Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen14. Juli 2022
Zeitenwende 1972Sind die guten Jahre jetzt vorbei?
Im Frühjahr 1972, also vor genau 50 Jahren, hielt ich mein Abiturzeugnis in der Hand. An diesem Juli-Wochenende 2022 trifft sich unsere Klasse in Stuttgart. Auftakt ist in der alten Schule (inzwischen viel schicker geworden mit Aula, Schwimmbad und Spanisch im Angebot), anschließend Führung durch die Stadt (die ist auch schicker geworden, zum Glück hat man den scheußlichen Kleinen Schloßplatz weggesprengt) und anschließender Feier im Gasthaus (mit Maultaschen und so). Wie man das halt macht, mit ein bisschen Bangnis im Voraus, ob man noch alle kennt und sich noch etwas zu sagen hat.
Unsere Gefühle waren damals nicht viel anders als die der Abiturienten von heute: Die Welt steht offen, das Leben darf in vollen Zügen gelebt werden. Was wir nicht gemerkt haben: Das Jahr 1972 markiert eine, wenn nicht die entscheidende Zäsur der Nachkriegsgeschichte. Die »goldenen Jahre« gingen zu Ende; das Wirtschaftswunder verabschiedete sich – nicht nur hierzulande, sondern in der gesamten westlichen Welt. Hätten wir es bemerkt, wir hätten uns in unseren Zukunftsoptimismus kaum irritieren lassen. Aber als Zeitgenosse ist man ohnehin ein schlechter Deuter seiner Gegenwart. Das können die Historiker hinterher besser. Die Eule der Minerva beginnt erst mit einbrechender Dämmerung ihren Flug, wie man zu sagen pflegt.
Der amerikanische Ökonom Paul Krugman (er ist mein Jahrgang, einen Monat jünger) kommt regelmäßig ins Schwärmen, wenn er von den »glorreichen Jahren« nach dem Zeiten Weltkrieg erzählt. Vergangene Woche tat er es in seiner New-York-Times-Kolumne mal wieder besonders überschwänglich: dem Kapitalismus waren seine schroffen Ecken und Kanten von starken Gewerkschaften abgeschliffen worden, die Regierungen bekannten sich zu ihrer Verantwortung als Wohlfahrtsstaaten, die Inflation war niedrig, das Wachstum hoch, die Ungleichheit gering. Hierzulande nannte man dieses Arrangement »soziale Marktwirtschaft«. Krugman spricht von den »anständigsten Gesellschaften, welche die Menschheit je gesehen hat«. Nun ja, im Älterwerden neigt man dazu, seine Jugend zu verklären. Bei uns in Deutschland firmierten die Fünfziger- und Sechzigerjahre ja lange eher unter dem Label »spießige Adenauerzeit«.
Die goldenen Nachkriegsjahre
Tatsächlich, so Krugman unter Verweis auf seinen Kollegen Brad DeLong, gab es nur zwei Phasen in der Geschichte (sieht man einmal von einer kurzen Phase im alten Rom ab), in denen sich wirtschaftliches Wachstum mit einer Steigerung von Glück und Zufriedenheit bei den Menschen paarte. Es waren die vier Jahrzehnte nach 1870, als der Fortschritt der industriellen Revolution in der der westlichen Welt angekommen und nicht gleich wieder vom Bevölkerungswachstum aufgefressen wurde. Diese Phase endete abrupt im Jahr 1914 mit dem – damals so genannten – Großen Krieg.
Die zweite Phase des Glücks begann nach dem Zweiten Weltkrieg und endete, nicht ganz so abrupt, in den auf 1972 folgenden Jahren. Was war passiert? Im Frühjahr 1972 warnte der »Club of Rome«, dass das Wachstum nicht grenzenlos sein würde und das Öl nicht ewig zum Heizen reichen würde. Das hörte sich gefährlich an. Seit den fünfziger Jahren war Deutschland von heimischer Steinkohle mehr und mehr auf Öl aus Nordamerika, Russland und dem Nahen Osten umgestiegen: schon einmal hatte man sich also von ausländischem Öl und der Macht des Opec-Kartells abhängig gemacht. Zugleich kam die bis dahin gefeierte Atomenergie (Walt Disney: »Unser Freund – das Atom«) in die Fundamentalkritik. 1972 wurden der deutsche »Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU)«, 1973 Greenpeace gegründet. In Whyl am Kaiserstuhl hatten sich die Weinbauern mit der neuen grünen AKW-Bewegung verbündet, um den Bau eines Atomkraftwerks zu verhindern.
