Juni 2021
Der Neoliberalismus: Sündenbock vom Dienst
Kalt, gierig, egoistisch? Von wegen
Es gibt einen Witz aus meiner katholischen Kindheit, der geht so: »Es ist klein, braun, flink und hüpft von Baum zu Baum.« Auf diese Frage des Lehrers antwortet Fritz: »Eigentlich würde ich sagen, es ist ein Eichhörnchen, aber wie ich den Laden hier so kenne, ist es bestimmt wieder das liebe Jesulein.«
An die Stelle des »lieben Jesulein« ist in unseren säkularen Zeiten der Neoliberalismus getreten. Wo immer ein Schuldiger gesucht wird, da bietet sich der Neoliberalismus an. Sahra Wagenknecht, die kluge deutsche Vorzeigelinke, macht es vor. In ihrem neuen Buch »Die Selbstgerechten«, seit Wochen auf Platz Eins der Bestenlisten, wirft sie den Neoliberalen vor, Gier und Bereicherungssucht zu noblen Charakterzügen geadelt zu haben. Neoliberale verunglimpfen den Staat, wollen keine Steuern zahlen, haben nichts gegen Ungleichheit, sind stets auf der Seite von Big Business. Es fehlt ihnen ein Herz für die Verlierer im Kapitalismus; die toxische Wirkung des Wettbewerbes können sie nicht sehen. Für Gemeinsinn und Solidarität haben sie kein Verständnis. Egoismus ist Trumpf, Gesellschaft kommt ihn ihrem Weltbild nicht vor. Es fehlt ihnen »Maß und Mitte«.
Der Neoliberalismus steht inzwischen für alles, was falsch läuft in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Wer nicht von der Cancel Culture weggefegt werden will, vermeidet es, sich selbst als »neoliberal« zu bekennen. Auch viele Konservative distanzieren sich von den Neoliberalen, denen sie eine elitär-kosmopolitische Haltung vorwerfen, vor der – mit Karl Marx zu reden – »alles Ständische und Stehende« verdampft«.
Die tonangebenden Kreise links wie rechts sind sich einig: Der Neoliberalismus muss überwunden werden. Dass diese Kritik sich seit vierzig Jahren hartnäckig hält, deutet darauf hin, dass das Juste Milieu seine Gegner braucht. Wogegen sollten sie sonst auch ankämpfen! Als Gegenentwurf gegen den entfesselten Kapitalismus empfiehlt der linke amerikanische Ökonom Joseph Stiglitz einen »progressiven Kapitalismus«. Dieser soll das Gleichgewicht zwischen Märkten, dem Staat und der Zivilgesellschaft wiederherstellen und müsse sich besinnen, dass Wohlstand der Nationen ohne sozialen Zusammenhalt nicht zu haben ist. Ein derart progressiver Kapitalismus könne die monopolistische Marktmacht der großen Konzerne brechen.
Das Gegenteil von Laissze-Faire
Es ist merkwürdig: All diese Ideen zur Zähmung des Kapitalismus gleichen exakt jener scharfen Kritik, welche die Väter des Neoliberalismus selbst in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts am Laissez-Faire-Kapitalismus übten. Stiglitz› Design eines progressiven Kapitalismus würde bei den Neoliberalen offene Türen einrennen. Allenfalls könnten sie ihn des Plagiats oder milder gesagt des anspruchslosen Epigonentums bezichtigen. Die Ironie besteht darin, dass die Neoliberalismus-Kritiker von heute die Kapitalismus-Kritik der Neoliberalen von damals teilen, wessen sie sich nicht bewusst sind. Die Neoliberalen der dreißiger Jahre würden sich die Augen reiben, welche Zerrbilder die heutigen Kritiker sich vom Neoliberalismus machen. Auf Pappkameraden zu schießen, mag lustvoll sein, intellektuell anspruchsvoll ist es nicht. Würden die Kritiker sich informieren, müssten sie sich über starke Bundesgenossen freuen.
Seit seiner Gründung beim »Colloque Walter Lippmann« im Jahr 1938 in Paris vertrat der Neoliberalismus die Auffassung, der Glaube an sich selbst regulierende Märkte sei ein Irrweg des klassischen Liberalismus im 19. Jahrhundert. Also das exakte Gegenteil dessen, was ihm heute unterstellt wird. Die sich in Paris versammelnden liberalen Intellektuellen waren tief besorgt um den Fortbestand des Liberalismus als gesellschaftliche Leitidee. Das neoliberale Konzept diente zu dessen Rettung angesichts seiner eklatanten Schwäche. Die Neoliberalen waren gegen und nicht für einen Marktfundamentalismus, wollte keinen schwachen, sondern einen starken Staat, der wirtschaftliche Macht kontrolliert, Wettbewerb gegen die Monopolisierungslust der Unternehmer am Leben erhält und der Wirtschaft einen regelgeleiteten Ordnungsrahmen vorgibt. In gewisser Weise sei es eben gerade der Markt gewesen und nicht der Staat, der zum Problem der Neoliberalen wurde, schreibt der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher in seiner jüngst erschienenen Studie über die »Politische Theorie des Neoliberalismus«. Nichts lag den Neoliberalen ferner als die Vorstellung, der Markt regle alles von allein. Verführerischer als ein libertärer Liberalismus wirkte auf sie die Versuchung eines autoritären Liberalismus. Zumindest hatten sie die Neigung, den Staat mit Ordnungsaufgaben zu überfrachten.
