikoptern über die Reisfelder Balis. Zwischendurch gab es Ruhetage an den Pools ausgesuchter Fünfsternehotels und abends Darbietungen kultischer Tänze, damit wir Journalisten einen Einblick in die Tradition der lokalen Religionen bekämen. Was soll ich sagen: Die Reise hatte mir gut gefallen.
Weil ich nicht nur fleißig, sondern auch ehrgeizig bin, brachte ich einen ganzen Strauß von Berichten meiner Zeitung nach Frankfurt mit: Darüber, dass die Regenwälder auf Borneo ordentlich wiederaufgeforstet würden, dass die Tunfischindustrie ein wichtiger Wirtschaftszweig sei, dort freilich Frauen unter harten Arbeitsbedingungen schuften müssten. Und dass das Schwellenland Indonesien alles in allem nicht nur wirtschaftlich, sondern auch technologisch auf einem guten Weg sei. Meine Berichte waren nicht unkritisch, aber sie hatten insgesamt einen positiven Tenor. Ich vermute, genauso hatte Hill & Knowlton sich das gewünscht. Sein Kunde, das diktatorische Regime Suhartos, konnte zufrieden sein. Was nicht heißen muss, dass damals viele Leser der alten Bundesrepublik ausgerechnet auf ein halbes Dutzend Zeitungsberichte aus Indonesien gewartet hätten.
»Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.« Mit diesem Satz beginnt Niklas Luhmans berühmte Studie über die »Realität der Massenmedien« aus dem Jahr 1995. Die Realität der Massenmedien ist, dass die Medien die Realität nicht abbilden, sondern erschaffen. Das darf man nicht so verstehen, dass sie sie völlig frei erfinden. Aber sie müssen unterschlagen, dass es immer auch eine andere, womöglich sogar gegenteilige Sichtweise gibt, die nicht in den Blick kommt und in den Blick passt. Die Presse produziert, folgt man Luhmanns Konstruktivismus, notwendigerweise perspektivische Abschattungen der Wahrheit, was noch nicht einmal das Schlimmste ist. Das Schlimmste ist, dass der Journalist glaubt, was er schreibt. Er sieht den eigenen Konstruktivismus nicht, darf ihn womöglich gar nicht sehen.
Ich glaube, so erging es damals auch mir. Ich hatte mich nach besten Kräften informiert, gewiss auch Quellen und Daten zurate gezogen, die uns von Hill & Knwolton nicht zur Verfügung gestellt wurden. Aber das »Framing« der Reise, wie man heute sagt, war vorgegeben. Innerhalb dieses Rahmens hatte ich mich orientiert.
Journalisten überschätzen die moralische Korruptheit der Welt
Weil es meine erste Pressreise war, musste ich annehmen, so würden alle Journalistenreisen verlaufen. Damals, in den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts, lag ich damit auch gar nicht falsch. Natürlich ging es nicht immer so üppig zu wie bei uns in Indonesien, wenn man einmal von den sprichwörtlichen Luxusreisen für Auto- und Reisejournalisten absieht. Journalisten verstanden sich damals als eine Art von natürlichen Verbündeten der Presseabteilungen der Unternehmen. Man flog mit dem Energieunternehmen auf die Ölplattform und mit dem Chemieunternehmen zu dessen Standorten in Südamerika – selbstverständlich auf Kosten der Firmen. Das alles muss man den damaligen Kollegen nicht gleich zum Vorwurf machen. Sie taten es arglos. Oder soll man sagen: So haben es alle gemacht. Der Kollege der New York Times war der einzige in unserer fünfzehnköpfigen Indonesientruppe, der am Ende der Reise um eine Rechnung bat.
Heute neigen Journalisten zu einer Überschätzung der moralischen Korruptheit der Welt. Damals war die Haltung der meisten Kollegen von einer Unterschätzung möglicher Korruptheit geprägt. Dass Erkenntnis und Interesse zusammengehören und es die Aufgabe von PR ist, ökonomische Wirklichkeit im Interesse ihrer Shareholder und Stakeholder zu konstruieren, war damals, wenn überhaupt, allenfalls theoretisch bewusst, spielte aber im journalistischen Alltag kaum eine Rolle.
