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September 2023
Das neoliberale Experiment

Augusto Pinochet »offizielles« Porträt (um 1974) Foto: wikipedia

Wie die »Chicago Boys« Chiles Wirtschaft umkrempelten

Am 12. September 1973 meldete die F.A.Z. auf Seite Eins einen Militärputsch in Chile und den Selbstmord des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. »Die Generäle riefen für das Land den Ausnahmezustand aus. Flugzeuge der Luftwaffe hatten zuvor Bomben auf das Regierungsgebäude geworfen, in dem sich Allende mit seinen Vertrauten aufhielt.«

Der Putsch erregte international Aufsehen und Empörung. Salvador Allende war im Herbst 1970 als erster freigewählter marxistischer Staatschef in sein Amt gekommen. Für viele Sozialisten in aller Welt war dies ein Signal dafür, dass Demokratie und Sozialismus vereinbar sind und der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus auf friedliche Weise gelingen könne – also nicht nur durch gewalttätige Revolutionen wie in der Sowjetunion oder in Kuba.

Umso größer war die weltweite Wut auf die Putschisten, die mit Gewalt dem sozialistischen Experiment ein Ende bereitet hatten. Drei Tage später, am 15. September, porträtierte die F.A.Z. den Chef der Junta, General Augusto Pinochet, einen 58 Jahre alten Militär, der bislang öffentlich nicht sonderlich aufgefallen sei. Pinochet galt als unpolitisch und war erst zwei Wochen vor dem Staatsstreich von Allende zum Heereschef ernannt worden. Allende erhoffte sich von ihm die Fortsetzung der traditionellen Nichteinmischung der Armee in die Politik.

Dass das sozialistische Experiment im September 1973 gescheitert war, wird bis heute von marxistischen Utopisten geleugnet, war aber nicht zu übersehen. Ein seit Wochen andauernder Streik der privaten Transportunternehmer lähmte das Land. Dem Ausstand hatten sich viele Arbeiter angeschlossen, mit denen sich Ärzte, Piloten und Ingenieure solidarisierten. Die Inflation war in den letzten vier Monaten vor dem Putsch auf 700 Prozent angestiegen, worunter insbesondere die Arbeiter litten, denen der Sozialismus eigentlich zugutekommen sollte. Weder Preiskontrollen noch die Verstaatlichung aller Banken und der wichtigen Rohstoffindustrie (Kupfer) konnten den Niedergang aufhalten. Im Gegenteil: Mehr als 200.000 Menschen hatten das Land verlassen. Die erhoffte brüderliche Hilfe der Sowjetunion blieb aus. Martin Gester, F.A.Z.-Wirtschaftskorrespondent für Lateinamerika, lässt in einem Bericht am 13. September 1973 keinen Zweifel daran, dass der Bankrott des Landes dort für jedermann sichtbar war, mit wachsendem geografischem Abstand indessen verschwamm. »Von weitem war nicht auszumachen, in welche romantisch-versponnene, realitätsferne Welt sich die dilettantischen Genossen in jahrzehntelanger fruchtloser Opposition verloren hatten.«

»Wir bleiben viele Jahre an der Macht«

Indessen täuschten sich die journalistischen Beobachter über die Ziele der Putschisten. Allgemein wurde erwartet, dass die Militärs nach kurzer Übergangszeit wieder einem frei gewählten Präsidenten Platz machen würden. Im Dezember 1979 erhielt Walter Haubrich, Spanienkorrespondent der F.A.Z., als erster europäischer Journalist die Gelegenheit zu einem Interview mit Pinochet. Der General empfängt den Gast in einem sachlich-kühlen Bürozimmer mit einem goldglänzenden Säbel als einzige Dekoration. Haubrich beschreibt Pinochet als »gutmütig«, »ein bisschen großväterlich«. Ein Mann, dem man nicht zutraut, verantwortlich zu seine für den blutigsten Staatsstreich, den Lateinamerika im 20. Jahrhundert erlebt hatte. Doch Pinochet ließ in dem Gespräch keinen Zweifel an seinem Machtanspruch: »Wir bleiben noch viele, viele Jahre an der Macht.« Das Land müsse zuvor erst gründlich »entpolitisiert« werden, erklärte er dem deutschen Korrespondenten.

