Hank beißt in den Hot-Dog
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März 2025
Das amerikanische Wunder

Du hast es besser…. Foto pixabay

Warum einige Nationen reicher sind als andere

Warum gehen große Reiche unter? Die mykenische Kultur versschwand ohne Vorankündigung von der Bildfläche der Weltgeschichte. Dem römischen und dem britischen Imperium erging es ähnlich – allerdings mit Vorahnung der Zeitgenossen.

Die Frage, warum Nationen verarmen, während andere reich werden, hat immer schon zu spekulativen Deutungen herausgefordert. Für Edward Gibbon (1737 bis 1794), den Trauerredner des römischen Imperiums, war das staatstragende Christentum verantwortlich für die Verarmung der Massen und den Reichtum der klerikalen Eliten. Arnold Toynbee (1889 bis 1975), ein anderer britischer Universalhistoriker, sah den Zyklus von Aufstieg und Verfall der Kulturen dem jeweiligen »Nationalcharakter« geschuldet.

Zivilisationen entstehen, wachsen und gedeihen, wenn sie erfolgreich auf Herausforderungen reagieren. Irgendwann erstarren die Kräfte in selbstzufriedener Trägheit – der Anfang vom Ende. Noch Mancur Olson (1932 bis 1998), ein amerikanischer Ökonom, blieb mit seinem Buch vom »Aufstieg und Niedergang von Nationen« von 1982 diesem zyklischen Schema verhaftet. So dreht sich unerbittlich das Rad der Fortuna.

Im 20. Jahrhundert ist der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums inklusive seiner Satrapenstaaten nach 1989 der eindrucksvollste Beleg dafür, dass das ökonomische Gesetz am Ende stärker ist als die politische Macht. Dass der Untergang des Kommunismus in vielen Nachfolgestaaten die Menschen nicht zu wirklichem Wohlstand geführt hat, hat abermals weniger ökonomische als politische Gründe. Wo man hingegen den Kräften des Marktes vertraut, wie in China seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, erhalten Millionen armer Menschen selbst in einem autoritären Einparteienregime die Chance, reich zu werden. Die Marktwirtschaft versagt nie – die Politik versagt häufig; auch das demokratische System bietet keine Bestandsgarantie.

Wenn in der Gegenwart Länder verarmen, so ist dies in aller Regel ebenfalls auf politisches Versagen zurückzuführen. Hugo Chavez und sein Nachfolger Nicolas Maduro ließen Venezuela in Armut und Chaos versinken. Die peronistischen Eliten haben Argentinien ausgebeutet. In vielen Ländern Afrikas südlich der Sahelzone bürgen korrupte Politiksysteme für dauerhafte Armut. Der MIT-Ökonom Daron Acemoglu, Wirtschaftsnobelpreisträger des Jahres 2024, bietet zur Erklärung die Unterscheidung zwischen inklusiven und extraktiven Regimen an: Inklusive Institutionen fördern wirtschaftliches Wachstum, Innovation und Wohlstand, indem sie Eigentumsrechte sichern, fairen Wettbewerb ermöglichen und politische Teilhabe gewährleisten. Extraktive Institutionen konzentrieren Macht und Ressourcen in den Händen einer kleinen Elite, die den Staat zur eigenen Bereicherung ausbeuten.

Mehr Wohlstand allenthalben

So weit so eindeutig. Weniger eindeutig zu beantworten ist die Frage nach den relativen Wohlstandsdifferenzen zwischen Staaten. Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges haben sich die Vereinigten Staaten nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch ihre Führungsrolle in der Welt gesichert. Weder Japan noch das vereinte Europa konnten Amerika diesen Platz streitig machen. Ob und wann China es schafft, bleibt abzuwarten.

Was ist das Maß des Wohlstands? Der beste Indikator ist nach wie vor das Bruttoinlandsprodukt (BIP pro Kopf). Es macht sichtbar, was sich die Menschen im Durchschnitt leisten können. Das bedeutet umgekehrt, dass das BIP pro Kopf umso weniger taugt, je ungleicher eine Gesellschaft ist.

Die gute Nachricht vorweg: Alle Industrieländer der OECD haben über die vergangenen Jahrzehnte den Wohlstand ihrer Bürger vermehrt. Waren es nach Zahlen der Weltbank im Jahr 1960 durchschnittlich 454 Dollar, so ist der Prokopfreichtum der Welt inzwischen auf gut 13.000 angewachsen; eine Steigerung um annähernd das Dreißigfache. Freilich hat sich der Abstand zwischen Ländern der Europäischen Union und USA in dieser Zeit vergrößert. Anfang der achtziger Jahre waren Deutschland und die USA mit 18.000 Dollar ungefähr gleich wohlhabend. Unterdessen ist Amerika doppelt so reich wie die der Durchschnitt der Europäische Union. Berücksichtigt man fairerweise, dass die EU sich in diesem Zeitraum mit relativ ärmeren Ländern vergrößert hat und bezieht man fairerweise die unterschiedlichen Lebenshaltungskosten in den Vergleich ein – die USA ist teurer als die Union –, so kann sich ein Amerikaner heute mit 82.000 Dollar kaufkraftbereinigtem Einkommen zwanzig Prozent mehr leisten als ein Bürger der Europäischen Union, dem 61.000 Dollar durchschnittlich zur Verfügung stehen.

