September 2021
Arbeit ist (auch) Leben
Warum Work-Life-Balance überschätzt wird
»Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hochkommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.« (Psalm 90,10. Lutherbibel)
Maria und Martha sind Schwestern. In der Bibel wird von ihnen erzählt. Jesus ist zu Besuch bei den Frauen. Während Maria sich sogleich zu Jesu Füßen setzt und seinen Reden lauscht, macht Martha – wie Luther übersetzt – »sich viel zu schaffen, ihm zu dienen«. Offensichtlich werben beide Frauen um die Gunst des charismatischen Mannes. Martha provoziert: Ob der Meister es nicht merkwürdig finde, dass sie allein die ganze Arbeit mache, während die Schwester immer bloß dasitze und lausche? Jesus erteilt ihr eine Abfuhr: »Was werkelst Du und kümmerst Dich um alle möglichen Dinge?« Maria habe es besser angestellt: Sie konzentriere sich auf das, was wesentlich ist – sie ist ganz Ohr für das Wort des Herrn.
Die Geschichte von Maria und Martha ist ein Schlüsseltext zum Stellenwert der Arbeit. Sie erinnert, was heute vergessen ist: dass über lange Jahrhunderte die Arbeit einen schlechten Leumund hatte. Wer es sich leisten konnte, machte sich von Arbeit frei. Die »vita contemplativa«, die betrachtende Muße, rangierte weit über der »vita activa«, dem tätigen Leben. Erst seit der Neuzeit gilt die Arbeit als Produzentin von Wohlstand und Quelle von Lebenssinn. Und zwar nicht einfach jede Beschäftigung, sondern solche Arbeit, die produktiv ist. Das Ansehen der Arbeit wurde massiv aufgewertet; sie bringt Sinn und Geld in das Leben. Die Reihenfolge ist wichtig: Erst kommt die Arbeit, dann das Geld und nicht umgekehrt. Ohne Fleiß kein Preis.
»Die Neuzeit hat im siebzehnten Jahrhundert damit begonnen, die Arbeit zu verherrlichen«, schreibt Hannah Arendt: »Und sie hat zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts damit geendet, die Gesellschaft im Ganzen in eine Arbeitsgesellschaft zu verwandeln.« Das macht die Welt egalitär; jeder ist heute ein Arbeiter, auch der Top-Manager. Der erst recht. Noch bis zum Anfang des 20. Jahrhundert war die »leisure class« (Torsten Veblen) stolz darauf, selbst nicht arbeiten zu müssen, weil andere für sie hart und lange schufteten. Das hat sich gewendet: die Gewerkschaften erkämpften für die Bandarbeiter die 35–Stunden-Woche, während die Manager-Klasse sich brüstet, erst nach Einbruch der Dunkelheit das Office zu verlassen.
Einer Welt, die sich ausschließlich auf die Arbeit versteht, muss die Androhung einer Welt ohne Arbeit als Absturz in das Nichts erscheinen. Was gibt uns dann noch Sinn? Sporadisch machen gleichwohl immer wieder Utopien eines »Rechts auf Faulheit« die Runde. Der große Ökonom John Maynard Keynes träumte in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts davon, dass für seine Enkel und Urenkel – also für uns – der wirtschaftliche Fortschritt die wichtigsten Bedürfnisse erfüllt und menschliche Arbeit sich mehr oder weniger erübrigen werde. Arbeit werde eine Sache für Spezialisten, so ähnlich wie die Zahnheilkunde. Der Rest der Menschheit könne sich schöneren Dingen zuwenden und sich erfreuen an den Lilien auf dem Feld. Mehr als 15 Stunden Arbeit in der Woche seien im Jahr 2030 nicht nötig, so Keynes: »Drei Stunden täglicher Arbeit müssen reichen, um den alten Adam in uns zufriedenzustellen.«
Flow: Frei von Angst und Langeweile
Es ist bekanntlich anders gekommen. Weder haben sich die Menschen von der Arbeit befreit, noch wollten sie es. Arbeit – niemand wusste das besser als Hegel und Marx – ist eine Form der Selbstentäußerung, die uns paradoxerweise zu uns selbst zu bringen vermag. Erst »am anderen seiner selbst« kommt der Mensch zu sich. Der in Chicago lehrende ungarische Psychologe Mihály Csíkszentmihályi spricht von »Flow« und meint damit das Gefühl, frei von Angst und Langeweile im Tun aufzugehen. Dieses Gefühl, einmal beglückend erfahren, nährt sich an sich selbst und wirkt dauerhaft als »intrinsische Motivation«, die mehr wert ist als Boni und Beförderungen (was nicht heißt, dass die nicht auch wirken). Flow, so Csíkszentmihályi, ist die Grundlage von Jobzufriedenheit, sofern sie das richtige Maß zwischen Überforderung (Burn-Out) und Unterforderung (Bore-Out) zu finden vermag.
Dass Arbeit zufrieden macht, darüber ist sich die verhaltensökonomische Glücksforschung seit langem einig. Umgekehrt macht kaum etwas die Menschen so unglücklich wie die Arbeitslosigkeit. Das haben die Sozialwissenschaftler Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld in ihrer berühmten Studie über die »Arbeitslosen von Marienthal« in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts beschrieben. Nahezu alle Erwerbspersonen in dem österreichischen Dorf waren damals arbeitslos geworden. Wiewohl die schlimmste Armut durch staatliche Unterstützung gelindert wurde, blieben die Folgen des Arbeitsentzugs verhängnisvoll. Am auffallendsten war die Zerstörung der Zeitstruktur. Männer benötigten für eine Tätigkeit, die »unter normalen Umständen« zehn Minuten in Anspruch nimmt, einen halben Tag – und versäumten es, pünktlich zum Mittagessen nachhause zu kommen. Marienthal war eine Welt voll von Resignierten, Verzweifelten, Apathischen. Arbeitslosigkeit macht dauerhaft unglücklich: man gewöhnt sich nie daran. Selbst wer wieder Arbeit findet, hat lange noch zu knabbern.
