Januar 2024
Auf dem Blut der Sklaven?
Neues über die Ursprünge des Kapitalismus
Es war der 14. April 1807, als der Geschäftsmann Horatio Clagett zusammen mit einer kleinen Gruppe von Kollegen am Lloyd’s Markt in London eine Reise des Schiffs »Diamond« von Liverpool nach Afrika versicherte. Das zu versicherndes Risiko wurde auf 200 Pfund taxiert, die Prämie sollte fünfzehn Prozent betragen, mithin 30 Pfund. Als »Cargo« versichert gegen Verlust und andere Fährnisse der See wurden Sklaven, deren Marktwert auf eben jene 200 Pfund beziffert wurde. Das Schiff gehörte den Sklavenhändlern Peter Brancker und Moses Benson, Männer die schon lange erfolgreich im Geschäft waren.
Lloyd’s of London, gegründet 1688, war damals und ist heute noch der größte Versicherungsmarkt der Welt. Streng genommen war Lloyd’s damals kein Unternehmer, sondern eine Art Börse, an der Versicherungsnehmer und -geber sich trafen. Anfang November 2023 hat Lloyd’s Pläne eines Förder- und Entwicklungsprojekte für Schwarze im Umfang von 50 Milliarden Pfund (rund 55 Millionen Schweizer Franken) vorgestellt. Es soll eine Wiedergutmachung sein für die »erhebliche Rolle«, die Lloyds im transatlantischen Sklavenhandel gespielt hat. Von 1640 bis in das frühe 19. Jahrhundert wurden geschätzt 3,2 Millionen versklavte Afrikaner auf britischen Schiffen transportiert. Lloyds fungierte als das globale Zentrum zur Versicherung der Sklavenindustrie. Forscher der Johns-Hopkins-Universität haben dazu inzwischen Dokumente in großem Umfang gesichtet und im Internet zur Verfügung gestellt; auch das »Risk Book« der Reise der »Diamond« ist dort dokumentiert. 2020 hatte Lloyd’s sich zum ersten Mal für seine damalige Rolle entschuldigt: Es sei unmöglich, die Vergehen der Vergangenheit ungeschehen zu machen. Aber das Unternehmen könne heute handeln, um die Folgen anzugehen. Geplant sind Wiedergutmachungen und eine Personalpolitik zur Förderung der Karrieren von Schwarzen und ethnisch diversen Mitarbeitern im Konzern. Eine Entschädigung der Nachfahren der Sklaven schließt Loyd’s bislang aus. Die britischen Plantagenbesitzer wurden bereits nach dem Verbot von Sklavenhandel und Sklavenhaltung im Jahr 1807 (beziehungsweise 1831) mit 20 Millionen Pfund abgefunden, was, bezogen auf das heutige Bruttosozialprodukt Großbritanniens, einer Summe von 150 Millionen Pfund entspräche.
Viele Profiteure
Die Frage, ob der Kapitalismus auf dem Blut der Unterdrückten beruht, ist seit langem Gegenstand der Forschung in den USA, neuerdings auch in Großbritannien. Dabei hatte man sich stets auf die Sklavenhalter im engeren Sinn konzentriert, also die Produzenten von Zucker, Melasse, Tabak oder Baumwolle in den westindischen Kolonien Englands oder den Südstaaten der USA. Inzwischen gilt diese Betrachtung als zu eng und verharmlosend. Die Plantagen der Karibik gebaren insgesamt eine innovative Landwirtschaft, die wiederum Maschinen brauchte, die aus Europa in die Karibik exportiert wurden. Der Sklavenhandel lebte somit nicht nur vom »Export« der Sklaven nach Amerika und dem Import der Waren nach England, sondern auch vom Re-Export europäischer Produkte in die Karibik (Waffen, Maschinen, Nahrung, Bekleidung) – Leinen aus Deutschland oder der Schweiz, Bekleidung für Schiffsleute und Sklaven zählten auch dazu. Es profitierten auch Länder, die keine klassischen Kolonialmächte waren.
