Oktober 2025
Betrüger und Sklavenhalter

Warum meiden viele Touristen die berühmten Tempel in Angkor? Die Spur führt zu einem verbrecherischen Cyberbetrug
Wir waren gewarnt worden. Der buddhistische »Ta Prohm Tempel« auf dem riesigen Gelände von Angkor im Zentralland von Kambodscha gilt als vollkommen überlaufen. Das liegt weniger an der Faszination, welche die Ausgrabungen der Khmer-Stadt Angkor bis heute auf Besucher aus aller Welt ausüben. Sondern vor allem daran, dass Angelina Jolie als Lara Croft in dem 2001 gedrehten Tomb-Raider-Film zwischen den Gemäuern des Ta Prohm Tempels herumirrte, was sich vielen Fans tief eingeprägt hat. Seither rangiert die Anlage auch unter dem Namen »Tomb Raider Temple«. Und zieht Touristen jeden Alters aus aller Welt an.
Wir waren, wie gesagt, vor den Massen gewarnt worden. Doch als wir an einem schon recht heißen Morgen im September über einen schattigen Waldweg den Tempel erreichen, blieben wir in unserer kleinen Reisegruppe praktisch unter uns. Keiner da, alles friedlich. Bloß ein paar Archäologen sind schon früh bei der Arbeit.
Ta Prohm wurde damals ein bisschen übersehen, als der französischen Naturforscher Henri Mouhot um das Jahr 1860 Angkor »entdeckt« hat. Dass die meisten der vielen hundert Tempel in Wirklichkeit nie verlassen und seit über tausend Jahren von Mönchen bewohnt waren, ist eine Geschichte, die nicht in das Narrativ kolonialer Wiederbelebung passt, welches die französischen Entdecker verbreiteten. Um so nachdrücklicher wird sie heute von den lokalen Reiseführern erzählt.
Ta Prohm indessen scheint im 19. Jahrhundert nicht mehr bewohnt gewesen zu sein. Während viele andere Tempel wie Angkor Wat oder Bayon von Bäumen und Pflanzen befreit und restauriert wurden, entschieden die Archäologen, Ta Prohm weitgehend im »Dschungelzustand« zu belassen. Man wollte der Welt zeigen, wie gewaltig und mystisch die Natur im Lauf der Zeit die steinernen Denkmäler zurückerobert hatte. Die riesigen Baumwurzeln waren derart mit den Steinen verwachsen, dass sie zu entfernen den Tempel eher zerstört hätte. So konnten auch wir an diesem Morgen den Tempel als eine Art Natur-Kultur-Einheit erleben. Weil aber bis auf wenige einheimische Touristen, die sich für Instagram schick gemacht hatten, kaum jemand da war, hatte man uns erlaubt, auch außerhalb der vorgeschriebenen Tour uns unseren Weg durch das überdimensionale Stein- und Wurzelwerk zu bahnen.
Wurde Ta Prohm durch Angelina Jolie weltberühmt, so hat Banteay Srei, die »Zitadelle der Frauen«, es durch den französischen Intellektuellen André Malraux in das Wachbewusstsein der Welt geschafft. Dort hatte der Abenteurer in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einige besonders schöne Reliefs klauen wollen, war dann aber geschnappt und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Für Khmer-Skulpturen gab es damals in Europa, vor allem in Frankreich (Protektorat), einen zahlungskräftigen Markt.
Sag mir, wo die Touristen sind?
Wie es sich für Schriftsteller gehört, hat Malraux seine kambodschanische Niederlage in seinem Roman »Der Königsweg« (1930) literarisch verarbeitet. Er beschreibt die Skulpturen wie lebende Wesen, die den Schatzjägern widerstehen. Der Tempel wird zum Symbol der Konfrontation zwischen westlicher Gier und östlicher Kultur. Der spätkolonialistische Diebstahl Malrauxs, der in den sechziger Jahren unter de Gaulle französischer Kulturminister war, führte dazu, dass der Tempel heute einer der bekanntesten unter den Angkor-Tempeln ist.
