Rainer Hank als Illustration

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  • 15. Juni 2020
    Wettlauf der Opfer

    Ohne Sprache keine Erfahrung Foto Guilherme Stecanella/unsplash

    Dieser Artikel in der FAZ

    Über Anti-Rassismus, Feminismus und Liberalismus

    Beginnen wir mit General Motors. Emma DeGraffenreid, eine schwarze Frau, hatte 1976 in St. Louis gemeinsam mit vier anderen schwarzen Frauen ihren früheren Arbeitgeber General Motors wegen Diskriminierung verklagt. Die Frauen beklagten, dass es bei General Motors Praxis sei, am Fließband ausschließlich Männer und als Sekretärinnen ausschließlich Frauen zu beschäftigen. Während für die Männerjobs auch schwarze Männer genommen wurden, waren als Sekretärinnen ausschließlich weiße Frauen beschäftigt. Schwarze Frauen hatten somit keine Chance.

    Das Gericht lehnte die Klage ab. Die Richter wollten nicht anerkennen, dass Menschen gleichzeitig wegen Geschlecht und Hautfarbe diskriminiert wurden. Die Frauen sollten sich entscheiden, ob sie gegen Diskriminierung wegen Geschlecht oder wegen Hautfarbe klagen wollten, eine Kombination von beidem sei nicht möglich. Damit freilich waren die Frauen in der Falle und hatten bei den Richtern verloren: Dass General Motors nicht nach Hautfarbe diskriminiere, sehe man daran, dass schwarze Männer am Fließband arbeiteten. Dass es in der Einstellungspolitik keinen Sexismus gebe, könne man daran erkennen, dass bei General Motors viele Frauen als Sekretärinnen arbeiteten.
    Der Fall General Motors ist eine Schlüsselszene in einer berühmt gewordenen Studie der amerikanischen Juraprofessorin Kimberlé Crenshaw aus dem Jahr 1989. Darin hat sie eine Kritik sowohl von Anti-Rassismus wie auch weißem Feminismus entwickelt. Was an dem Fall besonders interessant ist: Es gibt keinen Begriff für die doppelt diskriminierende Erfahrung der Frauen. Wo es aber keinen Begriff gibt, gibt es auch keinen juristischen Sachverhalt, der den Richtern als Anspruchsgrundlage dienen und den Frauen zu ihrem Recht verhelfen könnte.

    Schwarze Frauen machten also die Erfahrung von Diskriminierung, die weder schwarze Männer noch weiße Frauen nachvollziehen konnten. Kimberlé Crenshaw erfand dafür den Begriff »Intersektionalität«. Das klingt sperrig und bedeutet »Schnittmenge« oder »Kreuzung«, also das Aufeinandertreffen zweier oder mehrerer Diskriminierungsstrukturen (Ethnie, Klasse, Geschlecht, Sex).

    Was sind »hermeneutische Ungerechtigkeiten«?

    Der Fall General Motors macht auf Formen von Ungleichheit aufmerksam, die herkömmlich nicht vorgesehen sind: herkömmlich geht es etwa um Einkommens- oder Bildungsungleichheiten in einer Klassengesellschaft, die sich je nach politischem Standpunkt durch Revolution, Umverteilung oder Wettbewerb abtragen lassen. Der heutigen sogenannten Identitätspolitik geht es dagegen auch um komplexe »hermeneutische Ungerechtigkeiten«, Erfahrungen, für die erst einmal ein Name gefunden werden muss. Ein Beispiel: Als es den Begriff »sexual harrassment« noch nicht gab, ließen sich ungewollte Annäherungen eines Mannes von Frauen lediglich als »Flirt« oder gar »Kompliment« verstehen. Im Falle von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz brauchte der belästigende Chef sich keiner Schuld bewusst sein – während die belästigte Angestellte das Geschehene lediglich diffus verstehen konnte. Sie blieb schutzlos, solange es kein Wort für den Übergriff gab. Damit war die Erfahrung gleichsam nicht existent. »Hermeneutische Ungerechtigkeit« meint – ganz im Sinne Stefan Georges -, dass »kein Ding sei, wo das Wort gebricht«. Erst wenn sie benannt ist, hat eine Erfahrung die Chance, Gehör zu finden.