Und es profitierten auch Gewerbe, die nicht direkt zum Sklavengeschäft zählten: Der ausschließlich von Sklaven produzierte Rohrzucker führte in England zu einer Revolution des Geschmacks, woraus sich dort eine ganze Zuckerbäckerindustrie (samt Zuckerdöschen aus Silber oder Keramik) entwickelte, wo Lohnarbeiter ihr Brot verdienten. Lohnarbeit wäre somit nicht nur die kapitalistisch effizienter Alternative zur Sklavenökonomie, sondern deren Folge in einer durch die Sklaverei ermöglichten vernetzen Wirtschaft.
Zu diesen Profiteuren zählt eben auch der Finanzkapitalismus der Londoner City, den der Kolonialismus auf die Welt brachte. Die Schiffe und die Plantagenbesitzer brauchten für ihre gewagten Unternehmungen Versicherungen (Lloyd’s of London), sie brauchten Banken, die ihnen Hypothekenkredite verkaufen – und sie brauchten zur Absicherung ihrer Geschäfte einen »Lender of Last Ressort«, woraus die Bank of England hervorging.
Die Geburt des Finanzkapitalismus aus (Un)geist und Praxis des Kolonialismus ist ein Gedanke, der schwer zu ertragen ist für viele traditionelle Wirtschaftshistoriker. Ihr Angebot an Hypothesen für die Herkunft unseres heutigen Wohlstands ist zwar vielfältig und bei weitem nicht widerspruchsfrei, aber insgesamt doch »sauber«. Herkömmlich gelten etwa die Entstehung des Bankwesens und die Abschaffung des religiösen Zinsverbots in den oberitalienischen Städten der Renaissance als Trigger der kapitalistischen Geldakkumulation. Hinzu kommen mentale und kulturelle Einstellungen, nicht zuletzt die christliche Askese, deren Folge Ersparnisse sind, die zum Kapital werden für Unternehmer und deren Investitionsideen. Auch die Grundidee der Versicherung, die Umwandlung von Unsicherheit in berechenbares Risiko, erfunden im 18. Jahrhundert, beruht zunächst einmal lediglich auf Mathematik und war ein Ideenprodukt der europäischen Aufklärung. Großzügig übersehen konnte man da, dass das erste »Anwendungsfeld« der Versicherungswirtschaft eben der Sklavenhandel war.
Der Klassiker über Sklaverei und Kapitalismus
Viel verdankt die postkoloniale Wende der Wirtschaftsgeschichte der Wiederentdeckung des Klassikers von Eric Williams aus dem Jahr 1944: »Slavery & Capitalism«. Williams entstammte der kreolischen Elite aus Trinidad, promovierte in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts in Harvard und war später Premierminister der unabhängigen Republik »Trinidad und Tobago«. Dort gilt er heute als »Vater der Nation«.
Williams› Buch enthält zwei Thesen. Sklaverei, so die erste These, ist nicht die Folge von Rassismus, sondern umgekehrt: Rassismus ist die Folge der Sklaverei. Denn Rassismus rationalisiert das unmenschliche Verhalten der Sklavenhalter (etwa ihre Einordnung als »Fracht« auf Schiffen). Minderwertige, infantile Menschen brauchte man nicht menschenwürdig behandeln, es reichte sie zu missionieren. Die ersten Sklaven auf den Zuckerplantagen waren keine Schwarzen, sondern zunächst Indigene – Williams nennt sie »Indianer« – und anschließend Weiße. Die strukturelle Knappheit an Arbeitern setzte einen Anreiz für die Landbesitzer, Menschen zur Arbeit zu zwingen. Wichtiger als das Land zu kontrollieren war es für die Landeigentümer, die Leute zu beaufsichtigen. Rechtlose Leibeigene, konnte man besonders gut kontrollieren. In den Plantagen beruhte der wirtschafte Erfolg auf ökonomischen Skaleneffekten, mithin dem Einsatz von Tausenden Sklaven.
