Hank beißt in den Hot-Dog
‹ alle Texte anzeigen

September 2019
Johann Sebastian Bach rettet das Christentum

Johann Sebastian Bach

Zur Zukunft der Religion

Überlegungen anlässich der 150 Bachkantate in St. Katharinen, Frankfurt am Main am Samstag, 7. September 2019

»Hören, spielen, lieben, verehren – und die Schnauze halten«
Albert Einstein auf die Frage: Was ich zu Bach zu sagen habe (1928)

Die Emmanuel Church steht seit 1861 an der Newbury Street im bürgerlichen Herzen Bostons unweit des öffentlichen Stadtgartens. Ein typischer Bau des Historismus, so wie man auch in Berlin oder London in diesen Jahren gebaut hat. Emmanuel ist die Kirche der Episcopal Gemeinde. Als wir im Frühjahr und Sommer 1997 für ein paar Monate in Boston lebten, wählten wir Emmanuel als Gemeinde, weil uns als Katholiken die anglikanische Liturgie vertraut vorkam, heimatlicher jedenfalls als die der Baptisten oder Methodisten. Und weil wir keine ordentliche katholische Kirche fanden. In Emanuel beeindruckten uns theologisch geschliffene Predigten, radikales soziales Engagement der Gemeindemitglieder und ein anscheinend angeborener Sinn für religiöse Ästhetik.

Was wir nicht wussten und seither nicht mehr vergessen: In der Emmanuel Church hatte im Jahr 1970 Craig Smith, ein begnadeter junger Dirigent, die Idee, alle Kantaten Johann Sebastian Bachs im Sonntagsgottesdienst zu Gehör zu bringen – und zwar jeweils genau an jenem Sonntag, für welchen sie Bach komponiert hatte. Das machen die Frommen dort jetzt seit fast fünfzig Jahren. In den achtziger Jahren war der Theatermacher Peter Sellars zur Gemeinde gestoßen – tief beeindruckt von deren Engagement für die Obdachlosen der Stadt oder die Flüchtlinge aus El Salvador, Menschen, an denen das Leben vorbei gegangen war. Es schien kein Zufall, dass Sellars gerade hier die bildliche Lebensnähe Bachs bewusst werden sollte, den er bis dahin für einen abstrakten Komponisten gehalten hatte. Sellars, der später durch seine Dramatisierung der Matthäuspassion mit Simon Rattle weltberühmt wurde, hatte erstmals in der Emmanuel Gemeinde die Idee, die Musik Bachs zu dramatisieren. In einem Gespräch mit dem britischen Dirigenten Simon Halsey berichtet er von seiner damaligen Erfahrung: »Wenn Du die Bach-Kantate 199 – Mein Herz schwimmt im Blut – hörst, nachdem Du gerade jemanden davon überzeugt hast, sich nicht umzubringen, verstehst Du, das Bachs Musik sehr lebensnah ist.«

Believing versus belonging

Wer Samstagabends nach St. Katharinen in Frankfurt am Main oder Sonntagnachmittags in die Christophorusgemeinde in Wiesbaden-Schierstein kommt, wo abwechselnd unter Michael Graf Münster oder Clemens Bosselmann (zuvor Martin Lutz) seit nunmehr 15 Jahren ebenfalls Monat für Monat Johann Sebastian Bachs Kantaten aufgeführt werden, versteht, dass man Bach nicht notwendigerweise inszenieren muss, um die Dramatik und bildliche Lebensnähe seiner Musik zu erfahren. Das kriegen die Kantorei St. Katharinen und die Schiersteiner Kantorei auch ohne Schauspielerei im Singen und Stehen hin. Wohlgemerkt, es ist die Musik selbst, die eine solche Bildlichkeit entfaltet. Das dazugehörige Libretto, nicht selten einigermaßen sperrig, vermag diese Erfahrung allenfalls zu unterstützen und zu verstärken. Keinesfalls ist es umgekehrt. Die Musik selbst versetzt den Hörer in eine innere Bewegung, der er sich weder entziehen kann noch mag. Und dies inmitten der Stadt an der Frankfurter Hauptwache, wo, wenn es einmal lauter wird, die skandierenden Rufe einer Demo, die Gitarrenklänge einer Bolivianischen Gesangsgruppe oder das Gegröle der schon früh am Abend Betrunkenen in die Kirche schwappt.