Als dann 1973 ägyptische Flugzeuge israelische Stellungen auf dem Sinai angriffen (»Yom-Kippur-Krieg«), drosselte die Opec die Öl-Fördermenge, um die westlichen Staaten zu schwächen. Deutschland sprach vom »Ölpreisschock« – und legte hektisch ein Energiesparprogramm auf, um die Abhängigkeit vom Öl zu reduzieren: Ausbau des Braunkohlebergbaus, ein erster Großversuch mit Sonnenenergie und vielfältige Appelle zum Energiesparen, die ihren Höhepunkt in den sogenannten autofreien Sonntagen fanden, als wir uns zu Spaziergängen auf den Autobahnen trafen. Komisch, dass sich das heute ganz vertraut anhört.
Ob man uns damals auch schon aufgefordert hat, die Duschzeit zu reduzieren, erinnere ich nicht mehr. Was danach kam weiß ich allerding schon noch: Die Inflation stieg 1972 auf sechs Prozent, zwei Jahre später dann auf 13 Prozent. Die Gewerkschaften suchten die Reallohnverluste wettzumachen. In der sogenannten Klucker-Runde setzte der öffentliche Dienst elf Prozent mehr Lohn durch, ein Datum, dass zumindest mit zum Sturz von Kanzler Willy Brandt beitrug.
Alles klingt erschreckend aktuell
Von »Zeitenwende« war damals nicht die Rede. Die Schlagworte hießen »Kulturwende« (Robert Held in der FAZ) oder »Tendenzwende« (Hermann Lübbe). Anfangs war damit lediglich der ökonomische Schock gemeint, später mündete dies in den moralischen Apell, unser Leben zu ändern. Die Tendenzwende verlangte eine konservative Genügsamkeit.
Energiekrise, Inflation, Stagnation, Rezession, Lohn-Preis-Spirale, ein Krieg, an dem die ganze Welt indirekt beteiligt ist und Appelle, Verzicht im Großen wie im Kleinen zu üben: Die Stichworte muten in der Tat gespenstisch aktuell an. Auch wir haben seit der Jahrtausendwende zwanzig gute Jahre hinter uns. Man durfte hoffen, Corona werde Episode bleiben und danach brächen die »goldenen Zwanziger« an, Zeiten des ausgelassenen Konsums nach Wochen des häuslichen Gefängnisses, genannt Lockdown. Stattdessen finden wir jetzt vor in einer »Ära der Unsicherheit« (Jens Weidmann).
Deutschland ist nach Auskunft der Wirtschaftshistoriker übrigens in den Siebzigern mit einem blauen Auge davongekommen, weil die Bundesbank relativ schnell durch eine restriktive Geldpolitik, also höheren Zinsen und einer Verknappung der Geldmenge, die Inflation stoppen konnte. Dieser Ausweg ist heute verstopft, weil es keine nationale Geldpolitik mehr gibt und die Europäische Zentralbank ihr Stabilitätsziel aus dem Auge verloren hat, weil die Sorge größer ist, mit höheren Zinsen die Südländer im Euroraum fiskalpolitisch zu strangulieren.
Ob die »Konzertierte Aktion« uns Rettung bringt, die der Kanzler ins Leben gerufen hat? Das glaube ich nicht. »Unterhaken« (Olaf Scholz) ist SPD-Romantik. Lieber halte ich mich an den »realistischen Optimismus«, den ich dieser Tage im Blick einer jungen Frankfurter Abiturientin des Jahres 2022 zu erkennen glaubte.
Rainer Hank