Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen14. Juni 2022
Wer hat noch Burnout?Vom Kommen und Gehen einer Volkskrankheit
»Leidet eigentlich noch jemand an Burnout?«, frug mich kürzlich ein Freund: »Man hört gar nichts mehr.« Ich versprach ihm zu recherchieren.
Die kurze Antwort: Der Eindruck ist richtig. Burnout scheint auf dem Rückzug zu sein. Damit ist indes noch nicht viel gewonnen. Denn, was heißt das? Es könnte tatsächlich bedeuten, dass weniger Menschen an Burnout erkranken, weil wir insgesamt »resilienter« geworden sind. Es könnte auch sein, dass immer noch viele oder sogar mehr Menschen an Burnout leiden, aber die Ärzte die Diagnose Burnout weniger häufig stellen oder einen anderen, modischeren Begriff gefunden haben. Schließlich könnte es sein, dass die öffentliche Aufmerksamkeit, die bekanntlich sehr volatil ist, keine Lust mehr hat, sich um Burnout zu kümmern.
Also der Reihe nach. Erst einmal eine Definition und ein bisschen Statistik. »Burnout« (»Ausgebrannt«) wird von der Weltgesundheitsorganisation definiert als »Stress am Arbeitsplatz, den die Beschäftigten nicht erfolgreich verarbeiten können«. Symptome sind Energielosigkeit und Erschöpfung, eine zunehmende geistige Distanz, negative Haltung oder Zynismus zum eigenen Job sowie ein verringertes berufliches Leistungsvermögen. Offiziell gibt es die Diagnose im medizinischen Klassifikationssystem erst seit kurzem. Das Leiden selbst, so dünkt es mich, ist dagegen uralt.
Google-nGram-Viewer, eine Suchmaschine, die Unmengen von Daten digitalisierten Bücher durchkämmt und die ich gerne nutze, stellt für deutsche Texte einen Burnout-Höhepunkt im Jahr 2011 fest. Vor 1980 kommt der Begriff praktisch nicht vor; da sprach man wohl eher von Depression. Den steilsten Burnout-Anstieg sehen wir in den Jahren 2000 bis 2011, seither zeigt die Kurve wieder nach unten. Das Ergebnis deckt sich mit Daten der deutschen Betriebskrankenkassen, die ebenfalls einen Höchststand für das Jahr 2011 melden. Seit zehn Jahren nehmen die Fallzahlen ab.
Neben den statistischen gibt es literarische Indizien. Die Selbsterfahrungsliteratur, wo mehr oder minder Prominente ihr Burnout wahlweise pädagogisch oder exhibitionistisch beschreiben, scheint ebenfalls abzunehmen. Entweder schwindet der Mitteilungsdrang der von Burnout Betroffenen oder die Verlage sehen für das Thema keinen Markt mehr. Der Höhepunkt lag auch hier vor gut zehn Jahren. Damals, 2010, erschien zum Beispiel das Buch »Brief an mein Leben« der Publizistin (Uni-Professorin, Staatssekretärin, Wirtschaftswoche-Herausgeberin) Miriam Meckel. Meckels Bekenntnisschrift ist typisch für das Genre. Eine bekannte Frau, ehrgeizig, erfolgreich in jungen Jahren, spricht darüber, wie sie an ihrem eigenen und dem ihr von »der Gesellschaft« vorgegebenen Perfektionismus zerbricht: »Ich war fünfzehn Jahre um die Welt gereist, hatte gearbeitet, geredet, geschrieben, akquiriert, repräsentiert, bis der Arzt kam. Ich habe keine Grenzen gesetzt, mir selbst nicht und auch nicht meiner Umwelt, die zuweilen viel verlangt, mich ausgesaugt hat wie ein Blutegel seinen Wirt. Und das meiste von dem, was ich gemacht habe, hat mir tatsächlich Freude gemacht. Aber ich habe in alldem nicht die aristotelische Mitte finden können zwischen dem ‚Zuviel› und dem ‚Zuwenig›. Nun war ich plötzlich stillgelegt.« Es folgt ein Bekehrungserlebnis im Stil von Rilkes »Du musst Dein Leben ändern« und die Beteuerung, jetzt viel näher bei sich selbst zu sein. Dass alles sogleich wieder in einen Bestseller münden musste, spricht dafür, das Leistungsanspruch und Erfolgsdruck nicht gänzlich gewichen sein können.
