Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen09. Juli 2019
Wem nützt Migration? Wem schadet sie?Eine Zwischenbilanz der Migrationsdebatte
Vier Jahre ist es nun her, dass Deutschland unvorbereitet von einer Welle von Migranten in eine Identitätskrise gestürzt wurde. Der Schock sitzt bis heute. Wie tief, das wird sich spätestens dann zeigen, wenn in wenigen Wochen die Ergebnisse der Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen vorliegen.
Doch es geht nicht nur um Nachwirkungen. Dass Menschen ihr Land verlassen und in andere Länder einwandern wollen, ist in unserer Welt nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall. Im Jahr 2017 waren 234 Millionen Menschen weltweit unterwegs, soviel wie noch nie in der Geschichte. Es ist illusionär zu meinen, es ließen sich die Ursachen der Wanderung eines Tages erfolgreich bekämpfen, so dass die meisten Menschen ein Leben lang da bleiben, wo sie geboren wurden. Solch eine Welt wäre weder ökonomisch noch moralisch wünschenswert. Auswandern ist ein Freiheitsrecht. Mitteleuropa war bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ein Kontinent, von dem große internationale Migrationsströme ausgingen, nicht nur, aber vor allem mit dem Ziel Amerika. Seither hat sich die Richtung gedreht: Heute sind wir attraktiv für Wanderer aus Südeuropa, aus dem Orient oder aus Asien.
Kein Schaden für Arbeit und Beschäftigung
Umso wichtiger wäre eine nüchterne Bilanz über Kosten und Nutzen der Zuwanderung. Auch wenn Migration ein Freiheitsrecht ist, so haben doch die Bürger der Zielländer ebenfalls ein Recht, nach Kosten und Nutzen zu fragen. Denn die Ängste sind groß; wir fremdeln alle.
Leider sind die Ökonomen, wie es so ihre Art ist, uneins, wie wir die Effekte der Migration beurteilen sollen. Ein gewisser Konsens lässt sich indes erkennen, weil es inzwischen auch eine große Zahl empirischer Literatur gibt. Ich halte mich im Folgenden an eine gute Zusammenfassung des Bochumer Finanzwissenschaftlers Martin Werding. Ihr Tenor: Befürchtungen, dass Zuwanderung die Konkurrenz am Arbeitsmarkt des Ziellandes stark verschärft und/oder Beschäftigung der bereits ansässigen Arbeitskräfte unter Druck setzt, haben sich als »weit übertrieben« erwiesen. So positiv freilich die Bilanz für Löhne und Beschäftigung ausfällt, so kritisch wird es, blickt man auf Finanz- und Sozialsysteme in den Zuwanderungsländern; ich komme darauf zurück.Beginnen wir mit den Löhnen. Die Theorie würde annehmen, dass bei wachsendem Arbeitsangebot der Preis für die Arbeit, also der Lohn, sinken muss. Doch das ist offenkundig selten der Fall. Als empirisches Beispiel dient der sogenannte »Mariel Boatlift«, der extrem gut untersucht ist: Im Frühjahr 1980 ließ Kuba 125000 Bürger nach Miami ausreisen, was die Zahl der Erwerbspersonen dort schlagartig um acht Prozent erhöhte, die der Kubaner sogar um 20 Prozent. Die neuen Zuwanderer waren jung, unqualifiziert und erhielten schlechte Löhne. Doch bereits ansässige Gruppen (Weiße, Schwarze, andere Hispanics, früher eingewanderte Kubaner) mussten keinen Abschlag auf ihre Löhne hinnehmen – mit Ausnahme einer kleinen Gruppe farbiger Highschool-Abbrecher. Das heißt: Die Beschäftigung im Zielland leidet nicht oder nur wenig und allenfalls kurzfristig. Noch nicht einmal in Großbritannien, wo der Aufreger »Personenfreizügigkeit« maßgeblich zur Brexit-Mehrheit beitrug, lassen sich negative Effekte im großen Stil nachweisen.