Pinochet blieb bis 1990 Präsident und demissionierte freiwillig, nachdem ihm eine Volksabstimmung das Vertrauen entzogen hatte. Siebzehn Jahre nach dem Putsch kehrte Chile wieder zur Demokratie zurück. Pinochets politische Bilanz ist blutgetränkt. Folter in Konzentrationslagern, staatlicher Terror und politische Morde waren an der Tagesordnung. Eine Wahrheitskommission kam im Jahr 2001 auf annähernd 30.000 politische Gefangene und mehr als 3000 staatlich angeordnete Morde. Direkt nach dem Putsch wurden 40.000 Menschen im Nationalstadion von Santiago de Chile festgesetzt – ohne anwaltlichen Beistand und ohne Kontaktmöglichkeiten zu ihren Angehörigen. Nicht nur die Demokratie, auch die Rechtsstaatlichkeit, Basis jeder liberalen Gesellschaft, wurden von der Junta mit Füßen getreten.

Während die politische Bilanz des Junta-Regimes vernichtend ist, fällt das ökonomische Resümee differenziert aus. Emotional besetzt sind die Wirtschaftsreformen, weil sie den ersten Anlauf im 20. Jahrhundert darstellten, Ideen einer »neoliberalen« Ökonomie (die man damals »monetaristisch« nannte) wirtschaftspolitisch zu implementieren. So gesehen ist die Wirtschafts- und Finanzpolitik der 70er-Jahre in Chile Vorläufer der liberalen Wende in den USA (Ronald Reagan) und Großbritannien (Margret Thatcher) – und indirekt Blaupause für die Transformation der kommunistischen Staaten Osteuropas nach 1990.

Wie kam es dazu, dass ausgerechnet in Chile der Wirtschaftsliberalismus in Reinform durchgesetzt werden sollte? Dies ist auch deshalb mehr als verwunderlich, weil autoritäre Diktaturen in der Regel einen starken kontrollierenden und autoritär intervenierenden Staat mögen, und wenig von freien Märkten halten.

Alles fing im Jahr 1956 an mit einem Austauschprogramm zwischen der Universität Chicago und der Universidad Católica in Santiago. Junge Ökonomiestudenten sollten in den USA ihr wirtschaftswissenschaftliches Wissen verbessern. Rund 25 Studenten absolvierten das Programm zwischen 1956 und 1961 in Chicago. Einige hatten Videokameras dabei, mit denen sie ihre Seminare, die Partys und die Spaziergänge auf dem Campus filmten, um sie später stolz zuhause vorzuführen. Zur Gruppe zählte unter anderem Sergio de Castro, der von 1975 bis 1982 erst Wirtschafts-, später Finanzminister unter Pinochet war. Zwischen 1965 und 1973 gab es abermals ein solches Austauschprogramm, das die Ford Foundation finanziert hatte. Bis heute nennt man diese chilenischen Ökonomen »Chicago Boys« – meist mit negativem Beiklang.

Marktwirtschaft aus Chicago

Chicago war nach den Zeiten des New Deal in den 30er-Jahren eine Pflanzstätte streng marktwirtschaftlicher Ökonomie geworden, während an den Universitäten der Ostküste (Harvard, MIT) eher linksliberal und keynesianische Professoren lehrten. Bis heute hat sich dieser ideologische Unterschied zwischen Salzwasserökonomie (Ostküstenuniversitäten) und Süßwasserökonomie (Chicago) erhalten. Prominente Chicago-Namen sind George Stigler, Garry Becker und – für Chile besonders wichtig – Milton Friedman.

Die Studenten aus Chile sogen nicht nur die für sie neuen ökonomischen Ideen aus Chicago begierig auf, sondern lobten auch das offene Diskussionsklima an der Fakultät, das so anders war als das, was sie von zuhause kannten. Man traf sich mit den Professoren in der Cafeteria, um argumentativ die Klingen zu kreuzen. Der Inhalt der Lehre stand in scharfem Kontrast zur damaligen Mainstream-Ökonomie in ganz Lateinamerika. Dort dominierte die sogenannte Dependenzökonomie, die behauptete, die Industrieländer wollten in schlechter kolonialer Tradition die Entwicklungsländer für immer in Abhängigkeit und wirtschaftlicher Knechtschaft halten: Sie kaufen ihre Rohstoffe zu schlechten Preisen, um ihnen ihre Industrieprodukte zu teuren Preisen zu verkaufen, eine Fortsetzung des Kolonialismus mit ökonomischen Mitteln. Als Rettung gegen die Dependenzökonomie priesen die dominanten lateinamerikanischen Ökonomen das Konzept der »Importsubstitution«: Statt Waren aus USA oder Europa zu importieren, sollten diese hoch subventioniert im eigenen Land selbst fabriziert werden, um dadurch der Abhängigkeit vom Norden zu entkommen.