    So wichtig das Konzept »hermeneutischer Ungleichheit« ist, so zeigt sich doch die Gefahr, daraus ein Geschäftsmodell zu machen, das am Ende in einen merkwürdigen Überbietungswettbewerb durch Hierarchisierung des Opferstatus führt: Frau, anderssexuell, Migrantin, Nichtweiße, Nichtchristin. Jede dieser Identitäten, zur vorhergehenden hinzuaddiert, wird das erlittene Unrecht mehr als verdoppeln. Bei den Tätern macht die Addition der Identitäten jede davor noch schlimmer: Mann, heterosexuell, Nichtmigrant, Weißer, Christ. Solche Kollektividentitäten haben nach Einschätzung der Soziologin Sandra Kostner zwei Ziele: Empowerment von Opfergruppen und moralischen Anklage von Schuldgruppen. Diskriminierungsolympiaden führen zur Isolierung von Opfergruppen und münden am Ende in die Stammesgesellschaft. Die Welt teilt sich strikt in Gute und Böse, in Täter und Opfer. Dass Menschen häufig Opfer und Täter zugleich sind, diese irrlichtende Erfahrung ist nicht vorgesehen.

    Über Ungerechtigkeiten und Diskriminierung sollen deshalb ausschließlich diejenigen authentisch reden dürfen, die zu einer von Diskriminierung betroffenen Gruppe zählen. »Kann ein Mensch überhaupt frei sein, frei sprechen, in einer Sprache, in der er als Sprechender nicht vorgesehen war? In einer Sprache, in der er nur vorgesehen ist als einer derjenigen, über die gesprochen wird?« So fragt die Bloggerin Kübra Gümüsay. Der Klasse der Täter wird die nötige Sprachkompetenz, Empathie und moralische Urteilsfähigkeit abgesprochen. Daraus folgt: Wenn die Opfer sich grundsätzlich in der Sprache der Täter nicht wiederfinden, dann müssen konsequenterweise die Täter schweigen.

    Wer etwas sagt vs. was einer sagt

    Dass es wichtiger ist, wer etwas sagt, als was einer sagt, ist ein Rückfall hinter die Aufklärung, die jedermann und -frau dazu ermutigt, sich seines/ihres Verstandes zu bedienen. Dabei braucht gar nicht geleugnet werden, dass Opfer sensibler sind für Diskriminierung als Täter und dass Argumente standpunktabhängig sind. Daraus ein Sprechverbot für Nichtbetroffene abzuleiten, würde aber einen neuen Rassismus etablieren, meint der Bonner Philosoph Markus Gabriel. Dass Menschen mit dunkler Hautfarbe unterdrückt würden, müsse gesellschaftlich überwunden werden. »Ihnen ist nicht durch die Erfindung irgendeiner Identität geholfen.«

    Man kann es fatal oder einfach nur traurig nennen, dass die herrschende Identitätspolitik den klassischen Liberalismus der europäischen Aufklärung als Bundesgenossen im Kampf gegen Diskriminierung ignoriert oder – schlimmer noch – als Feind behandelt: Kapitalismus und (Neo)Liberalismus gelten als systemische Agenten weiß-männlicher Unterdrückung in einer Wettbewerbsgesellschaft. Dabei waren es die liberalen Aufklärer von David Hume und Adam Smith über John Stuart Mill bis zu John Rawls, die eben nicht nur das Lob freier Märkte, sondern auch die Idee von Toleranz, Nicht-Diskriminierung und einer universalen Moral in die Welt gebracht haben (eine Debatte dazu gibt es aktuell auf dem Blog CatoUnbound). Der Staat soll mit »Law and Order« dafür sorgen, dass jedermann ein freies Leben führen kann in einer Welt, in der Geschlecht, Rasse oder Religion keine Rolle spielen. Das muss das Ziel sein. Ungleichheiten (Geschlecht, Ethnie etcetera) können und müssen nicht verschwinden, aber alle behandeln einander gleich. Entscheidend ist, was einer sagt, ob es ein gutes, zustimmungsfähiges Argument ist. Einerlei ist, wer es sagt: ob jung, alt, gebildet, schwul, männlich oder schwarz. Solche Diversität braucht keine Opfer-Quoten. Denn das wäre bloß eine neue Form von Diskriminierung.

    Rainer Hank