März 2025
Investieren ohne Schulden

Deutschland braucht Innovation und Investition – aber dafür kein neues Sondervermögen
Abstract: Deutschland hat einen enormen Investitionsstau. Sondern und ein besorgniserregendes Defizit bei den Innovationen. Das gefährdet den Wohlstand. Bevor über die Notwendigkeit von mehr Staatsausgaben nachgedacht wird, bedarf es einer Reflexion auf die Staatsaufgaben. Private Investitionen müssen Vorrang haben vor staatlichen Subventionen. Eine Reform (vulgo: Abschaffung) der Schuldenbremse würde das Problem nicht lösen, sondern verschleiern.
Die Carolabrücke in Dresden ist zum traurigen Symbol geworden. Die Bilder vom Einsturz des Bauwerks am 11. September 2024 sind erschreckend. Selbst Fachleute zeigten sich überrascht. Denn die Brücke galt gar nicht als marode. Anders als tausende andere Brücken in Deutschland.
Deutschland hat nicht nur seit Jahrzehnten einen Sanierungsstau, sondern auch einen Stau bei den Investitionen und Innovationen. Vor allem die öffentliche Infrastruktur ist in vielen Bereichen marode.
So hat sich seit 1991 der Straßengüterverkehr mehr als verdoppelt. Notwendige Instandhaltungsarbeiten blieben häufig aus. Viele Brücken stammen aus den 1960er- bis 1980er-Jahren, insbesondere große Tal- und Flussbrücken. Von insgesamt rund 130.000 Brücken in Deutschland sind mehrere zehntausend in Zuständigkeit von Bund, Ländern, Deutscher Bahn und Kommunen sanierungsbedürftig. Experten gehen bei den rund 67.000 Brücken in kommunaler Verantwortung davon aus, dass jede zweite Straßenbrücke in schlechtem Zustand ist. So reichen die öffentlichen Investitionen auch im Tiefbau seit Jahren nicht mehr aus, um den Modernitätsgrad Deutschland zu erhalten.
Hinzu kommt: Hunderte Kilometer Schienen der Bahn müssen erneuert werden. Dies führt auf Jahre dazu, dass die Leistungen der Bahn unberechenbar werden, Fahrzeiten sich verlängern, große Verspätungen der Regelfall sind und zudem völlig unkalkulierbar geworden sind. Veraltete Bahnhöfe und das marode, teilweise völlig überlastete Schienennetz machen auch dem Güterverkehr zu schaffen.
Straßen und Schienen sind nur die sinnfälligsten Bereiche des Investitionsdefizits. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine wissen wir, dass unsere Verteidigung nicht nur dringend mehr Geld, sondern auch einen effizienteren Einsatz der Mittel benötigt. Im Bildungsbereich, einem Dauerbrenner, hat Deutschland zuletzt schlechter als je zuvor abgeschnitten, was laut dem Sachverständigenrat nicht zuletzt auf ungenügende Mittel für die frühkindliche Bildung und den Grundschulbereich zurückzuführen sein dürfte. Es sind also nicht nur die katastrophalen Schultoiletten, die zu schaffen machen.
Nehmen wir noch die mangelhafte Energieinfrastruktur, den Rückstand bei der Digitalisierung im Vergleich mit vielen anderen Industrieländern und – last but not least – die verzögerte Klimatransformation der gesamten deutschen Wirtschaft dazu, so zeigt sich sehr konkret das ganze Desaster dessen, was sich hinter dem Schlagwort »Investitionsstau« verbirgt.