Das Programm der Importsubstitutionen gab es in Chile schon unter dem Christdemokraten Eduardo Frey, Allendes Vorgänger, allerdings mit mäßigem Erfolg. Allende zog daraus die Konsequenz, man müsse das Konzept der wirtschaftlichen Unabhängigkeit radikalisieren. Das ging schief.

Pinochet, der nach eigenem Bekunden von Wirtschaft wenig verstand, verfolgte nach dem Putsch ein Mischprogramm aus nationalistischen Importsubstitutionen und einer Rückkehr zu marktwirtschaftlichen Prinzipien. Priorität erhielt die Bekämpfung der Inflation, die schrittweise Liberalisierung der Preise, eine Abwertung der Währung und eine Rücknahme von Allendes Landreform und Bankenverstaatlichung. Erst als Erfolge ausblieben, sah der General sich nach radikaleren wirtschaftspolitischen Konzepten um. Dabei fiel – erst Ende 1974 und vermittelt von Admiral Merino, seinem Wirtschaftsminister – sein Blick auf die Chicago Boys.

Eine Reise Friedmans hatte entscheidenden Anteil: Im April 1975 habe Friedman Pinochet von der Notwendigkeit der »neoliberalen« Medizin überzeugt, urteilt Sebastian Edwards, ein chilenischer Ökonom, in seiner im März erschienenen Geschichte der »Chicago Boys« (»The Chile Project«, Princeton University Press). Allerdings habe er sich auch für die Freilassung inhaftierter Ökonomen eingesetzt und sei selbst vom chilenischen Geheimdienst observiert worden.

Das war die Geburtsstunde der »neoliberalen« Schocktherapie in Chile, die Wirtschaftsminister de Castro zusammen mit den Chicago Boys von 1975 bis 1982 in großer Freiheit umsetzen konnte. Diese sieben Jahre zählen in der wirtschaftshistorischen Forschung heute zur radikalen Phase des »monetaristischen Experiments«, so der Ökonom Ricardo Ffrench-Davis. Bestandteile waren eine strikte Privatisierungspolitik (mit Ausnahme der Kupferkonzerne), ein Abbau der Zollschranken von 70 Prozent im Jahr 1974 auf 10 Prozent im Jahr 1980 und die Werbung um ausländische Direktinvestitionen. Der Staat zog sich weitgehend aus der Wirtschaft zurück. International Aufsehen erregte die Reform der Sozialsysteme: Neben dem bislang üblichen Umlageverfahren in der Rentenpolitik führten die Chicago Boys eine kapitalgedeckte Alterssicherung ein, weltweit das erste Beispiel für eine Liberalisierung der überforderten Staatsrente.

Die Bilanz dieser ersten Phase von Pinochets neoliberaler Politik ist durchwachsen. Auf der positiven Seite steht: Die Inflation kam wieder in geordnete Bahnen, ebenso der Staatshaushalt. Das Land verzeichnete ein durchschnittlich jährliches Wachstum von rund drei Prozent, was für Entwicklungsländer nicht wirklich berauschend ist. Zu loben sind die langfristigen Verbesserungen: Die Lebenserwartung stieg, die Kindersterblichkeit ging deutlich zurück (von 76 Kindern bezogen auf 1000 im Jahr 1970 auf 22 Kinder im Jahr 1985), die Zahl der Jahre, die Kinder durchschnittlich in der Schule verbringen, stieg im vergleichbaren Zeitraum von 4,3 Jahren im Jahr 1970 auf 7,6 Jahre. Dem steht eine hohe Arbeitslosigkeit (20 Prozent im Jahr 1982), ein Anwachsen der Armut und eine große Ungleichheit der Einkommen zwischen Arm und Reich gegenüber.

Gehört nicht der zivilen Tradition an

1982 rutschte das Land in eine tiefe Rezession, verbunden mit einer schweren Bankenkrise. Das lag nicht zuletzt daran, dass der chilenische Peso fest an den Dollar gebunden war, mit der Folge einer Überbewertung der Währung, die die Exporte einbrechen ließ und das Wachstum drosselte. Während die einen dies als Beweis für das Scheitern des monetaristischen Experiments werteten, wiesen andere darauf hin, dass fixe Wechselkurse (»peg«) der reinen monetaristischen Lehre diametral widersprechen, also nicht den Chicago Boys angelastet werden könnten. Auch für den weltweiten Zusammenbruch des Kupferpreises, zentrales Exportgut Chiles, könne der Liberalismus nichts.