Die Schere zwischen USA und der EU geht auseinander. Der im September vorgelegte Report des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten und Präsidenten der Europäischen Zentralbank Mario Draghi beziffert präzise das Produktivitätsgefälle. Lag das Produktivitätsniveaus Europas 1995 noch 95 Prozent der USA, so viel der alte Kontinent inzwischen auf 80 Prozent zurück. Ein Verlust von fünfzehn Prozentpunkten in nicht einmal zwanzig Jahren. Produktivität ist, grob gesagt, ein Maß für das Verhältnis zwischen Input (Arbeit, Kapital) und Output.

Die USA sind MAGA

Was also heißt »Make Amerika great again«? Die USA sind schon MAGA. Und daran wird sich so schnell nichts ändern. Hatte noch vor kurzem den Vereinigten Staaten eine Rezession gedroht, so gehen die Prognostiker inzwischen von einem robusten Wachstum aus. Die USA sind die einzige größere Wirtschaftszone, deren Output das Vor-Corona-Niveau inzwischen deutlich übertrifft. Die Inflation ist hat sich normalisiert, der Arbeitsmarkt sich stabilisiert. Noch weiß man nicht, ob der zu erwartende positive Effekt von Trumps Deregulierungsabsichten zusammen mit Steuersenkungen die negativen Effekte aus höheren Zöllen und Migrationsfeindlichkeit kompensieren werden. Bedrohlich ist die unter Präsident Joe Biden noch einmal dramatisch aufgeblähte US-Staatsverschuldung, deren Vorzeichen an einer Nervosität der Bondmärkte bereits seinen Widerhall gefunden hat und im Zeitverlauf womöglich noch gefährlicher werden könnte.

Doch um solche eher kurzfristigen Effekte geht es hier auch gar nicht. Zu erklären ist die langfristige tendenziell sich eher vergrößernde Reichtumsdifferenz zwischen den USA und der EU. Fragt man Benjamin Moll, Professor für Makroökonomie an der London School of Economics, bieten sich eine Reihe starker Kandidaten an.

Beginnen wir, Moll paraphrasierend, mit einem Phänomen, das Ökonomen »Pfadabhängigkeit« nennen. Wann und wie die kalifornische Bay-Area um San Franzisko zum Zentrum der Technologie-, Internet- und AI-Wirtschaft wurde, lässt sich gut rekonstruieren. Dabei gilt: Wo ein Intel und Microsoft ist, siedeln sich bald neue Nvidias und Amazons an. »Clusterbildung« einer Zukunftsbranche hat einen sich selbst verstärkenden Effekt. Platzhirsche beim Volumen der Marktkapitalisierung im Weltaktienindex MSCI sind die sogenannten »glorreichen Sieben« Alphabet, Amazon, Apple, Meta, Microsoft, Nvidia und Tesla. Sie alle sind Spross des Silicon Valley – das es vor hundert Jahren noch gar nicht gab.

Nebenbei lässt sich daran auch ablesen, wie Prozesse des wirtschaftlichen Wachstums funktionieren. Nach einer kleinen Zoologie des Ökonomen Arnold C. Harberger stehen das Hefe-Modell und das Champignon-Modell einander gegenüber (»Vision of the Growth Process«, 1998). Im Grunde geht es um zwei sehr unterschiedliche Prinzipien sich ausbreitender Pilzarten. Hefe wächst in der Art eines mit Luft aufgeblasenen Ballons. Champignons poppen über Nacht irgendwo auf, wo man es vorher nicht ahnte. Viele Politiker meinen, Wachstum gehe nach dem Hefe-Modell und versuchen dieser Entwicklung mit subventionierender Industriepolitik Nachdruck zu verleihen. Umso beleidigter sind sie dann, wenn ihre Strategie nicht aufgeht. Glaubt man dagegen an das Champignon-Modell evolutiven Wachstums, verbieten sich direkte Einflussnahmen. Politik müsste sich eher um eine anregende Umgebung (Klima, Erdreich) kümmern, all das, was Institutionenökonomie und liberale Ordnungspolitik als »Rahmenbedingungen« definieren: Stabile Rechts- und Eigentumsgarantien, ein investitionsfreundliches Klima, Belohnung von Risikoeinsatz und ähnliches.