Mehr noch: Die überbordende Bürokratie lähmt unsere Wirtschaft, sie erdrosselt innovatives Unternehmertum. Deutschland droht zu einem Industriemuseum zu verkommen, mit entsprechenden Folgen für Wohlstand und Wachstum. Der alte Kontinent hat in vielen Bereichen gegenüber China, aber mehr noch gegenüber den USA den Anschluss verloren. Nach wie vor ist unsere Wirtschaftspolitik viel zu sehr auf Bestandsschutz ausgerichtet und zu wenig darauf eingerichtet, Neues zu ermöglichen und zuzulassen. »Wir leben noch von Sprunginnovationen der Gründerzeit, von vor 140 Jahren«, klagt Rafael Laguna de la Vera, Direktor der Bundesagentur für Sprunginnovationen. Pfadabhängig die alten Strukturen zu konservieren, statt disruptiv zu modernisieren – das ist der Kern der Malaise. Ob es Subventionen für Werften zum Bau von Kreuzfahrtschiffen sind oder Beihilfen zur Stahlproduktion im Ruhrgebiet, ob Milliardenhilfen für strauchelnde Chip-Produzenten oder Agrardiesel für Landwirte – gefördert werden primär bestehende Betriebe, während innovative Unternehmen fliehen. Für die Erforschung der Möglichkeit von Sprunginnovationen (vulgo Disruptionen) gibt der Staat einen Bruchteil dessen aus, was er an Subventionen dem deutschen Industriemuseum zuteilwerden lässt.
So anschaulich die Defizite vor Augen sind, so schwierig wird es, den Investitionsbedarf zu beziffern. Basierend auf Angaben des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr wird der Bedarf des Bundes für Bundesstraßen und Autobahnen für die Jahre 2025 bis 2028 auf über 57 Milliarden geschätzt. Der Bedarf für die Bahn beträgt im gleichen Zeitraum laut Ministerium 63 Milliarden Euro. Und bei der Energieinfrastruktur liegen die nötigen Investitionen aufgrund der Energiewende für On- und Off-Shore-Anlagen bei bis zu 270 Milliarden Euro.
Der Freiburger Ökonom Lars Feld, Direktor des dortigen Walter-Eucken-Instituts, macht darauf aufmerksam, dass die Erhebungsmethoden der Studien bei der Bezifferung des Investitionsbedarfs diskussionswürdig sind und verzerrte Angaben über das tatsächliche Ausmaß der Investitionstätigkeit vorlegen. Das liegt unter anderem auch daran, dass es aufgrund des föderalen Prinzips in Deutschland nicht eine einzige große Investitionslücke, sondern multiple Investitionsbedarfe in verschiedenen föderalen Verantwortungsbereichen gibt. Es fehlt eine zentrale Stelle, die den Überblick hat.
Wenn auch der Bedarf nicht eindeutig ist, so muss es doch besorgt machen, dass die Investitionsquote von Bund und Ländern seit dem Jahr 1992 (!) auf einem Niveau zwischen 0,5 und 08, Prozent des realen Bruttoinlandsprodukts verharrt. Die Investitionsquote der Gemeinden ging zurück. Andere Länder der Europäischen Union leisten mehr. Insbesondere bei der Verteidigung und der Bildung fällt Deutschland dramatisch gegenüber dem EU-Durchschnitt zurück.
Mehr Geld oder andere Prioritäten?
Dass Geld für Infrastruktur fehlt, steht fest. Dass der Staat deshalb insgesamt mehr Geld ausgeben muss, ist daraus aber – anders als viele reflexartig meinen – mitnichten die zwingende Konsequenz. Und schon gar nicht zwingend ist der Schluss, das fehlende Geld könne und müsse durch eine höhere Staatsverschuldung und also eine sogenannte Reform der Schuldenbremse finanziert werden. Im Gegenteil: Vieles spricht dafür, dass die ständige Wiederholung der Notwendigkeit einer »Reform« – meist pejorativ für »Abschaffung« – der Schuldenbremse von der Notwendigkeit einer Reform der Staatsausgaben ablenkt.
Zumindest drei weitere Wege der Finanzierung jenseits höherer Schulden sind denkbar, die hier diskutiert werden sollen. Zum einen könnten die Mittel durch eine Umschichtung der öffentlichen Haushalte vor allem durch das Streichen von Subventionen aufgebracht werden. Dass Geld fehlt, bedeute somit nicht, dass zu wenig Geld da ist, sondern dass zu viel Geld an anderer Stelle ausgegeben wird – in vielen Fällen ineffizient. Das fehlende Geld könnte zweitens über höhere Steuern aufgebracht werden. Wer heute über Brücken und Straßen und mit der Bahn fahren will, der muss auch dafür zu zahlen bereit sein. Spätere Generationen haben genügend eigene finanzielle Lasten zu tragen (nicht zuletzt die demografischen Lasten für die verrenteten Boomer). Ein langfristig steigender spezieller Ausgabenbedarf zum Beispiel aufgrund veränderter geopolitischer Rahmenbedingungen oder langfristiger technologischer Trends sollte über Steuern und nicht über Schulden finanziert werden, um die Staatsverschuldung in ihrem Wert stabil zu halten, schreibt der »Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz« in einem Gutachten zur »Finanzierung von Staatsaufgaben«. Schließlich kann, drittens, das fehlende Geld auch von privaten Finanziers aufgebracht werden. Das ist ein Gedanke, der in der öffentlichen Debatte kaum in den Blick kommt.