Macht der Kapitalismus krank?
Wie also kam es zur rasanten Karriere des Burnouts und ihrem abruptem Ende? Eine beliebte Erklärung stammt von dem Soziologen Hartmut Rosa. Sie geht so: Der Kapitalismus befördert Verhältnisse, unter denen Burnout oder Depressionen zunehmen. Der Kapitalismus mache krank. »Wir haben es mit einer Form von Entfremdung zu tun; ein gutes Leben gelingt nur schwerlich unter diesen Bedingungen.« Burnout sei die Krankheit einer Gesellschaft, deren Verhaltensnormen nicht mehr auf Schuld und Disziplin gründen, sondern auf Verantwortung und Initiative – und daraus resultiere die krank machende Überforderung.
Die These, wonach der Kapitalismus an Burnout schuld sei, weil die äußeren Lebens- und Arbeitsbedingungen auch das Innere der Menschen zersetzen, hat für viele eine Plausibilität. Nimmt man sie beim Wort, müsste der Kapitalismus in Deutschland in den Neunziger- und Nullerjahren besonders schlimm gewütet haben, während wir in der letzten Dekade eine gewisse Entspannung und Abkehr vom Turbokapitalismus sehen müssten. Davon kann keine Rede sein. Im Gegenteil: In den Nullerjahren hatten wir dank der Agenda-Reformen der rot-grünen Schröder-Regierung weniger Arbeitslose. Das Wirtschaftswachstum war trotz Finanzkriseneinbruch 2009 insgesamt robuster als im folgenden Jahrzehnt und die Ungleichheit der Einkommen (»die Schere«), die vielen Kritikern als Beweis für den schlimmer werdenden Kapitalismus gilt, weitet sich seit 2005 nicht mehr. Zugenommen haben stattdessen die Realeinkommen der Arbeitnehmer, nicht zuletzt, weil keine Inflation zu verzeichnen war. Es bleibt der paradoxe Befund, dass just zu einer Zeit mit signifikant mehr Burnout-Fällen der Kapitalismus sich relativ von seiner Schokoladenseite zeigte.
Das bestätigt die These des Frankfurter Soziologen Martin Dornes, wonach die Burnout-Zahlen keine Zunahme der Krankheit, sondern eine Zunahme ihrer Diagnose spiegeln. »In der Wirklichkeit hat sich die Häufigkeit seelischer Erkrankungen kaum geändert«, schreibt Dornes: »Was sich dagegen geändert hat, ist unsere Sensibilität und Aufmerksamkeit dafür, sowie die Bereitschaft, vormals undiagnostiziertes Leid in medizinische Diagnosen zu überführen.«
Die Behauptung, dass die Zunahme der Burnout-Diagnosen mit der krank machenden Entfremdung und Beschleunigung des Kapitalismus zu tun hat, könnte viel eher eine indirekte Folge des Umstands sein, dass zu Anfang der Nullerjahre Bücher auf den Markt kamen, die dem Kapitalismus die Schuld an Burnout gaben, wenngleich ohne Beleg, quasi ein Nebeneffekt soziologischer Prosa. Neben Hartmut Rosas Beschleunigungsbuch ist vor allem der Bestseller »Das erschöpfte Selbst« (1999) des französischen Soziologen Alain Ehrenberg zu nennen.
Und heute? Heute stehen ganz offensichtlich andere Sorgen im Vordergrund. In der Pandemie konnte man ohnehin nur an Covid erkranken, oder? Und es war die quälende Erfahrung der Einsamkeit im Homeoffice, die vielen zu schaffen machte – und nicht die Erschöpfung von der Arbeit und ihren unerträglichen Anforderungen. Und jetzt ist es die Angst vor einem Atomkrieg und das Erschrecken über die brutale Aggression Putins, der über Leichen geht, die auf die Seele drückt.
So war es schon einmal. Um die Jahrhundertwende 1900 sprach man nicht von »Burnout«, sondern von »Neurasthenie«. Nach 1914 war von Neurasthenie nicht mehr die Rede.
Rainer Hank