Hanks Welt
‹ alle Artikel anzeigen06. Oktober 2025
Weg mit dem WeltkulturerbeDas Gütesiegel stiftet mehr Schaden als Nutzen
Im Jahr 1519 schuf Lucas Cranach der Ältere einen aus drei Flügeln bestehenden Altar für den Naumburger Dom. Reformatorische Bilderstürmer zerstörten den Mittelflügel des Kunstwerks, so dass nur noch die Seitenflügel erhalten blieben. Erst in unseren Tagen (2020 bis 2022) ergänzte der Maler Michael Triegel – ein Künstler der sogenannten Neuen Leipziger Schule – den Mittelteil des Altars, und zwar im Stil des 16. Jahrhunderts, aber alles andere als epigonal.
Triegels Werk ist bei den Besuchern des Doms sehr beliebt: Nicht nur, weil der Künstler den Apostel Petrus mit Baseball-Cap zeigt, sondern weil er eine gelungene Ergänzung zu Cranach geschaffen habe. Ganz anders urteilte die UNESCO, die dem Dom 2018 den begehrten Titel des Weltkulturerbes verliehen hat, insbesondere für seine weltberühmte Stifterfigur, die heilige Uta von Naumburg. Es droht der Entzug des begehrten Titels, was eine Art lokale Katastrophe wäre. Nach langem Hin und Her gilt derzeit folgender Zwischenstand: Triegel kann bleiben, aber nur, wenn er vom Westchor in das Nordquerhaus abgeschoben wird. Denn so, wie er jetzt steht, verbaue er den Blick auf Uta; die »Sichtachse« sei wiederherzustellen.
Was erlaubt sich die UNESCO? Die Kundschaft ist zufrieden, die Kirchengemeinde als Eigentümer ist zufrieden, der Künstler und die meisten Kunstkritiker sind es auch. Aber die für Kultur zuständige Unterorganisation der UNO befiehlt räumliche Umzugsmaßnahmen. Als ob es sich um ein Gottesurteil handele. Denn mit Label-Entzugsdrohungen ist nicht zu spaßen. Das musste Dresden erfahren. Dort wurde der erst kurz zuvor verliehene Titel »Kulturlandschaft Dresdner Elbtal« im Jahr 2019 wieder aberkannt aufgrund des Baus der sogenannten Waldschlößchenbrücke, die laut den UNESCO-Kommissaren den Blick trübt. »Blickachsen« sind offenbar besonders im Blick der UNESCO-Kommissare. Dem Ort Herrnhut in der Oberlausitz, einem Erbe des deutschen Pietismus, könnten jetzt Windräder – besonders hässliche Sichtachsen – den Titel kosten.
Blickachsen schützen?
Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten; Windräder finde ich auch nicht hübsch, weil sie die Perspektive verrücken: Großes wird vor ihnen klein. Doch Geschmacksurteile rechtfertigen noch lange nicht autoritäre, undemokratische und den ästhetischen Fortschritt unterbindende (siehe Triegel) Urteile.
Warum lassen wir uns das gefallen? Klar, weil sich die Staaten dem Reglement der UNESCO freiwillig unterworfen haben. Und weil viele Bürgermeister, Landräte und ihre Lobbyorganisationen sich mit dem Titel schmücken und angeben können, was sie für den Schutz des kulturellen Erbes, die Ankurbelung des Tourismus und ihr eigenes Erbe in der Weltkulturgeschichte getan haben.
Aber wie sieht die materielle und immaterielle Kosten-Nutzen-Rechnung des Kulturerbe-Business aus?
Zu den Fakten. Auf der UNESCO-Generalkonferenz in Paris 1972 wurde die »Konvention zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt« beschlossen. Geschützt werden sollen »Meisterwerke der menschlichen Schöpfungskraft« und »außergewöhnliche Zeugnisse einer kulturellen Tradition«. Die erste Auszeichnung erhielten der Aachener Dom und die Altstadt von Krakau. Neben dem Weltkulturerbe gibt es auch das Weltnaturerbe. Das Erbe wächst und wächst: Inzwischen sind es 1248 Erbstätten in 170 Ländern. Deutschland steht mit 52 Auszeichnungen auf Platz drei gut da, nach Italien und China. Auch »immaterielles Erbe« wird geschätzt: In Deutschland zum Beispiel die Schützenvereine. Bis ein Titel verliehen wird, treten unzählige Kommissionen, Komitees und Fachbeiräte in Aktion. Kosten der Anerkennung und Eignungsprüfung (»Heritage Impact Assessment«) für eine mittelbedeutsame historische Altstadt werden auf eine halbe Million Euro geschätzt; eine grenzüberschreitende Kulturlandschaft durchzuboxen summiert sich auf mehrere Millionen.