Solche Unklarheiten rühren daher, dass eine eigentlich notwendige Debatte über Staatsaufgaben nicht (mehr) geführt wird. Diskutiert wird ausschließlich über Staatsausgaben – und den Wunsch der Politiker, diese zu erhöhen. Es ist ja nicht so, dass der deutsche Staat seine Ausgaben zurückgefahren hätte oder, wie zuweilen zu hören, seiner Pflicht zur Daseinsvorsorge nicht genüge und sich »kaputtspare«. Die im Oktober 2024 abgeschaltete Ampel hat stattdessen das Geld mit vollen Händen ausgegeben. Einen Betrag von 1952 Milliarden Euro vergausgabten die öffentlichen Haushalte im Jahr 2023 – so viel wie nie zuvor (auch nicht in der Pandemie). Obwohl die Steuereinnahmen angesichts von annähernd Vollbeschäftigung sprudelten, erreichten die öffentlichen Schulden in Jahr 2023 mit 2445 Milliarden Euro einen absoluten Höchstwert – auch wenn die Schuldenquote bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt mit 68 Prozent im internationalen Vergleich relativ niedrig ist (aber gleichwohl über den vom Maastrichtvertrag der EU erlaubten 60 Prozent liegt). Während die Verschuldung zwischen 2012 und 2019 in der Ära Merkel entgegen der jahrzehntelangen Tradition rückläufig war (Wolfgang Schäubles »Schwarze Null«), stieg sie in den Ampel-Jahren wieder an, und eben auch unabhängig von der Pandemie.
Wenn das öffentliche Geld nicht für die nötigen Investitionen verwendet wird, wo landet es dann? Kurz gesagt: Im Konsum. Unter Konsum verstehen Volkswirte alles, was nicht Investition ist (wobei die Abgrenzung alles andere als trivial ist), sondern in den privaten oder öffentlichen Verbrauch geht. Dazu zählen alle Sozialleistungen vom Bürgergeld bis zur Rente oder Pflege. Aber auch alle Subventionen, also staatliche Zuwendungen an Gruppen, Privatleute oder Unternehmen.
Der Unsinn der Subventionen
Werfen wir einen Blick auf die Subventionen. Deren Volumen in der Bundesrepublik belief sich im Jahr 2023 auf 322 Milliarden Euro. Das waren vier Prozent mehr als die gesamte Lohn- und Einkommensteuer, die die arbeitende Bevölkerung Deutschlands in diesem Zeitraum an den Fiskus abführen musste. In Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatten die Subventionen mit knapp acht Prozent einen historischen Höchststand erreicht. Auch dies ist ein Beleg dafür, dass der Staat nicht spart. Die Frage ist dagegen, ob er das Geld an der richtigen Stelle ausgibt.