Doch wo sind die Touristen heute? Unesco-Weltkulturerbe ohne Menschen? Overtourism kippt in Undertourism. Unsere Erfahrung wiederholt sich an vielen Orten rund um Angkor. Siem Reap, die nahe gelegene Provinzstadt, die in den vergangenen Jahren mit Hotels aller Klassen, Pubs, Massagestudios förmlich explodierte, ist tagsüber eine Geisterstadt gähnender Leere und nachts ein verschlafenes Nest. Im »Raffles«, dem legendären Kolonialhotel, 1932 eröffnet, gibt die Marketingchefin freimütig zu, mehr als 40 Prozent Auslastung könne sie in diesen Wochen nicht vorzeigen. Das schlage sich in einem ordentlichen Discount nieder, sagt mit Zufriedenheit der Vertreter des Flusskreuzfahrtunternehmens, das uns über den Mekong-Fluss von Saigon hierhergebracht hat. Wenn der Bartender der Poolbar im Raffles Recht hat, waren bei unserem Besuch von den 240 Betten gerade einmal 60 belegt, was einer Auslastung von 25 Prozent entspräche.
Der vorerst letzte Schock kommt beim Abflug: Der von den Chinesen im Rahmen der »neuen Seidenstraße« für über eine Milliarde Dollar gebaute und vor zwei Jahren eröffnete überdimensionierte Flughafen Siam Reaps, ist leer. Ganze acht Flugzeuge verlassen an diesem Tag die Stadt. Ein Bild wie in den härtesten Lockdown-Zeiten.
Die Suche nach einigermaßen verlässlichen Zahlen gestaltet sich nicht einfach. Vor der Covid-Pandemie, also bis 2019, verzeichneten Siem Reap und Angkor jährlich zwei Millionen Besucher, den Großteil stellten asiatische Touristen vor allem aus Thailand und China. Im vergangenen Jahr kamen nur noch knapp die Hälfte. Bros, unser Führer, bringt – nur ganz im Vertrauen – noch dramatischere Zahlen ins Spiel. Vor Covid, sagt er, drängten sich täglich 10.000 Fremde durch die Stadt. Jetzt seien es gerade mal 500. Überschlägt man mit diesen Horrorzahlen die Umsatzausfälle für den Archäologischen Park in Angkor und die örtliche Hotellerie, käme man auf jährlich mehr als 300 Millionen Dollar, davon allein knapp 150 Millionen fehlende Eintrittsgelder für die staatlichen Tempelanlagen in Angkor. »Lange halten wir das nicht durch«, sagt Bros– und zeigt auf die vielen Tuktuk genannten Moped-Rikschas, deren Betreiber müde auf ihren Gefährten dösen.
Das heißt: Angkors Touristenindustrie steuert auf eine mittelschwere Katastrophe zu. Die Gründe dafür sind vielfältig. Kambodscha ist derzeit nicht besonders sexy; die Leute reisen lieber nach Japan. Das erklärt freilich noch wenig. Hinzu kommt: Seit dem kürzlich wieder aufgeflammten Grenzkonflikt zwischen Thailand und Kambodscha bleiben die Touristen aus Thailand aus, weil trotz Waffenstillstand die Übergänge weiter geschlossen sind und die Jahrhunderte alten Feindseligkeiten zwischen den beiden Völkern wieder präsent sind. Rund eine Million kambodschanische Fremdarbeiter sind aus Thailand in ihr Heimatland zurückgekommen, wo sie es schwer haben, Arbeit zu finden.
Doch es sind vor allem die Chinesen, deren Fernbleiben Angkor und Seam Reap erschüttert. Denn sie stellten vor Corona den Löwenanteil der Touristen im Land. Von »political reasons« spricht Sochea, die umtriebige Vertriebschefin des Shinta Mani Hotels in Seam Reap. »Politische Gründe« kann vieles bedeuten. Die Kaufkraft der Chinesen hat im Vergleich mit früheren Boomzeiten gelitten, viele Menschen sind seit Covid mit Auslandsreisen vorsichtig geworden, die chinesische Regierung fördert stattdessen den Inlandstourismus.
Scamming: Betrüger und Skalvenhalter
Doch dann stoßen wir auf einen Skandal, der den Namen Scaming trägt. Um das zu verstehen, muss man ein bisschen ausholen. »Scam-Compounds« sind groß angelegte Betrugszentren oft in großen Hotels im Nordwesten Kambodschas, also nicht in der Angkor-Region, aber auch in Myanmar und Laos, in denen Menschen durch falsche Jobangebote rekrutiert, ihrer Pässe und Freiheit beraubt und zu Online-Betrügereien gezwungen und versklavt werden. Darunter fallen sogenannte »Romance-Scams«, bei denen Opfer aus aller Welt über emotionale Bindungen manipuliert und zu Investitionen in Fake-Plattformen verleitet werden. Anschießend ist das Geld weg. Kryptobetrug, Geldwäscheanlagen und andere unappetitliche Geschäfte komplettieren das Geschäftsmodell.
