Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen16. Mai 2019
Wir OpferOhnmacht macht das Leben leicht
Demnächst beginnen die Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag des Mauerfalls. Als eine Art Auftakt hat Alt-Bundespräsident Joachim Gauck jetzt die neuen Bundesländer bereist (darf man sie wirklich heute noch »neu« nennen?). Darüber gibt es einen sehenswerten Film von Stephan Lamby, der am kommenden Dienstag, 9. April, im ZDF läuft. Erschütternd ist eine Unterhaltung Gaucks mit Frauke Petry, jener Frau, die es mit Durchsetzungswillen und Skrupellosigkeit an die Spitze der AfD geschafft hat. Petry versteigt sich zu der Behauptung, wie damals in der DDR sei auch heute das Volk der politischen Elite ohnmächtig ausgeliefert. Gauck widerspricht, will Petry zumindest zu der Einschränkung überreden, es sei das »Gefühl« der Ohnmacht, das im Osten grassiere. Doch gereizt insistiert Petry, es gehe nicht nur um Einbildung (»Gefühl«), sondern um eine ganz reale Angelegenheit.
Die Szene Ost im Jahr 2019 ist nicht zuletzt deshalb pikant, weil Pfarrer Gauck, bekanntlich selbst ein Mann mit ostdeutscher Biographie, vor sieben Jahren, am 4. Oktober 2012, der Chemikerin und Pfarrersfrau Frauke Petry im Schloss Bellevue das Bundesverdienstkreuz verliehen hat, freilich nicht für ihre Verdienste in der AfD (die es damals noch gar nicht gab), sondern für ihren Berufsweg als (damals) erfolgreiche Gründerin und Unternehmerin. Gauck lobte Petrys »besondere Courage und Tatkraft im Bereich Forschung und Entwicklung«, Eigenschaften, die so ziemlich das Gegenteil einer gefühlten oder realen Ohnmacht im Kapitalismus darstellen. Umso unfassbarer erscheint es Gauck, dass eine Frau mit dieser Nachwende-Erfolgsgeschichte sich und ihre Landsleute als wehrlose »Opfer« machtvoller Eliten darstellen kann anstatt zu loben, dass der 9. November 1989 für alle Ostdeutschen Freiheit und die Chance zu einem selbstbestimmten Leben gebracht hat.
Auch alte weiße Männer sind Opfer
»Du Opfer« lautet ein unter Jugendlichen beliebtes Schimpfwort. Daraus ist inzwischen ein Plural victimologischer Selbstbeschreibung einer ganzen Gesellschaft geworden, die sich in unterschiedliche Opfergruppen auffächert und einen Wettbewerb darüber abhält, wer von ihnen am ohnmächtigsten sei. Die Hierarchie der Opfer wird aktuell angeführt vom Ostbürger, dicht gefolgt von den Frauen als Gattung (unterdrückt, schlecht bezahlt, zum Kinderkriegen verurteilt, an der Karriere gehindert, unablässig männlichen Übergriffen ausgesetzt). Aber natürlich sind wir alle, Frauen wie Männer, Opfer der Globalisierung, die uns die Arbeit weg nimmt, dem Diktat von Amazon, Facebook & Co. unterwirft und an der Ungleichheit der Vermögen und Einkommen schuld ist. Ganz Afrika ist bis heute Opfer des Kolonialismus, das lindern auch Milliarden an Entwicklungshilfe nichts. Flüchtlinge sind Opfer der Gewalt in ihren Heimatländern und wir sind Opfer der Massenmigration von Flüchtlingen in den Westen. Bald werden wahrscheinlich auch die »alten weißen Männer« ihre Chance im Opferdiskurs ergreifen (Sophie Passmann wird das schon noch hinkriegen). Opfer allerorten. Manche von uns sind Mehrfachopfer. Die jeweiligen Erfolgsgeschichten unterschlägt man lieber.