Das alles kommt uns heute merkwürdig fremd vor. Und das ist gut so. Ein grundsätzliches Misstrauen allen Informanten gegenüber ist Journalisten inzwischen habituell zur zweiten Natur geworden. Damit will ich nicht sagen, die latente Korrumpierbarkeit des Journalismus sei heute geringer als früher oder gar, der Journalismus habe sich moralisch gebessert. Es haben sich bloß die blinden Flecke des medialen Konstruktivismus verschoben. Heute gilt es für Journalisten als normal, das Weltverständnis der Klimaaktivisten oder der Genderpopulisten affirmativ zu übernehmen und dies als kritische Haltung auszugeben anstatt ihrerseits zu kritisieren. Dem liegt ein unausgesprochener Pakt mit dem Zeitgeist von heute zugrunde.
Doch die entscheidende Differenz heute zur Zeit meiner journalistischen Anfänge hat ohnehin weniger mit Moral als mit Macht zu tun, genauer gesagt mit Machtverlust des Journalismus. Das Erklärungs- und Deutungsmonopol der klassischen Leitmedien ist gebrochen. Früher galt: Erst wenn es in der FAZ steht, ist ein Ereignis wirklich geworden. Die Tagesschau galt als eine Art amtliche Mitteilungsagentur der Regierung. Luhmanns Behauptung, um noch einmal auf ihn zurückzukommen, stammt aus dem Jahr 1995, sozusagen der letzten Phase des vordigitalen Zeitalters. Heute könnte er den Satz, alles, was wir über die Welt wissen, wüssten wir aus den Massenmedien, nicht mehr aufrechterhalten. Oder besser noch, Luhmann müsste den Begriff der Massenmedien auf die gesamte virale Welt unserer Gegenwart ausdehnen: auf alle Tweets und Soundbites, Podcasts und Kolumnen, YouTube-Clips und Influencer-Bilder.
Das Ende des Kartells
Dieser neue Plattform-Kapitalismus hat die alten Medien entmachtet: Jeder kann Blogger, Influencer, Youtuber werden, also eine Art Journalist sein, wenn er will und seine Follower findet. Die »Zero-Illusion« – es gibt alles scheinbar kostenlos – verschafft diesen neuen Massenmedien einen weltweiten Markt, sofern sie sich am besten der englischen Sprache bedienen oder gleich auf die bewegten sprachlosen Bilder der Tiktok-Ökonomie konzentrieren.
Das alles hat das kartellartige Freundschaftsbündnis zwischen PR und Journalisten empfindlich geschwächt. Wie immer, wenn Kartelle geschwächt werden, ist das gut für den Verbraucher. Jeder halbwegs Gebildete kann sich heute selbst ein Bild über Daimler, BASF oder den schwäbischen Maschinenbauer Trumpf machen. Sie oder er brauchen dazu lediglich den Internetauftritt dieser Firmen aufrufen. Die Kommunikations-Departments (die zu meinen Anfängen noch »Pressestellen« hießen) mit ihren personell aufgerüsteten Newsrooms sind sozusagen selbst ins B2C-Geschäft eingestiegen.
Mehr noch: PR versteht sich heute in viel größerem Umfang als früher als eine Art weltdeutendes Full-Service-Angebot. Dazu zählt insbesondere, dass man das zur Information gehörende Storytelling gleich mitliefert. Früher gab es Umsatz- und Ergebniszahlen, verbunden, wie gesagt, mit einer kleinen Reise zur Präsentation dieser Zahlen in die Toskana. Heute gibt es »Geschichten«, die das unternehmerische Handeln in einen »Purpose« verpacken, um zu zeigen, dass es den Unternehmen nicht nur um schnöden Profit (igitt!), sondern um »mehr« zu tun ist: die Rettung des Klimas, die Befreiung der Welt von Rassismus, die identitätspolitische Gleichstellung aller Menschen, selbstverständlich genderqueer. Die PR-Abteilungen, nicht zuletzt auch die großen PR-Intermediäre (Hering Schuppener & Co.), bringen es darin zur Meisterschaft, nicht zuletzt, weil sie ihr Personal deutlich besser bezahlen können als die »alten« Medien.