Das darf mit guten Gründen bezweifelt werden. Ein großer Teil der Finanzhilfen insgesamt entfällt auf die Finanzhilfen des Bundes: Die sind seit dem Jahr 2014 auf Expansionskurs – somit unabhängig von der politischen Konstellation und Koalition einer jeweiligen Regierung (und auch nicht beschränkt auf die Corona-Pandemie). Hinter dem stürmischen Wachstum der Bundesfinanzhilfen stehen an vorderster Stelle jene für die Umwelt- und Klimapolitik. Sie bestehen aus vielen einzelnen, auch für Fachleute nicht mehr überschaubaren Fördermaßnahmen. Inwieweit sie effizient sind in Bezug auf die Ziele der Reduktion von CO2 ist fraglich, wird jedenfalls von der Regierung nicht im Einzelnen untersucht – worauf der Bürger eigentlich ein Recht hätte. »Bei mittlerweile 59 Finanzhilfen des Sonderfonds zugunsten Umwelt, die neben den 26 Umweltsubventionen existieren, die aus dem regulären Bundeshaushalt 2024 geleistet werden, dürfte zielgerichtetes und widerspruchsfreies Handeln schwerfallen«, schreibt die Subventionsexperten Astrid Rosenschon auf der Plattform »Wirtschaftlichefreiheit«. Dies gelte umso mehr, als es gleichzeitig zu den vielfältigen umweltpolitisch motivierten Zuschüssen ein ganzes Sammelsurium (»Förderzoo«) an Subventionen gebe, die auf eine Erhöhung der Treibhausgasentwicklung hinwirken und somit dem Ziel der ersten Gruppe zuwiderlaufen.
Ähnliches lässt sich über die Subventionen in den Verkehr und vor allem in die Bahn sagen: In der Zeitperiode ab dem Jahr 2015 hat der Bund fast 102 Milliarden Euro in das deutsche Eisenbahnwesen (nicht zuletzt zur Kompensation der Defizite in der Bilanz) gesteckt. Zusätzlich hat die Deutsche Bahn AG Mittel vom Kapitalmarkt abgezogen. Trotz dieser erheblichen Zuflüsse ist die Netz- und Servicequalität unbefriedigend und droht noch schlechter zu werden. Der Bundesrechnungshof hat in zahlreichen Gutachten Fehlsteuerungen und Organisationsmängel gerügt. »Solange die politisch Verantwortlichen diese Ratschläge ignorieren und keinen Handlungsbedarf sehen, wird die Deutsche Bahn AG weiterhin ein Fass ohne Boden bleiben«, schreibt Astrid Rosenschon.
Bezogen auf unser Thema des Investitionsstaus heißt das: Am Geld mangelt es nicht. An der Effizienz schon. Oder noch härter und als Regel des Subventionsunsinns formuliert: Mehr Geld in ein ineffizientes System zu geben, macht das System nicht besser, sondern nur noch ineffizienter. Förderwahn führt zur Vernachlässigung von staatlichen Kernaufgaben und gefährdet unsere Zukunft.
Aus Sicht liberaler Ökonomen sind Subventionen stets problematisch. Denn sie sind willkürlich (»Prinzip Gießkanne«); eine Begründung lässt sich im Nachhinein für alles finden. Subventionen sind nicht nur im Einzelfall in aller Regel ineffizient, sie ziehen meist auch weitere Subventionen nach sich und setzen damit eine »Interventionsspirale« in Gang. So führen etwa beim Klimaschutz CO2–Preise, die weit unter den sozialen Kosten der Emissionen liegen, und ein Regulierungsdickicht zu immer lauteren Rufen nach umfangreichen Subventionen, um die gesteckten Ziele zu erreichen. Ähnlich geht es auf dem Wohnungsmarkt zu. Auch hier gibt es einen enormen Investitionsbedarf von geschätzt mindestens 600.000 fehlende Wohnungen mit entsprechenden Folgen für Knappheit und hohen Mieten bei Neuvermietungen. Doch statt Anreize für den Wohnungsbau zu schaffen, verhindert oder erschwert der Staat durch kontraproduktive Regelungen (Mietpreisbremse, Kappungsgrenze), dass neue Wohnungen geschaffen werden. Der Staat ist somit ein großer Verursacher des Investitionsstaus, den er eigentlich auflösen sollte. Ähnlich kritisch sind auch die Subventionen für Großkonzerne zu bewerten (Chip-, Pharma- und womöglich bald die Automobilindustrie), die vor allem in den Ampeljahren in Mode gekommen sind. Das wird die Modernisierung des Landes eher verzögern als beschleunigen.
Ordnungspolitisch geboten wäre dagegen, dass der Staat die Rahmenbedingungen setzt, damit ein möglichst effizienter Wettbewerb möglich wird und Investitionen und Innovationen eine Chance bekommen. Veronika Grimm, Mitglied im Sachverständigenrat der Fünf Weisen, hat zur Frage, wie effiziente zukunftsorientiere öffentliche Ausgaben gelingen können, abweichend von der Ratsmehrheit Wegweisendes zu Protokoll gegeben.