Wie kommt es zu diesem überraschenden Befund? Eine Erklärung des Ifo-Ökonomen Panu Poutvaara geht so: Migranten befinden sich häufig in einer schlechteren Verhandlungsposition als Einheimische. Deshalb erhalten sie auch schlechtere Löhne als die Einheimischen. Dies wiederum erhöht die erwarteten Gewinne von Unternehmen und ermutigt sie, zusätzliche Stellen zu schaffen. Einheimische des gleichen Qualifikationstyps verlieren nicht notwendigerweise durch einen Zustrom von Einwanderern, wie man es theoretisch eigentlich erwarten müsste: Obwohl es einen Wettbewerbseffekt gibt, der die Löhne der Zuwanderer drückt, werden zugleich neue Stellen geschaffen, von denen auch die Einheimischen profitieren können. Der Migrationsforscher Michele Battisti von der Universität Glasgow hat zwanzig Länder untersucht und herausgefunden, dass in vierzehn von ihnen sowohl hoch- als auch niedrigqualifizierte einheimische Personen von der Anwesenheit der Migranten profitiert haben.
Einwanderung in den Sozialstaat
Also alles prima. Nein. Denn die Betrachtung von Löhnen und Beschäftigung ignoriert den Umstand, dass die Migranten auch staatliche Infrastruktur- und Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Da kann sich der gerade beschriebene positive Effekt für Zuwanderer und Unternehmen für die Gesellschaft insgesamt problematisch auswirken. Straßen sind überlastet, Bauland wird teuer. Insgesamt wird es eng. In Deutschland mag das – zumal auf dem flachen Land – nicht das größte Problem sein. In der Schweiz, ein kleines und offenes Land, ist es ein großes Thema: Man hat dort eigens dafür den aus der Zoologie entlehnten Begriff »Dichtestress« erfunden. Es geht mithin um fiskalische und psychische Kosten für die Einheimischen.
Hinzu kommt das, was man »Einwanderung in den Sozialstaat« zu nennen sich angewöhnt hat. Ein gut ausgestatteter Wohlfahrtsstaat wie Deutschland wird zum Ziel ärmerer Migranten gerade auch aus der EU, die viele Sozialleistungen (Arbeitslosigkeit, Krankheit, später Rente) in Anspruch nehmen, obwohl sie dafür gar keine oder nur in geringem Maße Anrechte erworben haben. Das empfinden viele Einheimische als ungerecht. Es ist zugleich auch eine Erklärung für die Paradoxie, dass etwa in Ostdeutschland kaum Zuwanderer leben, aber zugleich die Ausländerdistanz bis –feindlichkeit sehr groß ist. Man braucht den Fremden nicht unbedingt in der Nachbarschaft haben: Es genügt, ausrechnen zu können, was unter dem Strich nach allen Abzügen einer arbeitenden Familie bleibt und in Beziehung zu setzen zu den Ansprüchen aus Hartz IV, die Zuwanderern zustehen. Die Ansprüche an Sozialleistungen stehen zwar in gleichem Maße auch den »Biodeutschen« zu. Doch viele Untersuchungen zeigen, dass die Bereitschaft der Bürger zu sozialstaatlicher Umverteilung abnimmt, wenn die ethnisch-multikulturelle Vielfalt des Landes zunimmt. »Kirchturmaltruismus« oder »National-Chauvinismus« heißen die etwas arroganten Fachbegriffe dafür.
Das Soziale mit dem Nationalen versöhnen
»Man kann offene Grenzen haben oder einen üppigen Wohlfahrtsstaat, aber keinesfalls beides zusammen«, so lautet die klassische These des Chicago-Ökonomen Milton Friedman. Politiker ziehen daraus unterschiedliche Schlüsse: Die dänischen Sozialdemokraten haben kürzlich spektakulär eine Wahl gewonnen mit einem sehr stark »national-chauvinistischen« Programm, das sich natürlich so nicht nennen durfte. Die deutsche SPD hat sich davon distanziert. Die AfD im Osten (Björn Höcke) verspricht üppige Rentenzuwächse – ausschließlich für »Volksdeutsche«, ein Programm, das man national-sozial nennen muss. Die CDU hat vorvergangene Woche die Aussage einiger Unionsparlamentarier aus Sachsen-Anhalt, man müsse das »Soziale« mit dem »Nationalen« versöhnen, ziemlich ruppig abgebürstet und die Parteifreunde mit einem Maulkorb bestraft. Ob das klug war, bezweifle ich. Was Ökonomen einfällt, um den Widerspruch zwischen offenen Grenzen und üppigem Sozialstaat aufzulösen – dazu mehr in einer der nächsten Folgen von »Hanks Welt«.
Rainer Hank