Das alles wird man den USA attestieren können. Doch für Wachstum braucht es nicht nur gute Ideen in einem sicheren Umfeld, sondern auch die Aussicht, dass sich hohe Forschungs- und Entwicklungskosten in hohen Stück- oder Nutzerzahlen auszahlen, die dann nur noch sehr geringe Kosten verursachen, aber hohe Erträge abwerfen. Betriebswirte sprechen von »Skalierbarkeit«. Das hört sich kompliziert an, ist es aber nicht: »Skalieren« bedeutet, eine Erfindung hat auf eine große Gruppe von Menschen Einfluss – bringt ihnen Nutzen für ihr Leben und Profit für das Unternehmen, von dem sie stammt. Erfolgreiche Skaleneffekte hatten sowohl der Burgerbrater McDonalds, der Taxianbieter Uber oder der Chip-Hersteller Nvidia. Der Klassiker ist Johannes Gutenbergs Erfindung des modernen Buchdrucks: Ein mit der Hand arbeitender Mönch benötigte für das Abschreiben einer Bibel ein ganzes Jahr; mit Gutenbergs Presse ließen sich in einem Jahr annähernd hundert Bibeln drucken.

Ein homogener riesiger Wirtschaftsraum wie die USA bietet ganz offensichtlich ideale Bedingungen der Skalierung. Hürden hat dagegen Europa mit seiner Zersplitterung unterschiedlicher Rechtssysteme und nicht kompatibler technologischer Standards. Erhellendes findet sich in dem 2022 erschienenen Buch des Ökonomen John List »The Voltage Effekt« (»Der Spannungs-Effekt«): Eine Idee kann noch so phantastisch sein und setzt sich trotzdem nicht durch – eben, weil beim Versuch der Skalierung die Spannung abfällt vergleichbar der von Widerständen behinderten Elektrizität in einer Stromleitung.

Und dann noch die Bürokratie

Wenn Innovationen Pech haben, dann scheitern sie womöglich noch vor dem Test ihrer Skalierbarkeit an den Kosten der Bürokratie. Uber ist ein gutes Beispiel: Die Plattform hat erhebliche Vorteile für Anbieter wie Nutzer gegenüber der herkömmlichen Taxibranche. Der Transport wird transparenter und billiger. Kein Wunder, dass das Kartell der Taxibetreiber sich mit allen lobbyistischen Mitteln wehrt. Dass Uber im Jahr 2023 etwa 20,4 Milliarden Dollar in den USA umsetzte, während es in der Region Europa, Naher Osten und Afrika (EMEA) nur die Hälfte war, spricht dafür, dass das europäische Taxikartell besser funktioniert als jenseits des Atlantiks, womöglich die Europäer auch konservativer sind und die alte Droschke bevorzugen. Etwas pauschal könnte man sagen, in Old Europe dominieren die industriellen Gewinner von gestern, in den USA erhalten die Gewinner von morgen ihre Chance – auch die Chance zu scheitern und neu anzufangen.

Zwischen 20219 und 2024 hat die EU 13.942 Rechtsakte verabschiedet, die Unternehmen betreffen. Im Vergleich dazu hat die USA im gleichen Zeitraum 3.725 Gesetze erlassen und 2.202 Resolutionen. So notiert es der schon erwähnte Draghi-Report. Inzwischen gibt es gute Forschung, die die Bürokratie- und Regulierungskosten beziffert. Der deutsche Maschinenbau etwa nennt bezogen auf die Gesamtkosten 1 bis 3 Prozent »red tape«. Über alle Branchen gehen in der EU 0,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts durch Bürokratie »verloren«. Das sind einerseits Kosten für eine ausladende staatliche Administration, andererseits Kapazitäten, die die Unternehmen vorhalten müssen, etwa um die verschärften Compliance-Regeln, die Lieferkettenverordnungen, Nachhaltigkeitsberichtspflichten oder Tariftreuegesetze Brüsseler und nationaler Behörden einzuhalten. »Bürokratieabbau« haben sich viele europäische Regierungen auf die Fahnen geschrieben, eine ausufernde Bürokratisierung ist dagegen die politische Praxis.

Die Bürokratiekosten für die USA sind methodisch schwer vergleichbar. Doch ist die Forschung sich einig, dass Marktzugang, Rechtspraxis und das Tempo der Geschäftstätigkeit in den Vereinigten Staaten deutlich weniger bürokratisch laufen – ein nicht zu unterschätzender Wachstumsvorteil.

Die Suche nach den Gründen für den langanhaltenden amerikanischen Wohlstandserfolg geht aus wie Agatha Christies »Mord im Orient Express«: Es gibt nicht nur einen Verantwortlichen; die Summe macht es. Das »European Miracle« (Eric L Jones) beruhte seit der Renaissance der oberitalienischen Städte auf dem Wettbewerb der Besten (Unternehmen, Institutionen, Staaten, Kulturen). Das hat Europa reich gemacht. Heute muss man vom »American Miracle« sprechen: Eine größere Wettbewerbsorientierung, Lust an kreativer Zerstörung, Freude am Risiko und Größenvorteile eines großen geographischen Raums werden mit Wohlstandsgewinnen belohnt, die jene der Europäer in vielem übertreffen.

Eine überarbeitete Fassung dieses Textes erschien am 14. März 2025 in der NZZ.

Rainer Hank