Gleichwohl: Finanzminister de Castro verlor seinen Job, die Nachfolger werden von den Wirtschaftshistorikern unter der Überschrift »pragmatischer Neoliberalismus« rubriziert, in dem der Staat wieder eine aktivere Rolle einnahm. Undogmatisch hat man in der Krise die Banken verstaatlicht, sie saniert, um sie dann wieder zu privatisieren. Das waren Maßnahmen, zu denen später auch bei anderen Bankenkrisen erfolgreich gegriffen wurde (in Schweden oder während der Finanzkrise 2008 in den USA). Solche Einschnitte trugen dazu bei, das sich die chilenische Wirtschaft erholte. Bis 1990 lagen die Wachstumsraten im Schnitt bei fünf Prozent und damit deutlich über den Zahlen anderer lateinamerikanischer Länder. Am grundsätzlichen liberalen Paradigma der Wirtschaftspolitik änderte sich weder in der Spätphase Pinochets etwas noch nach dem Ende der Diktatur 1990.

Das Fazit? Während 1990 fast alle lateinamerikanischen Länder wirtschaftlich vor einem Scherbenhaufen standen, hatten sich in Chile die Erfolge der Marktwirtschaft ausgezahlt. Nobelpreisträger Milton Friedman aus Chicago urteilte 1991: »Ich habe nichts Gutes zu sagen über das politische Regime Pinochets: Es war fürchterlich.« Das »Wunder Chiles« sei indes nicht der (erwartbare) Erfolg der Marktwirtschaft, sondern die Tatsache, dass dieser Erfolg in ein Referendum für eine Demokratie und der Abschaffung der Diktatur mündete, der der Diktator keinen Widerstand entgegensetzte. Friedman fühlte sich bei seinem Engagement in Chile stets unfair behandelt. In einem Newsweek-Artikel vom Juni 1976 rechtfertigte er sich mit einem technokratischen Argument: »Trotz meiner tiefen Abneigung gegenüber dem autoritären politischen Regime in Chile betrachte ich es nicht als böse für einen Ökonomen, der chilenischen Regierung technischen wirtschaftlichen Rat zu geben. Gleichermaßen würde ich es auch nicht als verwerflich erachten, wenn Ärzte dem Regime medizinischen Rat zuteilwerden ließen, wenn es gälte, in Chile eine Krankheitswelle zu beenden.« Wirklich überzeugen konnte das Argument nicht, zumal Friedman selbst in seiner Schrift »Capitalism and Freedom« von 1962 die Auffassung vertreten hatte, wirtschaftliche und politische Freiheit seien untrennbar.

Sebastian Edwards, ein chilenischer Ökonom, urteilt in seiner im März dieses Jahres erschienenen Geschichte der »Chicago Boys« (»The Chile Project«, Princeton University Press) über Friedman ambivalent: Wiewohl seine Kontakte zu Pinochet nicht wirklich intensiv gewesen seien, habe eine entscheidende Reise Friedmans nach Santiago Anfang April 1975 den Diktator von der Notwendigkeit der »neoliberalen« Medizin überzeugt. Friedmann sich bei seinem Besuch für die Freilassung inhaftierter Ökonomen eingesetzt und sei selbst vom chilenischen Geheimdienst observiert worden, so Edwards.

Fest steht: Während der Begriff »Neoliberalismus« in der Wirtschaftspublizistik Chiles in den sechziger und frühen siebziger Jahren im Sinne der »sozialen Marktwirtschaft« und »Ordnungspolitik« der Freiburger Schule Deutschlands positiv gebraucht wurde, lässt sich der Umschlag in seine negative Konnotation exakt auf Mitte der siebziger Jahre datieren. Man könnte auch sagen: Die blutige Revolution Pinochets in Chile hat dem Neoliberalismus den entscheidenden Schlag versetzt, von dem er sich bis heute nicht wirklich erholt hat. So hat es auch der gegenwärtige Präsident Chiles, Gabriel Boric, formuliert: »Wenn Chile die Wiege des Neoliberalismus war, so war Chile auch zugleich dessen Grab.«

Literaturnobelpreisträger Vargas Llosa, ein Liberaler, äußerte sich 1998 in der FAZ ähnlicheindeutig: »Auch wenn Pinochet im Gegensatz zu anderen unbestreitbare wirtschaftliche Erfolge verzeichnen konnte, gehört dieser General nicht der zivilen Tradition an.«

Der Text ist am 10.August 2023 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen.

Rainer Hank