Paradoxerweise bedarf es eines Rückzugs des Staates als Voraussetzung von Investitionen, so Grimm. Bei der regenerativen Transformation heißt das zum Beispiel, Emissionshandel und CO2–Preise wirken lassen und sie nicht mit finanziellen Interventionen zu konterkarieren. Besonders interessant sind die Vorschläge zur Modernisierung des Verkehrs. Die Bereitstellung von Straßeninfrastruktur könnte in Absprache mit der Europäischen Kommission in einnahmenfinanzierte, selbständig verschuldungsfähige Infrastrukturgesellschaften nach dem Vorbild der österreichischen ASFINAG (»Autobahnen- und Schnellstraßen- Finanzierungs-Aktiengesellschaft«) ausgelagert werden. Diese Gesellschaften müssten operativ und finanziell eigenständig agieren und wären damit nicht unmittelbar an die Schuldenbremse gebunden. Durch eine Einnahmenfinanzierung zum Beispiel aus der der LKW- und ein neu einzuführenden PkW-Maut wären diese Gesellschaften in der Lage, die notwendigen Investitionen eigenständig zu tragen, ohne den regulären Staatshaushalt zu belasten oder die Verschuldungskapazitäten des regulären Haushalts zu belasten.
Lars Feld hat diesen Ansatz generalisiert: Schon heute ist es für private und kleine institutionelle Anleger möglich, sich über Infrastruktursondervermögen an öffentlichen Infrastrukturprojekten zu beteiligen. Durch die Hinzuziehung privater Geldgeber wird nicht nur zusätzliches privates Kapital bereitgestellt, sondern es werden auch Effizienzsteigerungen erwartet. Besonders die Straßen-, Eisenbahn-, und Energieinfrastruktur sowie einige kommunale Bereiche könnten in Verbindung mit dem hohen Investitionsbedarf in den kommenden Jahren vielversprechende Investitionsfelder darstellen. Dabei handelt es ich um privatrechtliche Gesellschaften mit eigener Einnahme- und Kreditfähigkeit (siehe ASFINAG). Sie wären für Bau, Vertrieb und Verwaltung öffentlicher Infrastruktur zuständig. Dies wäre keinesfalls eine Umgehung der Schuldenbremse, sondern vielmehr eine Chance zur Erzielung gesamtwirtschaftlich wünschenswerter Effizienzsteigerungen durch marktwirtschaftliche Lösungen. Private Akteure können so etwas in der Regel besser als öffentliche Unternehmen. Die Betreiber müssten sich für den Zuschlag dem Wettbewerb stellen.
Hände weg von der Schuldenbremse
Schließlich geht es aber um eine Neujustierung staatlicher Ziele und entsprechender Priorisierung. Ampel-Kanzler Olaf Scholz lag ökonomisch falsch, wenn er behauptete, man dürfe Verteidigung und Sozialausgaben nicht gegeneinander ausspielen. Doch, das darf man: Ökonomisches Denken ist stets Denken in Alternativen. Wenn an der einen Stelle mehr Mittel nötig werden, können auf der anderen Seite eben nur weniger Mittel zur Verfügung stehen. Strukturelle Reformen bei den Sozialausgaben können Spielräume für zukunftsorientierte Staatsausgaben vergrößern. Wenig zielführend haben sich etwa die für den Staat sehr teure Rente mit 63 sowie die von der Union durchgesetzte Mütter- und Witwenrente erwiesen. Dass die unter der Überschrift »Bürgergeld« durchgesetzte »Reform« der Sozialhilfe (Hartz IV) teuer und für den Arbeitsmarkt kontraproduktiv war, hat sich zwischenzeitlich selbst bei der Sozialdemokratie herumgesprochen.