Harold James, ein an der Universität Princeton lehrender Wirtschaftshistoriker, hat in einem brillanten Essay in der Zeitschrift »Capitalism« (Frühjahr 2020) nachgewiesen, dass und inwieweit der Neoliberalismus verstanden werden muss als Antwort auf die Welle der De-Globalisierung, die auf die »Große Depression« folgte. Es ging diesen Intellektuellen (darunter Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek, Raymond Aron und Wilhelm Röpke) darum, offene, dynamische, aber zivilisierte Märkte zu entwerfen für eine Welt, die von einem wachsenden Nationalismus und radikal-populistischen Strömungen bedroht war. Nicht alle dieser Gründergeneration wollten sich selbst »neoliberal« nennen. Einige bevorzugten den ungewöhnlichen Begriff »ordoliberal«. Hayek bestand stets darauf, er sei ein »klassischer Liberaler«. Als ökonomische Mittel, diese Ziele zu erreichen, sahen sie kompetitive Märkte, eine Begrenzung des Finanzkapitalismus, die Einschränkung politisch destruktiver wirtschaftlicher Macht und die Absage an ein verengtes Menschenbild des Homo Oeconomicus. Nicht zuletzt die deutschen Ordo-Liberalen plädierten für einen starken Staat, der ohne Scheu in die Wirtschaft eingreifen müsse. Dieser Liberalismus versteht sich »pro market«, aber nicht »pro business«, wie ihm häufig naiv unterstellt wird: Sie wollen den Kapitalismus vor den Kapitalisten retten und wenden sich dafür an die Staatsmacht.
Dass der Neoliberalismus im weiteren Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts in ein schlechtes Licht kam, hängt nicht wenig mit dem Putsch in Chile im Jahr 1973 zusammen. Das Land war wirtschaftlich durch den Linken Salvador Allende heruntergewirtschaftet, bankrott und bettelarm. Seine Lage verbesserte sich erst, als der diktatorische Machthaber Augusto Pinochet Hilfe holte bei neoliberalen Ökonomen der Universität Chicago, die dem Land einen wirtschaftlichen Reformkurs verordneten: Öffnung der Märkte, Förderung des Unternehmertums, Abbau von Zöllen. Die so genannten »Chicago-Boys« machten sich zu Handlangern einer autoritären Militärjunta. Milton Friedman, später Ökonomienobelpreisträger, rechtfertigte seine Rolle als Berater Pinochets in einem Newsweek-Artikel von 14. Juni 1976: »Trotz meiner tiefen Ablehnung des autoritären politischen Systems in Chile betrachte ich es nicht als böse für einen Ökonomen der chilenischen Regierung technischen und wirtschaftlichen Rat zu geben. Gleichermaßen würde ich es auch nicht als verwerflich erachten, wenn Ärzte dem Regime medizinischen Rat zuteilwerden ließen, wenn es gälte, in Chile eine Krankheitswelle zu beenden.« Überzeugend ist diese Apologie Friedmans nicht.
Chile als Sündenfall
Chile war der erste Praxistest für den Neoliberalismus, lange vor Ronald Reagan und Margret Thatcher. Das hat dem Begriff Neoliberalismus Konjunktur, die Sache selbst aber von Anfang an in Verruf gebracht. Das Narrativ liegt bereit, die Neoliberalen als undemokratische, autoritäre Zyniker zu stigmatisieren, die lieber mit Militärherrschern paktieren als sich demokratischen Institutionen unterzuordnen. Der Umschlag von der positiven zur negativen Konnotation des Neoliberalismus lässt sich in zählgenauen sprachlichen Inhaltsanalysen exakt auf die Mitte der siebziger Jahre datieren. Während den Vertretern der Freiburger Schule (Walter Eucken, Franz Böhm) in den fünfziger Jahren die Ehre zuteilwurde, für das Wirtschaftswunder der frühen Bundesrepublik und Ludwig Erhards »Wohlstand für alle« verantwortlich zu sein, hatte sich der Leumund des Neoliberalismus seit den siebziger Jahren enorm verschlechtert. Nach Pinochet kamen Reagan und Thatcher. Dann kamen Tony Blair, Bill Clinton und Gerhard Schröder in die Kritik, weil sie sich als Sozialdemokraten an den Neoliberalismus wanzten. Wohin das führt, liegt für die Kritiker ebenfalls auf der Hand: in die Weltfinanzkrise der Jahre 2008 und 2009 und die gnadenlose Austeritätspolitik mit der die Europäer ihre eigenen Länder im Süden der Union unterdrückten.
Es ist die Tragik der fehlgeschlagenen Ideengeschichte des Neoliberalismus, dass es von den Anfängen an nicht gelungen ist, ihn Linken und Konservativen als gerechtes Wirtschaftsmodell schmackhaft zu machen. Der leider früh verstorbene Harvard-Ökonom Alberto Alesina warb unermüdlich dafür, dass »the Left should learn to love Liberalism«, weil es nicht nur effizient, sondern auch sozial gerecht ist, Privilegien-Schacher und Protektionismus in der Wirtschaftspolitik zu bekämpfen. Der Neoliberalismus mit seinen offenen Märkten, dem Vorrang des Wettbewerbs unter einem staatlichen Ordnungsrahmen sorgt auch heute besser als jeder staatliche Interventionismus für den Wohlstand der Nationen. China seit den achtziger Jahren ist das beste Beispiel. Doch wer würde es wagen, China ob seiner neoliberalen Kehre zu loben? Allenfalls inkognito darf er siegen.
Der Text ist am 5. Juni in der Neuen Zürcher Zeitung als Gastkommentar erschienen.
Rainer Hank