»Believing is not a condition of belonging«, ist das Motto der Bach-Gottesdienste in Bostons Emmanuel Church, eine Formel, die in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts von Grace Davie geprägt wurde, der großen alten Dame der britischen Religionssoziologie. Das Diktum könnte auch über den Kantaten-Gottesdiensten in Frankfurt und Wiesbaden stehen: Kirchenmitgliedschaft ist keine Voraussetzung des Glaubens. Dieser Glaube ist vielmehr eine direkte Wirkung der Musik und allenfalls sekundär Ausfluss der Wortverkündung. So steht es in jenem berühmten handschriftlichen Notabene Bachs zu Abraham Calovs Bibelkommentar (2 Chron. 5,13): »Bei einer andächtigen Musik ist allezeit Gott mit seiner Gnade Gegenwart«.

Seit 2004, als in Frankfurt und Wiesbaden die Tradition der Bach-Kantaten begonnen wurde, hat die Evangelische Kirche in Deutschland rund fünf Millionen Mitglieder verloren. Es sind jetzt noch gut 21 Millionen eingetragene Gläubige da, ein Begriff, den man nicht allzu zu wörtlich nehmen sollte. Bei den Katholiken ist der Schwund noch gewaltiger. Man kann nicht sagen, dass die vielen Austritte oder Nichteintritte ohne Zutun des kirchlichen Personals passiert wären. Der Zwangsläufigkeit der Säkularisation, der die Kirchenfrauen und –männer gerne die Schuld in die Schuhe schieben, ist in Wahrheit ihre eigene Kreation, ein rhetorischer Sündenbock, der ihrer ureigenen Verantwortung ablenkt. Wäre die Säkularisierung so determiniert, wie die Kirchenbeamten tun, müssten andere urbane Industriegesellschaften – allen voran die USA – demselben Trend unterliegen. Das ist offenkundig nicht der Fall.

Ausgerechnet in der deutschen evangelischen Kirche, die das Wort Gottes und seine Auslegung an die oberste Stelle eines intellektuell redlichen Lebens zu stellen angetreten war, ist die Verkündigung inzwischen häufig zu einer leeren Formelsprache verkommen, die im Hecheln hinter dem gendergerechten gesellschaftlichen Mainstreams den Kontakt zum wirklichen Leben längst verloren und zu dessen Deutung kaum mehr etwas beizutragen hat. »Kuschelgottesdienste« und »Wellnessreligionen«, so der Münchner Systematiker Friedrich Wilhelm Graf, die Gott nur noch als allumfassende Liebe, aber nicht mehr als Schöpfer des Himmels und zugleich zornigen Rächer auf Erden kennen, braucht keiner. Sie geben sich kritisch, merken nicht, wie angepasst sie sind – und verspielen das Vertrauen und den Glauben der Christengemeinde.

Sollte das (evangelische) Christentum überleben, was nicht ausgemacht ist, dann am ehesten mit und wegen seiner Musik. Auch diese Vermutung kommt von dem Theologen Friedrich Wilhelm Graf. Ich glaube – oder befürchte – er hat Recht. Es wäre am Ende keine schlechte Ironie, wenn sich die Gesangskunst, welcher Luther, Calvin & Co. stets weniger vertraut haben als dem nackten Wort, am Ende als Hüterin des Glaubens anböte, eine Aufgabe, welche die Schrift nicht mehr zu erfüllen vermag. Dieses Unvermögen, es sei der Redlichkeit halber hinzugefügt, liegt wahrlich nicht nur an der miserablen Performance der Kirchenbeamten, sondern auch an der heutigen Instagram-Kultur, in der das Lesen aus der Übung gerät, während das Hören (Spotify und Podcasts) immer noch, schlecht oder recht, gepflegt wird. Es war wohl etwas voreilig von der dialektischen Theologie, den Kulturprotestantismus des liberalen Christentums aus dem 19. Jahrhundert zu verdammen. Schließlich verdanken wir ihm die Bewahrung der Tradition der Bachschen Musik, in der wir jene Lebensnähe spüren, welche der Kirche verloren ging.
Eberhard Jüngel hat die Feier der christlichen Feste als »heilsame Unterbrechung« bezeichnet. Das ließe sich in viel stärkerem Maße noch von den Bachschen Kantaten sagen. In dieser Unterbrechung ereignet sich nämlich konkret, worum es im Leben geht: Um erinnern, wiederholen und durcharbeiten. Um Modulationen desselben Motivs, wo wir den Prozess der Veränderung manchmal erst viel später, manchmal gar nicht bemerken. Um Harmonien, die dissonant werden und sich am Ende doch auflösen. Welch ein Trost. Da capo: An jedem ersten Samstag des Monats in St. Katharinen an der Frankfurter Hauptwache und am darauffolgenden Sonntag in der Christophoruskirche in Wiesbaden-Schierstein.

Rainer Hank