Es gibt Berichte, die von 100.000 bis 150.000 Menschen sprechen, die in solchen Zentren inhaftiert sein sollen, und von jährlichen Einnahmen der Industrie zwischen 12,5 und 19 Milliarden Dollar, was über der Hälfte des kambodschanischen Bruttosozialprodukts entspräche. In diesen Camps herrschen laut Amnesty International und UN-Berichten katastrophale Zustände – mit Menschenrechtsverletzungen wie Zwangsarbeit, Folter und Ausbeutung Minderjähriger.
Es ist kaum vorstellbar, dass dies ohne Duldung des kambodschanischen Staates passiert. Einerseits ist der Staat seit der Schreckensherrschaft der »Khmer Rouge« immer noch zu schwach, um Recht und Ordnung durchzusetzen. Andererseits wäre es nicht unplausibel anzunehmen, dass sich die Behörden die Duldung der Scaming-Industrie bezahlen lassen, was einer Art mafioser Staatsfinanzierung entspräche. Amnesty International und andere Quellen legen das nahe und berichten, dass Polizei, Militär und lokale Behörden häufig verwickelt oder bestochen sind. Nachweisen lässt sich das nicht.
In Europa machen die Betrügereien seit einigen Jahren Schlagzeilen. Doch zumeist geht es um die Betrugsopfer der Scaming-Industrie im Westen. Die Zwangsarbeiter in Asien und das dahinterstehende dunkle Geschäftsmodell interessieren weniger. In Asien selbst ist das anders. Scaming hat dem Ansehen des Landes in Südostasien nachhaltig geschadet. In China gibt es viele Menschen, die auf den Betrug hereingefallen sind. Anfang September wurde auch das amerikanische Finanzministerium auf die Skandalbranche aufmerksam und hat bekannt gegeben, Vermögenswerte aus dem Betrugsgeschäft zu blockieren, Finanzflüsse zu behindern und internationale Zusammenarbeit gegen Scam-Netzwerke zu stärken. Das dürfte zusätzliche negative Signalwirkung entfalten. Der Schaden für den kambodschanischen Tourismus ist zwar indirekt, aber deswegen nicht minder schmerzhaft. Mit Kambodscha will man vielerorts nichts zu tun haben.
Kein Wunder, dass die Hotels der Angkor-Region neuerdings ihre Anstrengungen hochfahren, Touristen aus Europa, nicht zuletzt auch aus Deutschland, für eine Reise nach Kambodscha zu begeistern. Die Infrastruktur ist hervorragend, Hotels gibt es in allen Klassen. Man fliegt über Hanoi mit Vietnam Airways oder über die Drehkreuze anderer asiatischer Fluglinien. Flusskreuzfahrten auf dem Mekong werden bei Europäern zunehmend beliebter. Gern genommen wird die Strecke von Saigon flussaufwärts, gerne auch weiter nach Laos – oder alles in umgekehrter Richtung. Die Region ist sicher. Die Betrugsindustrie interessiert sich nicht für die Touristen, es handelt sich schließlich nicht um Kleinkrimielle.
Vermutlich gab es in den vergangenen Jahren nie einen besseren Zeitpunkt, nach Angkor zu fahren, als jetzt. Wer sich vor Sonnenaufgang in den Park vor den Prachttempel Angkor Wat aufmacht – früher ähnelte der Aufmarsch einer Massenpilgerfahrt -, kann heute den freien Raum und die große Stille genießen. Selbst die Äffchen, die herumspringen, genießen ihre Freiheit, werden freilich auch weniger gefüttert. Wollten wir nicht immer schon den Tourismus ohne Massentourismus erleben? Endlich einmal nicht zu spät kommen, sondern da zu sein, bevor die vielen wieder da sind.
Der Test ist am 6. Oktober im Reiseteil der FAZ erschienen. Weitere Berichte zur Reise folgen.
Rainer Hank