Aus all dem ergibt sich: Eine Änderung der Schuldenbremse, gar ihre Abschaffung, ist nicht nur nicht nötig. Sie wäre auch schädlich. Die Schuldenbremse ist nicht verantwortlich für den Investitionsstau. Eine gelockerte Schuldenbremse würde indes die staatliche Disziplinlosigkeit fördern und abermals Ineffizienzen schaffen. Die Kosten müsste der Staat beim Schuldendienst (Zinsen) mit den Steuern der heutigen Bürger und kommende Generationen bei der Tilgung mit ihren Steuern schultern. Das wäre ungerecht.
Schon David Hume wusste: »Für einen Minister ist es sehr verführerisch, das Mittel der Staatsschulden zu benutzen, das ihn in den Stand setzt, während seiner Verwaltung den großen Mann zu spielen, ohne das Volk mit Steuern zu überladen oder eine sofortige Unzufriedenheit gegen sich zu erregen. Die Praxis des Schuldenmachens wird daher fast unfehlbar von jeder Regierung missbraucht werden.« Genau aus diesem Grund wurde nach Schweizer Vorbild 2009 die Schuldenbremse im Grundgesetz verankert.
Diese besagt: In der Regel soll der Staat keine Schulden machen, sondern mit seinen Steuern auskommen. Doch ist die Bremse nicht so starr, wie viele behaupten: Die Regierung darf im konjunkturellen Abschwung bis zu einem gewissen Grad Defizite hinnehmen, wie sie umgekehrt in einer Hochkonjunktur Überschüsse durch unerwartete Steuereinnahmen erhält. Beide Effekte sind gegenläufig und stabilisieren so die Konjunktur; sie wirken als sogenannte »automatische Stabilisatoren«. Zudem sind jährliche Neukredite in Höhe von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erlaubt.
Die zugrundeliegende Idee ist uralt. Als ihr Erfinder darf der Dichter Homer aus dem achten Jahrhundert vor Christus gelten. Es geht um Selbstbindung im Wissen um die Schwachheit der menschlichen Kreatur. Im 12. Gesang der Odyssee muss das Schiff des Odysseus zwischen Skylla und Charybdis hindurch navigieren. Dort befinden sich Sirenen, Fabelwesen, die durch ihren betörenden Gesang Schiffer anlocken, um sie zu töten. Weil Odysseus dies weiß und seine Verführbarkeit kennt, weist er seine Besatzung an, ihn zu binden, »damit ich kein Glied zu regen vermöge -, aufrechtstehend am Maste, mit festumschlungenen Seilen.« Vorsichtshalber fügt er hinzu: »Fleh ich euch aber an, und befehle die Seile zu lösen, eilend fesselt mich dann mit mehreren Seilen noch stärker.« Es ist jenes von Homer erfundene Prinzip »freier Selbstbindung«, das sich hinter der Schuldenbremse verbirgt. Wenn Politiker (fast) aller Parteien heute wieder flehen, die Verfassung zu ändern, wäre das im Sinne Homers ein starkes Signal, die Schuldenbremse gerade festzuzurren.
Es ließen sich sogar gute Argumente finden, die Schuldenbremse noch zu verschärfen: Denn in ihrer heutigen Form ist nur auf die Nachhaltigkeit der Staatseinnahmen bedacht; die Nachhaltigkeit der Staatsausgaben ist damit aber, wie gezeigt, längst noch nicht sichergestellt.
Glauben wir Homer und Hume, so zeigt sich: Eine Verführung, Schulden zu machen, gab es immer schon. Die Selbstbindung, dies zu unterlassen, ist ein probates Mittel, das Wissen um die Verführbarkeit in Schranken zu halten. Das oft zu hörende Argument, die Welt habe sich seit Einführung der Schuldenbremse dramatisch geändert, ist richtig. Daraus die Begründung für die Notwendigkeit einer Lockerung oder gar Abschaffung der Schuldenbremse abzuleiten, überzeugt nicht. Die Verführung, zu viele Schulden zu machen, ist zeitlos. Die Notwendigkeit, dieser Verführbarkeit Grenzen zu setzen, ist ebenfalls zeitlos. Andernfalls gibt es kein Halten mehr auf Weg in den Schuldenstaat.
Eine leicht gerkürzte Fassung dieses Textes ist Anfang März 2025 in einem Heft der Zeitschrift »Aus Politik und Zeitgeschichte« zum Thema »Infrastruktur« erschienen.
Rainer Hank