Sagen wir es aus der Perspektive der PR: Der klassische Journalismus der immer noch Leitmedien genannten Publikationen hat im Verlauf der letzten dreißig Jahre für die Unternehmenskommunikation an Bedeutung verloren. Im vergangenen Jahr war ich wieder einmal auf einer Pressereise unterwegs, dieses Mal auf Einladung des Tourismusministers aus Usbekistan im Rahmen einer Initiative, das zentralasiatische Land für Reisende aus dem Westen zu öffnen. Die PR-Agentur, die die Fahrt durchführte, machte gar kein Hehl daraus, dass man viel stärker als auf uns Printleute auf die Gruppe der Influencerinnen setze, mit der man die Reise ein paar Wochen später wiederholen werde.
Recherchieren sticht Moralisieren
Das alles ist kein Anlass zu Wehmut. Früher, in den Jahren des Kartellbündnisses, war vieles auch nicht besser. Im Gegenteil. Der Strukturwandel der Massenmedien wird inzwischen begleitet von einer Professionalisierung des Journalismus. Tatsächlich ist der wichtigste komparative Vorteil, den die »Leitmedien« gegen ihre neue Konkurrenz im Netz geltend machen können, ihr Professionalismus: Der Vorteil ihrer handwerklichen Ausbildung, die sie davor schützt, die Berichts- und Deutungsmacht dauerhaft an Storyteller oder Populisten zu verlieren. Zu diesen Stärken zählen, in aller Knappheit: Poche auf die Nachricht (wann, wer, wo, was), auf die Kraft des Arguments und auf die Plausibilität der Analyse zugunsten des zeitgeistigen Moralisierens! Der Begriff des Investigativen wird oft für Mittelmaß missbraucht. Aber die Investigation kann zugleich immer wieder als journalistische Meisterleistung Triumphe feiern – zuletzt durch die bohrenden Recherchen der Financial Times im Fall Wirecard. Es ist der Scoop der Journalisten der FT, die sich gegen das Betrugsunternehmen Wirecard, dessen Bündnis mit den großen Wirtschaftsprüfern und alle staatlichen Kontrollgremien am Ende durchgesetzt haben – und sogar den Staatsanwalt nicht fürchteten, den die deutsche BaFin auf sie angesetzt hatte. Nicht zuletzt lag das an der Rückendeckung, welche das Investigationsteam von seiner Chefredaktion erhielt.
Das Beispiel FT und Wirecard zeigt, dass ein »Haltung« genanntes Moralisieren im Journalismus aus meiner Sicht auf dem Holzweg ist, weil es zwar stets das Gute will, aber nicht wahrnimmt, doch nur mit den Wölfen des Zeitgeistes (auch denen in den PR-Abteilungen) zu heulen. Ich plädiere für eine andere Art der »Haltung«, die der amerikanische Schriftsteller Graham Greene die »Tugend der Illoyalität« nannte. Greenes in anderem Zusammenhang entwickelte kleine Verhaltenslehre der Illoyalität eignet sich sehr gut als Vademecum für den Profi-Journalisten. Deren oberster Grundsatz heißt: Nimm im Zweifel die Position des Advocatus Diaboli ein! Bleibe unberechenbar! Insistiere auf das Recht der Gegenposition! Und bleibe standhaft, auch und gerade, wenn Du in der Minderheit bist! Methodisch kann man sich an den Regeln angelsächsischen Debattierclubs orientieren, ein Spiel der dialektischen Vernunft, welches der heutige Haltungs-Moralismus nicht mehr auszuhalten bereit ist. Es ist die Ermutigung zu a-moralischer Ungebundenheit und Freiheit.
Der Text ist erschienen im Heft 11/2020 des pr-Magazins
Rainer Hank