Es gilt: Besser eine Arbeit, als keine Arbeit. Es gilt auch: Besser eine schlechtere Arbeit, als gut bezahlte Arbeitslosigkeit. Die Chancen, eine bessere Arbeit zu bekommen, sind für die, die schon Arbeit haben, viel höher als für Arbeitslose. Vor ein paar Jahren konnte der Anthropologe und Attac-Aktivist David Graeber viel Aufmerksamkeit erzeugen mit seiner These, in der heutigen Wirtschaftswelt gäbe es in zunehmendem Maße sogenannte Bullshit-Jobs. Gemeint damit waren Jobs, die eine akademische Ausbildung verlangten, etwa im Finanzwesen, in großen Rechtsanwaltskanzleien oder unter Unternehmensberatern. Diese Leute verdienen gut, würden aber gleichwohl mit ihrer professionellen Überflüssigkeit konfrontiert, litten darunter, dass ihre Arbeit höchstens einen wirtschaftlichen, aber keinen sozialen Nutzen haben. Kein Wunder, so die These, dass von der Arbeit ausgelöste psychische Erkrankungen zunähmen.
Graebers Bullshit-These ist bis heute populär, wurde in akademischen Publikationen über 800 mal zitiert, wie »Google Scholar« gezählt hat. Kürzlich haben drei britische Forscher die These empirisch anhand großer Umfragedatenmengen überprüft. Das Ergebnis: Die Bullshit-These ist Bullshit. Keine Behauptung lässt sich halten. Knapp vier Prozent – und nicht fünfzig Prozent der Befragen – finden ihre Arbeit überflüssig. Die Zahl nimmt nicht zu, sondern ab. Wer einen akademischen Job hat – die Finanzleute und Rechtsanwälte – fühlt sich besser und zufriedener als Müllmänner oder Reinigungspersonal. Ein Studium wirkt sich nicht nur auf das Einkommen positiv aus, sondern auch auf das Gefühl, etwas Sinnvolles für die Gesellschaft zu leisten und mit sich einverstanden zu sein. Nicht die Depressionen nehmen zu, sondern die Diagnosen von Depressionen – ein großer Unterschied. »Selbstausbeutung«, ein Lieblingsnarrativ vieler Soziologen, hat selten einen empirischen Erfahrungshintergrund.
Respekt oder Entfremdung?
Dass es entfremdete Arbeit gibt, um Marx› berühmten Begriff zu bemühen, braucht nicht bestritten zu werden. Entfremdung ist heute eine soziale, keine ökonomische Kategorie: Wenn Vorgesetzte nicht respektvoll mit ihren Mitarbeitern umgehen, dann führt das zu Beschädigungen. Anerkennung, Karriereförderung, Möglichkeiten zur Teilnahme und Teilhabe, sich aktiv für die Gestaltung der Arbeit einsetzen zu können, dies alles zählt bei der Frage, ob jemand morgens gerne in das Office kommt und das Gefühl hat, wertvoll zu sein. »People don’t leave bad jobs, they leave bad bosses«, sagen die Umfragen zur Arbeitszufriedenheit: Es sind die Vorgesetzten, die verantwortlich sind, wenn jemand kündigt. Ohne gegenseitige Anerkennung funktioniert unser Leben nicht.
Angesichts der überwältigenden Hinweise für den Wert menschlicher Arbeit gibt es wenig Zweifel, dass das »bedingungslose Grundeinkommen« ein Irrweg wäre, seiner Beliebtheit in Umfragen zum Trotz. Es verspricht Befreiung vom Zwang der Arbeit und will aus der vermeintlichen Not (Automatisierung der Fertigung in den Fabriken) eine Tugend (Geld auch ohne Arbeit) machen. Erst mit bedingungslosem Grundeinkommen würden die Menschen kreativ, sagen seine Anhänger. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Im Preis für die Arbeit, dem Lohn, spiegelt sich die Wertschätzung, die andere für meinen Einsatz aufbringen. Ihre Zahlungsbereitschaft lässt mich den »gesellschaftlichen Wert« meiner Arbeit spüren.
Von wegen Work-Life-Balance. Schon der begriffliche Gegensatz geht in die Irre: Als ob die Arbeit das Gegenteil von Leben wäre. Als ob die »privaten Bedürfnisse« wichtiger wären als die Erfahrung der Wertschätzung der Arbeit. Arbeit ist Leben. Ältere Arbeitnehmer, denen es ein Traum schien, so schnell wie möglich in Vorruhestand zu kommen, landeten nach kurzer Zeit der Euphorie in einer Dauerdepression, weil sie die Arbeit vermissten. Die Vorstellung, die Menschen sollten nach einer Zeit der entfremdenden Erwerbstätigkeit in den beglückenden »Ruhestand« überwechseln, ist eine Sackgasse. Geistesarbeiter haben es da einfacher. Sie können ihr Leben lang arbeiten, weil ein Leben ohne Arbeit kein Leben ist. Wer nicht arbeitet, lebt nicht (mehr).
Es geht nicht um »Life«, es geht in Wirklichkeit um einen guten Lebensrhythmus und ein gesundes Maß zwischen Arbeiten, Liebe, Familie, Muße und körperlicher Bewegung. Wenn nicht alles trügt, dann ungefähr in dieser Reihenfolge.
Der Essay ist als Gastkommentar am 13. September 2021 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.
Rainer Hank