Was macht es so attraktiv, Opfer zu sein? Das Opfer kann die Schuld für ihr Schicksal anderen Menschen oder anonymen Mächten zuschreiben. Schicksal wird ausschließlich im Modus der Schuld verhandelt, freilich um den Preis des Eingeständnisses der eigenen Machtlosigkeit. Wer die Ostdeutschen, die Frauen etc. dazu auffordert, sich nicht als »Opfer zu definieren« (ein regelmäßiger Gesprächszug im Opferdiskurs) wird auf aggressive Zurückweisung stoßen und dem Verdacht ausgesetzt, anderen die Schuld für (gefühltes oder wirkliches) Unglück in die Schuhe schieben zu wollen. Dass das Schicksal stets eine Melange aus Zufall, Leistung, Strukturen und dem Willen zur Veränderung derselben ist, ist im fatalistisch enggeführten Opferdiskurs nicht vorgesehen. Es geht einzig um die binäre Schuldfrage: ich oder die anderen!Indessen erwächst dem Opfer eine abgeleitete Macht, eine Art sekundärer Krankheitsgewinn, der sich vor allem moralisch zu Gehör bringt. In der ökonomischen Spieltheorie rangiert dies unter dem Label »Samariterdilemma«. Das Opfer, der unter die Räuber Gefallene aus dem Neuen Testament, hat »theoretisch« zwei Wahlmöglichkeiten: Er kann sich bemühen, auf eigene Beine zu kommen. Oder er kann sich auf fortwährende Hilfe des Samariters verlassen und dessen »Barmherzigkeit« dauerhaft in Anspruch nehmen, um seine Schwäche in eine Form von Stärke zu pervertieren. Spieltheoretisch besteht das Dilemma darin, dass der Nutzen für das Opfer – anders als für die Gesellschaft als Ganzer – in beiden Fällen gleich groß ist, was bedeutet, dass es für das Opfer keinen Anreiz gibt, sich aus der Ohnmacht zu befreien. Er (oder sie) kann die Macht seiner Ohnmacht genießen und darauf setzen, dass die Göttin der Gerechtigkeit sich auf die Seite der Unschuldigen schlägt.
Victim oder Sacrifice
Die Opferforschung belehrt uns darüber, dass das passive Opferverständnis historisch relativ jung ist. Bis ins späte 19. Jahrhundert, schreibt die Züricher Historikerin Svenja Goltermann, dominierte der aktive Opferbegriff: »sich für jemanden aufopfern«, »ein Opfer für jemanden oder etwas bringen«. Erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts verlor das »Opfer für etwas« an Bedeutung. Andere Sprachen teilen das Janusgesicht des Opfers auf zwei verschiedene Begriffe auf. »Sacrifice« beschreibt die »verzichtende Hingabe« (heute als Tugend praktisch komplett außer Mode), während »victim« die »geschädigte Person«, das »unschuldige Opfer« bezeichnet. Wer passives Opfer ist hat eine Entschuldigung dafür, nicht selbst für sein Leben verantwortlich sein zu müssen, hat freilich auch lediglich seine sekundäre, moralisch aufgeladene Macht der Machtlosigkeit als Waffe zur Verfügung.
Das war nicht immer so, wie wir beim griechischen Historiker Thukydides lesen. Vor die Wahl gestellt, von den überlegenen Athenern sofort unterjocht oder später militärisch besiegt zu werden, entscheiden sich die Melier – stolze Bewohner einer kleinen Insel in der Ägäis – für die militärische Option. Sie wollen keine Opfer der Großmacht Athen sein, sondern lieber Verlierer im Kampf. Hier kommt der entscheidende Gegenbegriff ins Spiel: Niemand will heute Verlierer sein, alle wollen lieber Opfer sein. Dabei wäre die Haltung des Verlierers die sportlich überlegene Haltung, die sich nicht auf die passive Opferzuschreibung zurückziehen müsste. Der Verlierer ist ein Risiko eingegangen, hat sich womöglich verzockt, vielleicht hat er auch einen Fehler gemacht oder eine Schwäche gezeigt, woraus ihm aber keine moralische Schuld erwächst. Vor allem aber hat der Verlierer die Chance zur Wiederholung im Wettbewerb: Neues Spiel, neues Glück. Dem Opfer hin gegen bleibt nur der Hilferuf an die Politik.
Damit sind wir wieder bei Joachim Gauck. Den Ostdeutschen fehle der Durchsetzungswille. Sie hätten sich eine Wettbewerbsmentalität wie ihre Landsleute im Westen nicht auf natürlichem Wege antrainieren können, vermutet der Alt-Bundespräsident. Damit kann er kaum sich selbst oder Frauke Petry gemeint haben. Er beschreibt jene, die sich selbst nur als Opfer sehen können. Und vom Wettbewerb nichts wissen wollen.
Rainer Hank