Daraus wird bei Williams die zweite These: Nicht nur die Einführung der Sklaverei, sondern auch ihre Abschaffung erfolgte aus ökonomischen, nicht aus moralischen Gründen. Unersetzbar im 17. und 18. Jahrhundert zur Schaffung des Wohlstands in Europa, begann das westindische Monopol auf Sklavenhandel und -haltung zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus ökonomischen Gründen zu stören. Der Idee des Freihandels und des Wettbewerbs waren Monopole zuwider. Seit Beginn der industriellen Revolution waren die Zuckerplantagen in der Karibik nicht mehr die Quelle des Wohlstands. Technische Erfindungen führten zu ungeahnten Produktivitätsgewinnen in den Fabriken Englands, deren Arbeiter lausig bezahlt wurden und miserabel leben mussten, aber eben keine Sklaven, sondern Lohnarbeiter waren. Die Gewinne der Sklaverei und die Entschädigung der Plantagenbesitzer waren zugleich das Startkapital für die Unternehmer der industriellen Revolution, auf der unser Wohlstand bis heute genealogisch gründet.
Man kann es indes auch übertreiben. Postkolonialismus liegt im Trend der Zeit. Bücher, die in den letzten Jahren das intellektuelle Erbe von Eric Williams pflegen, sind kaum mehr zu zählen. Damit lassen sich akademische Karrieren machen. Wer widerspricht, hat es schwer. Dabei müsste es sich herumgesprochen habe, dass Monokausalität noch kein Wahrheitsmonopol begründet. Nüchtern betrachtet kam der Beitrag der karibischen Plantagen zum britischen Sozialprodukt nie über elf Prozent hinaus. Gewiss, im frühen 19. Jahrhundert wurden über 130 Dampfmaschinen von England nach Westindien exportiert. Aber allein in Britannien waren 2500 solcher Maschinen in Gebrauch, wie der Historiker Lawrence Goldman auf der Plattform »History Reclaimed« zeigt. Das relativiert den Beitrag der Sklavenarbeit dann doch. Wichtiger noch ist ein konfessioneller Unterschied: Träger der Industriellen Revolution waren gerade nicht die anglikanischen Sklavenhalter, sondern Unitarier, Quäker, Presbyterier – und die waren erklärte Gegner der Sklaverei.
Erwartbar frecher noch kontert die Wirtschafshistorikerin Deirdre McCloskey: Sklaverei mag ein paar Südstaatler oder Westinder reich gemacht haben, ein paar Händler im Norden auch, sagt sie. Aber was den Kapitalismus im Kern ausmache, seien Unternehmertum und Innovation, Tribkräfte, von denen wir heute alle profitieren – sogar die Nachkommen der Sklaven. Solche Einsprüche werden im postkolonialen Kontext mit Diskursverbot geahndet. McCloskey lässt sich nicht mundtot machen. Wohlstand beruhe nicht zwingend auf Sklaverei, sagt sie. Als Baumwolle aus den Sklavenplantagen während der amerikanischen Sezessionskriege nicht mehr zu Verfügung stand, bezogen die europäischen Textilhersteller ihren Rohstoff eben aus Ägypten.
Der Kapitalismus braucht zwingend offene Märkte und Innovation. Sklaverei braucht er nicht. Mithin hätte er sich auch ohne »menschliche Ware« entwickeln können. Hat er aber nicht! Den Kapitalismus quasi kontrafaktisch reinzuwaschen, ist ein gewagtes Unterfangen. Denn faktisch gab es ihn nicht ohne die größten Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Über drei Jahrhunderte wurden insgesamt 12,5 Millionen Afrikaner versklavt, verschleppt und zur Arbeit gezwungen. Es hat lange gedauert, bis dieses historische Faktum den Weg ins Bewusstsein der Öffentlichkeit fand.
Der Text erschien am 28. Dezember 2023 unter der Überschrift »Der moderne Finanzkapitalismus entstand mit aus dem (Un-)Geist und der Praxis des Kolonialismus« in der Neuen Zürcher Zeitung.
Rainer Hank