Die Inflationierung des Erbes – demnächst sind die bayerischen Märchenschlösser Ludwigs II. dran – wundert nicht: Der Titel verspricht Touristen aus aller Welt, die mit ihrer Bucket-Liste die Erbstätten abgrasen und ihre Liebsten auf Insta mit denkmalgarnierten Selfies versorgen. Davon profitieren Hotels, Restaurants, Parkhäuser und Museen. Aber haben Neuschwanstein, Venedig, Dubrovnik oder Pompei den Titel überhaupt nötig? Oder trägt er nicht zusätzlich zum »Overtourism« bei? Dies scheint auch die UNESCO zu befürchten, wenn sie neuerdings als Bedingung für die Anerkennung eine »Besucherleitstrategie« von den Betreibern der Stätten verlangt.
Overtourism wird durch das Siegel gezüchtet
Ökonomisch gesprochen müsste man sagen: Das UNESCO-Label wirkt als Markenschutzrecht, bietet eine Monopolrente und muss deren selbst erzeugten Folgen planwirtschaftlich regulieren (»Besucherleitstrategie«). Die Monopolrenten wurden nicht mit eigener Leistung erworben, sondern verdanken sich der historischen Einmaligkeit. So gesehen käme auch noch eine ungerechte Ungleichbehandlung dazu: Nicht jede Stadt hat einen Kölner Dom, Castrop-Rauxel hat lediglich eine Stadthalle aus den siebziger Jahren.
Dem »objektiven« Urteil der Titelverleiher kann von den Aspiranten nachgeholfen werden. Bruno Frey, ein Schweizer Ökonom, hat 2013 in einer empirischen Studie nachgezählt und siehe da: Europa ist völlig überrepräsentiert. Wohlhabende Staaten haben Vorteile. Sogenanntes Rent-Seeking, finanzstarke Lobbyarbeit, um »ihre« Stätten durchzubringen, zahlt sich aus. Das ist nicht nur ungerecht im globalen Titelkampf, sondern auch unter der Perspektive der Opportunitätskosten: Das viele Geld könnte besser eingesetzt werden – zum Beispiel durch Aufträge an zeitgenössische Künstler oder um innovative Tourismuskonzepte zu erstellen.
Unterm Strich überwiegen für mich die Nachteile: Der Titel wirkt strukturkonservativ, verhindert oder erschwert ästhetischen, städtebaulichen oder wirtschaftlichen Fortschritt, verstärkt Overtourism, ignoriert paternalistisch-autoritär basisdemokratisch mehrheitliche Meinungsbildung, kostet aber viel Geld, das in der Regel das Geld der Steuerzahler ist, die man dafür nicht um ihre Zustimmung gefragt hat.
Aus meiner Sicht könnte man das ganze UNESCO-Welterbe-Business ersatzlos streichen. Das wäre ein schöner Beitrag zum Bürokratie-Abbau. Die arbeitslosen Komitees und Beraterfachausschüsse müssten sich nach einer sinnvollen Tätigkeit umsehen. Die Kommunalpolitiker wären freier, ihre Stadt nach sachlichen und nicht nach Blickachsen-Vorgaben weiterzuentwickeln. Das »kulturelle Erbe« nähme keinen Schaden. Oder vorsichtiger gesagt: Es nähme nicht weniger Schaden als es auch trotz des Titels da und dort der Fall ist. Wer es nicht glaubt, soll sich den Verfall des Mittelrheintals anschauen – Weltkulturerbe seit 2002 und seither in der Dauerkrise: Investitionen bleiben aus, Menschen wandern ab.
Rainer Hank